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Raconteur
«Guten Tag, meine Damen und Herren. Mein Name ist Joshua Strickland. Ich bin Teamleiter für die Entwicklung visueller Intelligenz hier im Stanford Vision Lab. Ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind.»
Strickland stand vorn im dunklen, fensterlosen Untergeschosshörsaal des Gates Computer Science Building. Neben ihm füllte das «Kameraauge»-Logo des Vision Lab eine große Leinwand. Im kühlen Beamer-Widerschein sah er bekannte und unbekannte Gesichter in dem überschaubaren Publikum, das hauptsächlich in den ersten beiden Reihen Platz genommen hatte. Er fokussierte den Blick auf die ernsten Mienen direkt vor ihm.
«Besonders herzlich begrüßen möchte ich unsere verehrten Gäste vom Transformational Convergence Technology Office. Und ich danke an dieser Stelle unserer wissenschaftlichen Betreuerin Dr. Lei Li, ohne deren Unterstützung wir diese Präsentation nicht hätten realisieren können.»
Zaghafter Applaus irgendwo im Dunklen.
Strickland hielt inne, um sich zu sammeln. So viel hing von den nächsten Minuten ab. Er holte Luft und begann: «Was Sie jetzt gleich sehen werden, ist eine Visuelle-Intelligenz-Technologie, die wir Raconteur nennen.» Ein Klick auf seiner Fernbedienung, und es erschien eine Animation von Dutzenden, dann Hunderten und schließlich Tausenden Video-Insets, ein gigantisches Gewimmel, ein riesiger Strom von Bilddaten. «Visuelle Intelligenz wird oft mit maschinellem Sehen verwechselt – ist aber sehr viel mehr. Visuelle Intelligenz bedeutet, Maschinen nicht nur zu befähigen, Objekte auf Bildern zu identifizieren – was schon seit Jahren möglich ist –, sondern sie auch mit den kognitiven Fähigkeiten auszustatten, zu erkennen, was in einer Szene vor sich geht. Konzepterkennung, integrierte Kognition, Interpolation, Prädiktion. Was geschehen sein könnte und was als Nächstes geschehen kann. Es bedeutet, Maschinen in die Lage zu versetzen, nicht nur zu sehen, sondern auch zu verstehen, was sie sehen.»
Er suchte die Gesichter vorn in der Mitte ab. «Wofür ist das wichtig?»
Er klickte auf der Fernbedienung, und es erschienen Überwachungsaufnahmen von Londoner U-Bahn-Bombern, wie sie durch U-Bahnhöfe gingen oder in Waggons standen. «In einer immer gefährlicher werdenden Welt ist Videoüberwachung das aussichtsreichste Mittel einer Gesellschaft, Bedrohungen bereits im Vorfeld zu erkennen. Doch diese Flut von Überwachungsaufnahmen bedeutet eine exponentielle Zunahme der Menge an Videomaterial, das analysiert werden muss – und zwar in Echtzeit analysiert, wenn es darum gehen soll, kriminelle Akte nicht nur hinterher nachzuverfolgen, sondern sie zu verhindern.»
Es erschien eine neue Folie von einem ausgebrannten Starbucks in einer belebten Straße. Dann ein Zeitungsfoto von einem ausgebrannten SUV mit der Schlagzeile SENATOR BEI TERRORANSCHLAG GETÖTET. «Wir brauchen ja nur an die jüngsten, nach wie vor unaufgeklärten Terroranschläge hier in den Vereinigten Staaten zu denken, um die lebenswichtige Bedeutung visueller Intelligenz für unsere Zukunft zu erkennen.»
Strickland ließ den Blick über seine Zuhörer wandern. Die Leute waren ganz Ohr.
«Wie statten wir Maschinen mit dieser Fähigkeit aus? Wir tun es, indem wir die Art und Weise nachahmen, wie Menschen raumzeitliche Vorgänge verarbeiten. Die visuelle Kognition des Menschen ist auf Veränderung ausgerichtet, und diese Veränderungen rufen das hervor, was wir ‹Aufmerksamkeitszustände› nennen. Wir erzielen Aufmerksamkeitszustände in Bezug auf Videomaterial mittels eines algorithmischen Mechanismus, der Faktoren wie Aufmerksamkeitsfokus, Markierung auffälliger Objekte und kritische Beziehungen zwischen solchen Objekten auf der Ebene von Bewegung und Kontakt beinhaltet. Diese sind notwendig, um einzelne Vorgänge voneinander zu unterscheiden. Eine Serie von Aufmerksamkeitszuständen wird zu einer visuellen Aufmerksamkeitsspur kombiniert, die man als VAT bezeichnet: gewissermaßen eine Narration mit einzelnen Episoden. Eine Geschichte, die sich programmatisch durch maschinenlesbaren Text darstellen lässt – Text, der wiederum algorithmisch auf Relevantes abgesucht werden kann. Dies geschieht in Echtzeit durch eine ‹Leserschaft› von anderen, simpleren Programmen. Deshalb nennen wir unser System Raconteur – weil es das, was passiert, so erzählt, dass gewöhnliche Systeme es verstehen können. Und wie jeder gute Erzähler behält Raconteur im Blick, wie sich die aktuelle Szene in die gesamte Geschichte einfügt.»
Strickland wusste, dass die Mischung aus Jugend und Selbstbewusstsein, die er verkörperte, in diesem Rahmen ein Vorteil war. So war das nun mal im Bereich disruptive Technologien. Mit zweiundzwanzig leitete er ein Team, das die Verarbeitung visueller Information revolutionieren würde. Auch wenn er nicht die treibende Kraft hinter den Innovationen war, hatte er ein besonderes Talent dafür, fähige Leute ausfindig zu machen und für seine Arbeitsgruppen zu rekrutieren. Und es hatte sich gezeigt, dass diese Gabe die wohl wichtigste Voraussetzung war, um in Silicon Valley Erfolg zu haben. Eine gute Idee zu erkennen und zu wissen, wer sie realisieren konnte. Hindernisse aus dem Weg zu räumen und andere zu inspirieren, das war der Hauptbestandteil von Innovation.
«Wir haben mit den Technikern der DARPA zusammen die folgende Demonstration erstellt, unter strenger Beachtung der Leitlinien des Mind’s Eye Project. Bitte denken Sie daran, dass unser System dem Bildmaterial, das Sie – und es – jetzt sehen werden, nie zuvor ausgesetzt war. Nach dem Test nehmen wir Ihre Fragen gern entgegen. Doch zunächst präsentiere ich Ihnen Raconteur, den Geschichtenerzähler …»
Wieder mäßiger Applaus, während die Leinwand dunkel wurde.
Strickland trat beiseite, als davor zwei kleinere Projektionsflächen aufleuchteten. Eine zeigte den Titel «TCTO Phase 1 – Erkennungstest», die andere einen blinkenden Cursor.
Strickland ging auf die Seite des Raums und stellte sich, Rückhalt suchend, zu seinem Projektteam. Angespannt sah er seinen Chefentwickler Vijay Prakash an, aber der gutaussehende, mürrische Bengale ignorierte Stricklands gewölbte Augenbrauen und blickte stur auf die Projektionsfläche. Die übrigen Mitglieder der Doktoranden-Crew – Sourav Chatterjee, Gerhard Koepple, Wang Bao-Rong und Nikolay Kasheyev – bekundeten durch ein Nicken, dass sie sich der Bedeutung des Augenblicks bewusst waren. Dann wandten auch sie sich der Leinwand zu.
Jetzt zeigte auch die rechte Projektionsfläche die Worte «TCTO Phase 1 – Erkennungstest». Die Doppelprojektion war so aufgebaut, dass alles, was auf der linken Bildfläche erschien, von Raconteur gedeutet und auf der rechten in Worten beschrieben werden sollte.
Auf seinem Stehplatz im Dunkeln atmete Strickland erleichtert auf. Ein Versagen schon bei der simplen Texterkennung auf der Titelkarte wäre tödlich gewesen. Allerdings wurde die optische Zeichenerkennung von einer lizenzierten Library durchgeführt, nicht von ihrem Programm. Dennoch, die DARPA-Verantwortlichen würden es ihnen nicht nachsehen, wenn sie eine schlechte Library gewählt hätten.
Aber der Test ging bereits weiter. Keine Zeit, über Katastrophenszenarien nachzugrübeln. Auf der linken Projektionsfläche erschien ein schwarz-weißes Überwachungsvideo. Es zeigte eine Frau, die mit einem Aktenkarton einen Büroflur entlangging.
Strickland verfiel wieder in Anspannung. Er hatte die VI-Algorithmen hunderttausend Mal arbeiten sehen und wusste ziemlich genau, wie sie funktionierten, aber sie waren noch nie vor einem so wichtigen Publikum gelaufen. Was jetzt gleich passierte, würde über die nächsten Jahre seines Lebens – des Lebens aller Teammitglieder – und sehr wahrscheinlich über seine weitere Karriere entscheiden. Er fixierte den Cursor auf der rechten Projektionsfläche – dem Raconteur-Ausgabescreen.
Als das Video weiterlief, erschienen auf der rechten Projektionsfläche Buchstaben …
Person trägt Objekt durch Gang.
Anerkennendes Gemurmel lief durch den Raum, aber Strickland entspannte sich immer noch nicht. Komm schon. Mach’s. Mach schon, Baby …
Der Cursor begann jetzt, Elemente genauer zu benennen.
Frau trägt Schachtel durch Gang.
Erneutes Gemurmel und etwas Applaus. Strickland sah zu den DARPA-Managern hin, die nickten und leise miteinander redeten. Notizen machten. Eine Woge der Erleichterung erfasste ihn. Er hatte gar nicht gemerkt, wie verkrampft er gewesen war, aber jetzt, wo die ersten Eindrücke positiv ausfielen, würden die Gutachter gnädiger sein, wenn später noch etwas schiefging. Was auch immer von jetzt an passieren würde, ein Meltdown war es jedenfalls nicht. Sie hatten sich als ernstzunehmend qualifiziert.
Auf der linken Projektionsfläche kamen jetzt Außenüberwachungsaufnahmen: Ein amerikanischer Soldat stand mit umgehängter MP auf einer vermüllten Slumstraße irgendwo in Nahost und gestikulierte zu unsichtbaren Personen hin. Ein kleines Kind – möglicherweise ein irakisches – kam hinter ihm ins Bild. Wieder überfiel Strickland Angst, als der Text weiterrollte …
Bewaffnete Person … erfährt Annäherung durch Kind.
Wieder Applaus und sogar ein paar erregte Ausrufe.
Strickland fühlte, wie sich ein Lächeln über sein Gesicht breitete, unterdrückte es aber sofort. Zu früh zum Feiern.
Uniformierter Soldat erfährt Annäherung durch Kind auf Straße.
Erneut Laute der Begeisterung. So weit, so gut, aber Strickland wusste, das Schwierigkeitslevel würde immer weiter steigen. Prompt hielt das System einen weiteren Soldaten, der ins Bild kam, irrtümlich für eine mögliche Gefahr – #ALARM – bewaffnete Person. Was ja aber so weit daneben auch nicht war.
Die linke Projektionsfläche wurde dunkel und zeigte dann den Titel «TCTO Phase 1 – Interpolationstest.»
Schon ging es richtig los! Die Komplexität der visuellen Konzepte steigerte sich schnell. Deshalb fokussierte sich ihr System ja darauf, beim Interpretieren einer Szene zuerst den Kontext abzuleiten, und deshalb vergaß es auch nie, was es vorher gesehen hatte. Das war essenziell, um einen Haufen unnötiger Verarbeitungsprozesse zu vermeiden. Wenn Menschen beispielsweise einen Bürgersteig in städtischer Umgebung entlanggingen, war nicht damit zu rechnen, dass sie plötzlich eine Bergwelt oder wogendes Meer um sich hatten. Das konnte nicht sein – wenn also doch etwas Derartiges auftauchte, war es sehr wahrscheinlich eine graphische Repräsentation wie etwa ein Werbeplakat und nicht die Sache selbst. Die Daisy-Chain-Verkettung der Ereignisse ermöglichte es, das Bekannte als Basislager für die Erkundung des Unbekannten zu nutzen – jedes Mal ein Stückchen weiter zu gehen, wie Ameisen bei der Terrainerkundung.
Strickland wusste wohl, dass selbst ein geistig Behinderter im Vergleich zu spezialisierten Algorithmen ein Allround-Genie war. Dinge auf die simpelsten Elemente herunterzubrechen war die einzige Möglichkeit, etwas Brauchbares zu erzielen. Prakash hatte die Programmarchitektur entwickelt, und das Design war zu viel für Stricklands Gehirn. Aber wenn das verdammte Ding funktionierte, würde er dem Mann alle Arroganz verzeihen.
Auf der linken Projektionsfläche erschien jetzt in einer neuen Szene eine Frau in einer Burka – Burka! Das, was die US-Truppen ein «BMO» nannten, ein «Black Moving Object». Diese DARPA-Sauhunde. Kein Gesicht, Arme und Körper nicht klar erkennbar. Auf dem Bildschirm sah die Frau aus wie ein wandelnder Sack. Aber wenn ihn nicht alles täuschte, war Vijays und Gerhards Gangerkennungscode theoretisch in der Lage, gehenden Objekten das Attribut «menschlich» zuzuordnen und damit auch implizite Geometrie, potenzielle Aktionen und Bewegungsmuster. Die Frau in der Burka ging eine schmale Dorfstraße entlang und trug auf dem Kopf etwas, das aussah wie ein Plastik-Wasserkrug.
Alle im Raum warteten mit angehaltenem Atem. Dann rollte der Text weiter.
Person trägt Objekt Straße entlang.
Okay, so weit, so gut.
Die Frau betrat durch eine Tür zur Linken ein Haus, und das System beschrieb ihr Verschwinden korrekt. Dann war einen Moment alles ruhig, bis sie ohne den Krug auf dem Kopf wieder herauskam. Das war der eigentliche Test. Kognition.
#ALARM – GEGENSTAND – ZURÜCKGELASSEN: Gesichtet: Person trägt Gegenstand in Gebäude und kommt ohne Gegenstand wieder heraus.
Strickland fühlte das Gewicht des Moments, während lauter Applaus aufbrandete. Sie hatten gerade den Bombenattentäter-Test bestanden. Jahre der Arbeit zogen im Schnelldurchlauf an ihm vorbei. Er spürte, wie ihm seine Teamkollegen auf die Schultern klopften, drehte sich um und sah im Halbdunkel ihre lachenden Gesichter. Er drückte Hände, legte sogar kurz den Arm um Prakash. Sie waren nie besonders gut miteinander ausgekommen – hatten immer darum gerangelt, wer das Sagen hatte. Aber das hier, dieser Moment, war das, wofür sie gearbeitet hatten. Selbst der ewig ernste Prakash zeigte den Anflug eines Lächelns.
Strickland musste zugeben: Der Typ verstand sein Handwerk. «Toll gemacht, Vijay.»
Prakash nickte. «Ist schon mal ein Anfang.»
Arschloch. Konnte er denn gar nichts genießen?
Stimmen forderten Ruhe, weil der Test weiterging, aber Strickland verspürte ein warmes Kribbeln am ganzen Körper. Sie würden ihren Forschungszuschuss bekommen. Da war er sich jetzt ganz sicher. Die erregten Diskussionen zwischen den Gutachtern sagten ihm, dass sein Team alles Bisherige übertroffen hatte. Das war der Beginn seiner beruflichen Karriere, und diesen Moment würde er nie vergessen. Wenn er das Sandra erzählte!
Aber dann fiel ihm wieder ein, dass sie ja nicht mehr zusammen waren.
Strickland ließ den Korken einer Sektflasche knallen und den Schaum spritzen, während seine Teamkollegen in Jubelgeschrei ausbrachen. Jetzt, wo sie wieder im KSL-Laborcluster im zweiten Stock waren, konnten sie ihrer Feierlaune freien Lauf lassen. Das Labor war ein offener Arbeitsbereich mit diversen HD-Digitalvideokameras in Halterungen und auf Stativen und einer Ecke mit Rackservern, deren LEDs im Rhythmus der Musik vor sich hin zu flackern schienen. LCD-Monitore auf Tischen und an Deckenhaltern zeigten «Raconteur»-generierten Text über die Festivitäten … größtenteils nicht allzu weit daneben – aber jetzt würden sie ja einen Bundeszuschuss bekommen, um das System zu perfektionieren!
Was sie schon die ganze Zeit für bahnbrechende Arbeit gehalten hatten, war jetzt als solche anerkannt worden. Der Wagniskapitalzweig eines US-Geheimdienstes hatte sich unter Vorbehalt bereit erklärt, ihr Forschungsprojekt zu finanzieren, und damit ergaben sich definitiv Top-Level-Kontakte zu anderen Investoren. Sein Team war nun die Speerspitze auf dem Gebiet der visuellen Intelligenz. Das war das Ergebnis trotz all ihrer Spannungen und Meinungsverschiedenheiten, und jetzt prostete und jubelte die ganze Crew – Chatterjee, Koepple, Prakash, Wang, Kasheyev, ein wahrhaft internationales Team. Und dann waren da noch die anderen Teams im Cluster und deren wissenschaftliche Betreuer. Nebst Ehe- und Beziehungspartnern natürlich – es war eine ausgewachsene Party. Strickland wünschte, er hätte auch jemanden, mit dem er diesen Moment teilen könnte. Aber das würde sich schon ergeben, zumal er nun wirklich auf der Erfolgsspur war. In ein paar Jahren würde er hoffentlich Partner in irgendeiner Wagniskapitalgesellschaft an der Sand Hill Road sein. Der erste Schritt war getan.
Strickland stieg auf einen Bürostuhl, den jemand für ihn festhielt, und Lei Li, ihre wissenschaftliche Betreuerin, bat um Ruhe, da jetzt alle lautstark eine Rede forderten.
Gleich darauf wurde die Musik heruntergedreht, und in der jähen Stille erhob Strickland seinen von Sekt überschwappenden Plastikbecher. «Leute, ich möchte euch sagen, was es mir für eine Ehre war, mit diesem Team zu arbeiten. Ich weiß wohl, dass sich diese brillante Leistung nicht mir verdankt, sondern euch allen» – er zeigte mit dem Finger – «Sourav, Gerhard, Bao, Nik und natürlich dem unnachahmliche Vijay.» Jeder Name wurde mit Applaus und Hochrufen quittiert.
Prakash stand an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete Strickland fast schon verächtlich. Prakash trug seine üblichen Khakihosen mit blauem Oxfordhemd. Sein Haar war wie immer kurz geschnitten und perfekt gekämmt. Attraktivität Marke Bollywood.
Was war nur mit dem Kerl los? Warum konnte er sich nicht ein Mal locker machen? Strickland versuchte, ihn zu ignorieren. «Ich finde es passend, dass in dem Gebäude, in dem Google geboren wurde – und damit die Internetsuche – auch die visuelle Intelligenz aus der Taufe gehoben wird und damit die Möglichkeit, die Realität in Echtzeit zu durchsuchen. Ihr Jungs werdet Geschichte schreiben, und ich bin einfach nur froh, dass ich mit dabei sein kann.»
Erneuter Jubel. Becher wurden geleert. Die Musik wurde wieder aufgedreht, die Leute überbrüllten sie mit ihren Gesprächen, und Teammitglieder alberten vor den Videokameras herum.
Strickland bemerkte, dass Prakash ihn immer noch mit diesem Dolchblick durchbohrte, also arbeitete er sich zu ihm durch. «Vijay, was ist, Mann? Du siehst aus, als ob Kolkata gerade das Cricketfinale verloren hätte.»
Prakash musterte ihn. «Als eins der ‹brillanten› Teammitglieder habe ich was dagegen, dass du die Gespräche mit der DARPA an dich reißt. Wir treffen Entscheidungen als Team, Josh. Du bist nur deshalb nominell ‹Teamleiter›, weil du gut mit Anzugtypen kannst und weil du mir auf diese Weise aus dem Weg bist.»
«Ich habe nur einen provisorischen Termin fürs nächste Treffen gemacht. Wir bestätigen ihn dann später noch per Mail.»
«Wir müssen in alle Entscheidungen einbezogen werden – und seien sie noch so geringfügig.»
«Wir haben kein Schwarmbewusstsein, Vijay. Gelegentlich müssen kleine Entscheidungen einfach getroffen werden, und ich sehe keinen Sinn drin, dich mit so was zu be–»
Prakash baute sich vor ihm auf und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. «Das ist nicht das erste Mal, dass ich dich dran erinnern muss. Ich arbeite nicht für dich, Josh, und ich erwarte, dass du die Interessen des Teams vertrittst und nicht nur deine eigenen.»
«Hey, hey! Jetzt mal langsam! Wir waren uns alle von Anfang an einig, dass es das Beste ist, wenn ich, der ich nun mal eher der extrovertierte Typ bin, das Reden übernehme, vor allem gegenüber den Leuten vom Verteidigungsministerium. Und das habe ich gemacht.» Er zeigte auf den Stuhl, auf dem er gestanden hatte. «Habe ich nicht gerade eben ausdrücklich das Verdienst allen zugesprochen?»
«Mit gutem Grund. Wenn wir das nächste Mal mit der US-Regierung kommunizieren, erwarte ich, dass ich eine Kopie kriege, Josh.»
Er studierte Prakashs Gesicht. Wusste er’s? Es hatte in der Tat noch den einen oder anderen E-Mail-Wechsel gegeben, er hatte einfach nur vergessen, die anderen einzubeziehen. «Hör mal, ich weiß nicht, was du mir unterstellst, aber falls du’s noch nicht gemerkt hast, du bist bei diesem Projekt der entscheidende Mann. Ich kann dich nicht bescheißen, ohne mich selbst zu bescheißen. Du stehst auf den Patentanträgen.»
Strickland fragte sich, ob es an Prakashs extrem auf Konkurrenz und Durchsetzungsfähigkeit gerichteter Erziehung lag. Er wusste, Prakashs Vater war ein klassischer Typ-A-Geschäftsmann, ein harter Hund, der seine Söhne praktisch mit der Reitgerte vorwärtstrieb. Alte Schule. Und äußerst klassenbewusst.
War es das? Strickland dachte manchmal, dass ihn Prakash vielleicht deshalb verachtete, weil er ein ganz normales Mittelschichtskind war – Sohn eines Lehrerehepaars. Er hatte Fotos vom Sommerhaus der Prakashs in Südfrankreich gesehen. Und Fotos von Vijay im Polo-Outfit, ein Pony am Zügel – als ob er mit der britischen Königsfamilie befreundet wäre oder so etwas. Er vergaß leicht, dass ihn dieser Typ vielleicht einfach als jemanden aus der Dienstbotenkaste betrachtete.
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr ärgerte es ihn. Er prostete Prakash noch einmal mit seinem Plastikbecher zu, zwinkerte ihn an und sagte, den Zeigefinger pistolenartig auf ihn richtend wie ein schmieriger PR-Typ: «Ich bin dein Fan! Eh? Ich bin dein Fan, Mann!»
Jemand trat von hinten an Prakash heran und verstrubbelte ihm lachend das Haar. Strickland nutzte die Gelegenheit, um sich abzuwenden; er wollte nach draußen, Luft schnappen. Unterwegs machte er freundlich Konversation, und als er endlich die Tür erreicht hatte, sah er Licht in einem der winzigen, fensterlosen Büros, die das Laborcluster umgaben. Dort am Schreibtisch saß die kindliche Gestalt Nikolay Kasheyevs, ihres Experten für visuelle Verarbeitung.
Kasheyev hatte irgendein Hypophysenleiden, das ihm das Aussehen eines Zwölfjährigen gab, obwohl er schon Mitte zwanzig war. Er wurde oft für ein Wunderkind gehalten, und wenn Leute diesen Fauxpas begingen, zuckte Strickland immer zusammen. Aber der Russe schien daran gewöhnt.
Er sah, dass Kasheyev gemultiplexte Videostreams betrachtete, die als Kacheln auf seinem Bildschirm angezeigt waren. Strickland pochte mit den Fingerknöcheln an den Türrahmen. «Hey, Nik, warum bist du nicht auf der Party, Mann?»
Kasheyev sagte, ohne den Kopf zu drehen: «Die Raben sind wieder da.»
«Welche Raben?»
Jetzt bequemte sich Kasheyev doch herzuschauen. «Du hörst mir nie zu, was?»
Strickland war zu sehr mit der Frage beschäftigt, was Kasheyevs Brille gekostet haben mochte. Offenbar kam im Team nur er, Strickland, aus tatsächlich bescheidenen Verhältnissen. Alle anderen schienen reiche Eltern zu haben. Niemand außer ihm hatte während des Undergraduate-Studiums arbeiten müssen. Jedenfalls nicht in Handlangerjobs. Kasheyev schien gar nicht realisiert zu haben, dass sie heute den Grundstein dafür gelegt hatten, Millionäre zu werden. Als ob das für ihn gar nicht ins Gewicht fiele.
«Josh.»
«Oh. Doch, klar höre ich dir zu. Ich behalte nur nicht, was du sagst.»
Kasheyev zeigte auf eine Reihe von sechs Videokacheln auf seinem Bildschirm – Überwachungskamerabilder, die, wie Strickland wusste, rund um die Uhr von Raconteur-Algorithmen «im Auge behalten» wurden. Das System lief jetzt in immer wieder verbesserten Versionen schon fast zwei Jahre mehr oder weniger kontinuierlich und beobachtete den öffentlichen Raum rings um das Gates-Gebäude. Das Kommen und Gehen von Studenten, Autos, allem. Das war etwas, was die Stärke des Systems ausmachte: persistente Überwachung. Beobachtung im Zeitverlauf. Bei der es Muster bemerkte und Abweichungen von diesen Mustern. Immer wieder aus dem Gesehenen Bedeutung deduzierte, die symbolischen Repräsentationen speicherte und Alarmmeldungen sandte, sobald es Anomalien feststellte – in diesem Fall an Kasheyevs iPhone. Man konnte auch bestimmte Alarmsituationen vorgeben, und im Moment fixierte sich Kasheyev offenbar auf diese Vögel. Das war noch die geringste seiner Marotten.
Kasheyev tippte auf eins der Bilder, wo auf einem Ast ein wie ein Rabe aussehender Vogel saß und zu ihren Büros herüberblickte. Das Video lief offenbar, denn Strickland sah die Blätter des Baums im leichten Wind zittern.
Strickland beugte sich an den Bildschirm und studierte dann das Raconteur-Log mit dem markierten Eintrag: Rabe sitzt in Baum.
«Okay, Raconteur hat eine Vogelart erkannt. Wir sind spitze.»
«Das kommt daher, dass es getaggte Webbilder nach Übereinstimmungen durchsucht hat – aber um die Objekterkennung geht’s mir nicht. Es geht darum, dass in diesen Bäumen nie Raben waren. Und jetzt, schau, da ist noch einer, zur Südseite hin, beim Packard Building …» Er klickte auf dem Bildschirm herum, und es erschien ein größeres Bild von einem weiteren Raben, der auf der Brüstung des modernen Elektrotechnikgebäudes jenseits der Straße saß. Kasheyev scrollte in der Zeit zurück, und zwischen den Sonnenauf- und -untergängen sah Strickland immer wieder die beiden einzelnen Raben – bis sie irgendwann nicht mehr auftauchten. «Es hat vor einer Woche angefangen. Und seither sind sie jeden Tag da.»
Strickland dachte, dass das eins der Probleme war, die man sich einhandelte, wenn man mit genialen Leuten zusammenarbeitete: Sie waren halbverrückt. Sich auf Details zu fixieren oder Zusammenhänge zu wittern, wo keine waren – diese Macken hatten etliche. Er tätschelte Kasheyevs Schulter. «Es gibt so was wie Zugvögel, Nik.»
Kasheyev sah ihn an, als wäre Strickland schwachsinnig. «Raben sind keine Zugvögel. Ausgewachsene Vögel wie die da haben ein Revier von Meilen. Sie bleiben nicht an einem Ort, es sei denn, es ist ein Brutpaar mit einem Nest. Aber ich sehe kein Nest.»
«Faszinierend. Diese Vögel sind ja viel interessanter als unsere neuen Forschungsmittel. Ich würde sagen, wir schmeißen alles hin und –»
«Schau her …» Kasheyev zoomte auf den Raben im Baum ein, dann auf eins seiner Beine. Daran war irgendein elektronisches Tag oder ein Sender befestigt.
Strickland sagte achselzuckend: «Okay, jemand forscht an Raben. Wir sind hier an einer Universität.»
«Das dachte ich zuerst auch. Raben sind sehr intelligent.»
«Vielleicht haben sie ja ein Stanford-Stipendium.»
«Hier forscht niemand über Raben, ich hab’s überprüft.»
«Himmel, ich dachte, wir arbeiten hier an VI-Software und betätigen uns nicht als Rabenstalker.»
«Schau dir das Tag an seinem Bein mal genauer an …» Er zoomte auf das High-Definition-Digitalbild ein. Dann teilte er den Bildschirm und zeigte eine Großaufnahme des zweiten Raben auf der anderen Seite des Gebäudes.
Beide hatten das gleiche quaderförmige Ding am Bein.
Strickland seufzte und war froh, als Wang Bao-Rong, ihr taiwanesischer Narrow-AI-Experte, draußen auf dem Flur erschien und ihnen signalisierte, dass sie mitkommen sollten.
«Was gibt’s?»
Wang warf ein Quietschspielzeug in Form eines Gehirns in die Luft. «Konferenztelefonat mit dem Anwaltsbüro.»
«Oh!» Strickland zog Kasheyev vom Stuhl hoch. «Komm, Nik! Die Vögel können warten, Mann.»
Graduiertenteams von Stanford hatten Unternehmen wie Hewlett-Packard, Cisco, Yahoo! und natürlich Google gegründet. Und die fünf Patentanträge, die Stricklands Team für Raconteur eingereicht hatte, waren potenziell Milliarden wert – zumal jetzt, wo die Regierung ihre Arbeit finanzieren würde. Was jetzt gleich kam, war die Krönung dieser ganzen Jahre.
Das Team quetschte sich in einen Besprechungsraum, wo Prakash bereits, die Arme in die Hüften gestemmt, vor einem Freisprechtelefon stand. Strickland trat als Letzter ein und machte die Tür hinter sich zu.
Prakash blaffte ins Telefon: «Okay, John. Das Team ist vollzählig.» Prakash sah sie an. «Leute, da ist John Wolstein von Hartmann, Blithe und Peale.»
Eine Stimme kam über Lautsprecher: «Hallo.»
Alle sagten hallo.
Strickland ergriff das Wort. «Schießen Sie los mit der guten Nachricht, John.»
Kurze Stille. Dann: «Tja, das würde ich ja gern, aber es gibt da leider ein Problem.»
Hitze lief über Stricklands Haut. Ein Adrenalinstoß. Die Urheberschaft, damit stand und fiel alles. Sie hatten schon eine Patentrecherche durchgeführt. Der Weg war frei. Prakashs Ansatz war völlig neuartig, niemand hatte ihn je gewählt.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte Prakash aufs Telefon. «Was heißt ‹Problem›? Was für ein Problem?»
Strickland wusste, in so was war Prakash gut. Er würde diesem Anwalt zur Schnecke machen.
«Es gibt da ein Problem mit dem Stand der Technik, Vijay. Große Teile Ihrer Quellcodebasis sind bereits Allgemeingut – im Internet zugänglich.»
Es wurde totenstill im Raum. Zu hören war nur das Statikknistern des Telefons.
«Sind Sie noch da?»
«Wovon reden Sie? Das kann nicht sein. Wo im Internet?»
«In mehreren Foren. Eine Codesuche ergab ein halbes Dutzend Websites, wo Teile Ihres Codes in genau derselben Form stehen. Selbst die Kommentare sind teilweise drin. Ich weiß nicht, wie das dorthin gekommen ist oder –»
«Verdammt!», brach es aus Prakash heraus, während er finster in die Runde starrte.
«Vijay, ich sage Ihnen nur, wie die Fakten liegen.»
«Ich habe diesen Code von Anfang bis Ende selbst entwickelt. Ohne irgendeine anderweitige ‹Inspiration›. Es ist meiner.»
Unter anderen Umständen hätte Strickland vielleicht darauf beharrt, dass sein Beitrag nicht gänzlich ungewürdigt blieb, aber im Moment fühlte er sich, als hätte man ihm eins mit dem Elektroschocker verpasst. Er starrte einfach nur auf das Telefon, hörte sein Herz in seinen Ohren hämmern. Hörte seine Zukunft zerplatzen. Er sah Prakashs braunes Gesicht rot werden, sah Adern auf seinen Schläfen hervortreten – als ob der Mann jeden Moment explodieren würde.
Gerhard Koepple, sonst immer die Ruhe selbst, war aschfahl geworden. Wang, Kasheyev und Chatterjee setzten sich hin und fuhren sich mit den Fingern durchs Haar, als hätten sie gerade vom Tod eines nahen Angehörigen erfahren.
Strickland krächzte: «Wo? Wo im Internet, John?»
«Ich schicke Ihnen gerade einen Link …»
Prakash fuhr dazwischen: «Sie schicken ihn uns allen. Nicht nur Josh. Verstanden?»
«Ja, klar, wenn Sie möchten, Vijay. Hören Sie, mich anzuschreien bringt auch nichts.»
«Schicken Sie einfach den verdammten Link.»
«Okay.» Pause. «Ist unterwegs.»
Strickland mischte sich wieder ein. «John, was heißt das für uns? Was passiert jetzt?»
Kurzes Schweigen. «Nichts passiert. Ich werde Dr. Lei einen Bericht vorlegen, dass die Patente nicht durchsetzbar sind. Und ich gehe davon aus, dass das Patentamt zum selben Schluss kommen wird. Ich weiß nicht, ob und, wenn ja, wie sich das auf Ihre Doktorarbeit auswirken wird, aber so ist nun mal die Situation. Mein Beileid. Wie auch immer es dazu gekommen ist, und ich sage nicht, dass Sie irgendwo abgeschrieben haben, aber Fakt ist, dass dieser Code jetzt Allgemeingut ist. Sie werden ihn nicht patentieren lassen können, solange dieses Stand-der-Technik-Problem nicht gelöst ist.»
Prakash ergriff das Telefon, riss es aus seiner Konsole und feuerte es ans Fenster. Die Scheibe vibrierte unter dem dumpfen Schlag, und das Telefon zersprang in Einzelteile.
«Hey, Vijay, Mann! Komm runter! Ich wollte ihn noch mehr fragen.»
Prakash ignorierte Strickland; er stürmte aus dem Besprechungsraum in das benachbarte Büro, das er mit Wang teilte.
Strickland lief ihm hinterher, dicht gefolgt vom Rest des Teams. «Vijay.» Er fühlte sein iPhone in seiner Tasche vibrieren, was wohl hieß, dass er eine E-Mail bekommen hatte. Aber zuerst wollte er sich um Vijay kümmern.
Prakash loggte sich in seinen Computer ein und öffnete seinen Mailaccount. Er doppelklickte auf die oberste Mail, während sich die anderen um ihn drängten. Da war ein Schrieb von ihrem Anwalt, mit mehreren Links unter den Worten «Stand der Technik». Der erste war, der «.ru»-Domain nach, zu einer Website irgendwo in Russland.
Chatterjee beugte sich vor und hielt die Hand zwischen Prakash und den Bildschirm. «Nicht direkt! Mit einer VM, Mann.»
Prakash wirkte kurz, als wollte er Chatterjee den Kopf abbeißen, atmete dann aber durch, nickte und kopierte die erste URL in die Zwischenablage. «Das ist nur eine Xenon-Verbindung, Sourav! Und auf dem Computer ist nichts Heikles.» Aber er startete trotzdem eine virtuelle Maschine, öffnete einen Browser und fügte die Adresse in die URL-Zeile ein.
Alle sahen mit angehaltenem Atem zu, wie auf dem Bildschirm eine Offshore-Warez-Seite namens Sourcebomber.ru erschien. Da stand, einen ganzen Teil der Seite einnehmend, der Quellcode für ihre Aufmerksamkeitszustand-Klasse. Selbst Strickland, der nicht so viel zu dem Code beigetragen hatte wie das übrige Team, erkannte sofort Prakashs Werk – oder jedenfalls das, was sie immer dafür gehalten hatten. In Stricklands Hinterkopf tauchte jetzt die Frage auf, ob der Reiche-Leute-Sohn aus Bengalen wirklich der hochbegabte Softwarearchitekt war, als den ihn alle sahen – aber das war natürlich Quatsch. Prakash war in Stanford angenommen worden! Er hatte im Undergraduate-Studium in allen Informatikkursen geglänzt. Echte Genies hatten eng mit Prakash zusammengearbeitet und waren immer beeindruckt gewesen.
Strickland konnte sich kaum konzentrieren, als Prakashs zittrige Hand die Seite hinunterscrollte und Funktion um Funktion, Klasse um Klasse ihres kostbaren Quellcodes in diesem öffentlichen Forum erschien. Es war, wie die Liebe seines Lebens in einem Gang-Bang-Porno zu entdecken.
Und da brannte Prakash endgültig die Sicherung durch. Er packte den Flat-Panel-Monitor und riss ihn vom Schreibtisch hoch. Das Team stob auseinander, als er mit dem Monitor auf die Wand einzudreschen begann. Plastik und Glas flogen. Prakash brüllte jetzt wie ein Tier.
Ihre wissenschaftliche Betreuerin, die elfenhafte Dr. Lei, kam herein und schrie Prakash an. Jetzt erst ging Strickland auf, dass niemand auf die Idee gekommen war, sie ins Besprechungszimmer zu rufen. Auch für Dr. Lei stand hier einiges auf dem Spiel. Aber sie hatten ja gedacht, es würde einfach nur ein Routinetelefonat.
Sie schrie: «Vijay! Beruhigen Sie sich! Was ist los?»
«Der verdammte Quellcode steht im Internet! Raconteur ist jetzt Scheißfreeware! Es ist unpatentierbar! Daran ist jemand aus dem Team hier schuld!»
Die anderen Teammitglieder zeigten Frühstadien der Trauer. Prakash nicht, er hatte sie allesamt übersprungen und war direkt bei der Wut gelandet.
Kasheyev starrte blind auf Prakashs leeren Schreibtisch. «Oder jemand hat es uns gestohlen.»
Prakash fixierte den jungenhaften Russen. «Gestohlen? Glaubst du, wenn hier Idioten wie Wang und Strickland rumlaufen, bräuchte uns jemand den Code zu stehlen?»
Strickland hatte bei der Sache mehr zu verlieren als irgendjemand sonst. Was erlaubte sich Prakash eigentlich? «Jetzt aber mal langsam –»
Prakash baute sich vor Kasheyev auf. «Wie soll ihn denn jemand gestohlen haben? Unsere Server sind nicht mal im SUNet. Es sind keine Drahtlosgeräte dran. Ich kontrolliere seit Monaten die Protokolldateien der Merakis auf bösartige Verbindungen oder Transfers.»
Dr. Lei fragte stirnrunzelnd: «Wie können Sie das? Sie haben doch keine Admin–»
Er ignorierte sie. «Und alles, was von unserem Code auch nur in die Nähe einer Netzwerkverbindung kommt, ist bereits verschleiert und kompiliert. Außer dem Code, den meine lieben ‹Teamgefährten› in ihrem Besitz haben.» Er zeigte dorthin, wo der Monitor gestanden hatte. «Du hast den Code doch gesehen. Es war unser unkompilierter Quellcode – und eine ziemlich neue Version noch dazu. Mit Kommentaren und allem!»
Strickland wurde ganz flau. Er hatte tatsächlich eine ziemlich aktuelle Version des Quellcodes auf dem Leland-Netzwerk, dem Cluster im Untergeschoss. Aber das hatten die anderen doch auch. Oder? Trauten sie dem Kabelnetzwerk wirklich nicht? Und zu diesem Share hatte doch nur ihr Team Zugang. Plötzlich merkte Strickland, dass Prakash sein Gesicht studierte.
Und was er da las, hatte ihn offenbar zu einem Schluss gebracht. «Du Arschloch!»
Strickland fühlte einen heißen Druck im Gesicht, während die Welt sich wild drehte. Erst nach einem Weilchen begriff er, dass er auf dem Boden lag. Seine Lippen und sein Hinterkopf schmerzten. Koepple und Wang versuchten, ihn hochzuhieven. Prakash war nirgends zu sehen, Chatterjee und Dr. Lei auch nicht.
Kasheyev beugte sich in Stricklands Blickfeld und hielt ihm ein mit Eis gefülltes, nach Sekt riechendes Papierhandtuch aufs Gesicht. «Geht’s, Josh?»
Seine Lippen taten höllisch weh. Ein Zahn fühlte sich locker an. Strickland blickte an sich hinunter: Sein Hemd war vorn voll Blut. «Was zum Teufel …»
Wang schüttelte den Kopf. «Vijay ist endgültig durchgeknallt.»
Koepple war immer noch bleich – nicht der unerschütterliche Koepple, den er kannte. Vielleicht kapierte ja selbst er, wie heillos angeschissen sie jetzt waren.
Strickland fühlte, wie ihm die Tränen kamen. Er war doch nicht so ein Weichei? Aber er konnte nicht dagegen an. Das hier war sein Ticket zum Erfolg gewesen. Die anderen Jungs hatten echtes IT-Talent. Strickland war clever, aber technisch nicht so gut wie sie. Er brauchte solche Leute, um seine Talente zum Tragen zu bringen – soziale Kompetenz und Managementfähigkeiten. Wenn seine Doktorarbeit wegen Plagiats abgelehnt würde … Großer Gott.
Strickland sah die anderen an. «Warum hat Vijay mir eine reingehauen?»
Koepple zuckte die Achseln. «Gute Frage, Josh. Gibt’s da einen Grund?»
«Ach, fang du nicht auch noch an.»
Kasheyev hob die Hand, um sie beide zum Schweigen zu bringen, und sagte dann zu Strickland: «Ich glaube nicht, dass du es warst, Josh. Ich finde, wir sollten von den Fakten ausgehen. Das hier ist ein VI-System. Ich habe überall in diesen Räumen Kameras. Niemand kann sich den Projektservern nähern, ohne dass wir es mitkriegen, da hat Vijay recht. Und wenn kein Außenstehender an diese Computer herankommen konnte, dann –»
«Die verdammten Projektserver stehen jetzt gerade inmitten einer Party! Da sind bestimmt vierzig Leute im Laborcluster! Warum zum Teufel schießt ihr euch alle gerade auf mich ein? Weil unser Kleiner Lord durchgeknallt ist und partout jemanden braucht, dem er die Schuld geben kann? Und weil man sich da doch einfach den wenigstbegabten Programmierer im Team ausguckt? Den Typen, der am wenigsten mit dem Code zu tun gehabt hat? Ist euch eigentlich klar, was für eine beschissene Katastrophe das Ganze für mich ist? Wie komplett im Arsch mein Leben ist?»
Das ganze Team sah verlegen drein.
Kasheyev tätschelte Stricklands Knie. «Sorry, Josh.» Mit einem letzten Blick auf ihn ging er hinaus, und Koepple folgte ihm.
Wang blieb noch stehen und zeigte mit dem Finger auf Strickland. «Du könntest dir überlegen, ob du Anzeige erstatten willst, Josh. Wir waren alle Zeuge.»
Strickland zuckte die Achseln. Sehr wahrscheinlich würde Dr. Lei sowieso schon disziplinarische Maßnahmen gegen Prakash einleiten. Und außerdem, was sollte das bringen? Jetzt sah sein Gesicht zumindest so aus, wie er sich innerlich fühlte.
Wang ging ebenfalls raus.
Nun war Strickland allein. Er drehte sich mit dem Bürostuhl zum Fenster: Draußen war ein ziemlich schöner Tag. Von seinem Platz aus sah er gleich vor dem Obergeschossfenster einen Baum und auf einem Ast des Baums einen Raben, der ihn beäugte. Dann flog der Vogel weg.