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Vorbefehl
Ein schwarzer Chinook MH-47 flog im Dunkeln eine Talflanke entlang. Bleiches Mondlicht, von den Gipfeln reflektiert, hob für einen Moment die Silhouette des großen Hubschraubers hervor, bevor dieser, zur Gefechtslandung ansetzend, steil ins Schwarz abtauchte. Während seines Manövers spie er alle paar Sekunden aus dem Heck grelle grünlich weiße Täuschkörper aus. Dann zog der Pilot den Bug des Hubschraubers hoch und schwebte auf eine verdunkelte, mit Satellitenschüsseln und Funkantennen gespickte vorgeschobene Einsatzbasis hinab. Der Helikopter drehte sich in einer Staubwolke um seine Längsachse und setzte dann gekonnt auf einer geschotterten Landezone auf.
Während die Turbinentriebwerke herunterfuhren, klappte die Heckrampe herab, und ein Dutzend schwerbewaffneter US-Army-Special-Forces-Soldaten mit schwarzen Schutzwesten und Gesichtsmasken kamen heraus. Mit sich zogen sie einen Gefangenen in dreckbespritztem Salwar Kameez und Chapan; er hatte eine Kapuze überm Kopf, und seine Hände waren im Rücken mit Plastikhandfesseln verschnürt.
Einer der Soldaten brüllte «Paatsezhey!» und stieß den Gefangenen vorwärts.
Die Gruppe bewegte sich rasch durch konzentrische Ringe von HESCO-Schutzwällen zum Zentrum des Camps, wo sich neben Fertigbaubaracken ein Antennenwald erhob. Lokale Kräfte in grünen Kitteln, die mit der Errichtung neuer Befestigungsanlagen beschäftigt waren, lehnten sich auf ihre Schaufeln und sahen den Männern nach.
Die Soldaten schoben ihren Gefangenen wortlos an bewaffneten Wachen vorbei in einen inneren Befestigungsring und zu einem mit NATO-Draht gesicherten ungekennzeichneten Gebäude. Ein Wachposten öffnete die Tür und ließ sie in einen Vorraum, wo weitere Wachen eine weitere Tür öffneten. Niemand sagte etwas oder salutierte auch nur, als die Gruppe rasch hindurchtrat.
Sofort schloss sich die Tür hinter ihnen, und sie standen in einem spartanisch wirkenden Raum mit Lagerregalen, Reihen von Funkgeräten in Ladestationen und Waffenständern. Ein Soldat zog ein Messer und schnitt dem Gefangenen die Plastikfesseln von den Handgelenken. Ein anderer nahm ihm die Kapuze ab.
Der Mann orientierte sich in aller Ruhe, während er sich die Handgelenke rieb. Mit dem langen schwarzen Bart und dem kurzen Haar sah er aus wie der Talib schlechthin, und seine schlanke Gestalt und die wettergegerbte Haut verstärkten den Eindruck noch. Seine stahlblauen Augen blickten gelassen geradeaus.
Der Anführer der Soldaten nickte ihm zu. «Schön, Sie wieder hier begrüßen zu können, Odin.»
Der Bärtige antwortete in lupenreinem Mittelwesten-Amerikanisch: «Schön, wieder hier zu sein, Staff Sergeant.»
«Folgen Sie mir. Können wir Ihnen irgendwas bringen?»
Odin schüttelte den Kopf, während sie einen Gang mit etlichen Türöffnungen entlanggingen. Mehrere Offiziere nickten ihm respektvoll zu. Schließlich kamen sie an eine Holztür. Der Staff Sergeant klopfte zweimal und betrat dann einen Briefing-Raum, in dem ein Klapptisch stand. An Faserplatten-Wandelementen hingen Sektorkarten, und LCD-Panels zeigten Live-Satelliten- und Überwachungsbilder. Leiser Sprechfunkverkehr bildete ein stetes Hintergrundrauschen.
«Odin ist hier, Colonel.»
«Wird auch verdammt noch mal Zeit.»
Am Tisch saß ein Mann in den Sechzigern; er trug ein blaues Oxfordhemd, einen dunkelblauen Blazer und Khakihosen. Vor ihm stand ein aufgeklappter Laptop. Sein Blick war hart, seine Art respekteinflößend. Seine kräftigen Hände verrieten den alten Kommandosoldaten.
Der Staff Sergeant ging wortlos hinaus und schloss die Tür hinter sich. Odin nahm Haltung an und salutierte. «Sie wollten mich sprechen, Colonel!»
«Haben Sie vergessen, auf wessen Seite Sie stehen, Master Sergeant?»
«Nein, Sir.»
«Tja, sieht aber ganz so aus. Ihretwegen habe ich einen politischen Shitstorm Stärke zwölf am Hals.»
«Im Kontext betrachtet, sind meine Methoden –»
«Ihre Methoden haben dieser Mission dauerhaft geschadet. Ich will Ihnen mal was verraten, mein Junge: Ihre Aufgabe ist es, feindliche Operationen zu vereiteln – nicht unsere Operationen.»
«Was ich getan habe, war strategisch sinnvoll.»
«Nein, Sie dachten, es wäre strategisch sinnvoll – und Denken ist nicht Ihr Job. Ihr Job ist es, den Feind zu töten.»
«Mir hat man beigebracht, dass ein Special Operator selbst denken muss – strategisch wie taktisch. Entweder man stellt sich auf die Situation am Boden ein, oder man wird von den Ereignissen überrollt, Sir.»
Der Colonel musterte Odin. «Inwiefern sollte es strategisch sinnvoll sein, einen Aufständischenführer vor einem bevorstehenden CIA-Raketenschlag zu warnen? Mein S2 meldet, dass der gegenwärtige Aufenthaltsort des Mannes unbekannt ist. Dieser Mistkerl kann jetzt also weiterkämpfen – dank Ihnen.»
Odin schwieg.
«Wie rechtfertigen Sie Ihr Handeln, Master Sergeant?»
Odin dachte über die Frage nach. «Früher oder später ziehen wir hier ab. Und wir müssen mehr zurücklassen als nur radikalisierte junge Männer, die nichts anderes kennen als Krieg. Der Stammesälteste, den ich gerettet habe, ist in den entlegenen Tälern weithin geachtet, und er ist gemäßigt im Vergleich zu den Leuten, die seine Nachfolge angetreten hätten – auch wenn das vermutlich auf den Luftbildern nicht zu sehen war.»
«Task Force Steel sagt, er ist das Zentrum eines Aufständischennetzwerks.»
«Ja, als Reaktion darauf, dass wir sein Land militärisch besetzt halten. Aber wenn wir nicht hier sind, tötet er ausländische Kämpfer und Drogenschmuggler. Wenn wir diesem Mann nicht dazwischenfunken, erledigt er die Arbeit für uns.»
«Trotzdem –»
«Wir brauchen hier keine konventionellen Truppen, Colonel. Leute wie ich können das Terrain unauffällig bearbeiten, können politische Fraktionen gegeneinander ausspielen, indirekt vorgehen. Unsere Patrouillen und Basen hier sind doch nur Angriffsziele, und je mehr Feuerkraft wir einsetzen, desto mehr Feinde schaffen wir uns.»
«Das reicht.» Der Blick des Colonels bohrte sich sekundenlang in Odins Augen. «Wie hat Ihr Team sich bewegt, ohne von unseren Drohnen bemerkt zu werden?»
«Wir haben ihnen Lockziele vorgesetzt – fernbediente Mörser. Die benutzen die Aufständischen dauernd, um Rivalen ans Messer zu liefern. Wir haben agiert, solange die Drohnen abgelenkt waren.»
Der Colonel musterte Odin immer noch. «Sie haben ja mit Ihrer Abneigung gegen Drohnen nie hinterm Berg gehalten.»
«Drohnen sind nützlich zur Aufklärung, aber sie können keinen Menschen am Boden ersetzen. Und wenn Sie mich fragen, schaden diese Raketenschläge mehr, als dass sie nützen. Nehmen Sie nur mal dieses Desaster in Kerbela – die Selbstmord- und Sprengfallenanschläge haben bereits in allen Einsatzgebieten zugenommen. Eine bessere Rekrutierungshilfe hätten sich unsere Feinde kaum wünschen können.»
«Das Pentagon sagt, es war keine unserer Drohnen.»
«Wir wissen doch beide, dass das ziemlich egal ist. Und genau hier liegt das Problem.»
Der Colonel schien solch intensive Debatten mit Untergebenen gewohnt. Er blieb ruhig. «Wie immer Sie dazu stehen mögen, Sergeant, fünfzig andere Staaten setzen alles daran, eigene Drohnen zu entwickeln.» Er hielt einen Augenblick inne. «Was auch der Grund ist, weshalb ich Sie herbeordert habe.»
Odin sah ihn verdutzt an.
«Sagt Ihnen der Begriff letale Autonomie etwas?»
Odin nickte. «Autonome Kampfdrohnen.»
«Ja. Drohnen, die sich selbst steuern und die Tötungsentscheidung ohne direkte menschliche Mitwirkung fällen.»
Odin schwieg einen Moment, sichtlich betroffen. «Das ist eine einschneidende militärische Revolution, Sir.»
«Erklären Sie mir, warum.»
«Weil es die schlimmsten Aspekte des Cyberkriegs – Anonymität und Skalierbarkeit – mit der physischen Gewalt des kinetischen Kriegs kombiniert. Ein erfolgreiches Modell einer solchen autonomen Kampfdrohne könnte, wenn die Pläne gestohlen werden, in Offshore-Fabriken zigtausendfach nachgebaut und dann ohne Angst vor Vergeltung gegen jeden eingesetzt werden.»
Der Colonel betrachtete Odin und nickte schließlich, als hätte er eine Entscheidung gefällt. «Ich habe eine Mission für Ihr Team, Master Sergeant. Eine Mission, die jemanden erfordert, der, wie Sie es so treffend formuliert haben, selbst zu denken vermag, strategisch wie taktisch. Ich setze Sie auf die BIGOT-Liste für ein hochgradig kompartmentalisiertes Geheimprojekt, Codename Project Ancile. Sie werden einer der drei Menschen sein, die von seiner Existenz wissen, und Sie erstatten mir und nur mir Bericht.»
«Wie lautet mein Auftrag?»
Der Colonel klappte seinen Laptop zu und fixierte Odin. «Sie sollen herausfinden, wer hinter den Drohnenangriffen auf die Kontinental-USA steckt.»
«Sprechen Sie von den Terroranschlägen, Sir?»
«Das ist eine lancierte Geschichte. Die Wahrheit ist weit beunruhigender. Wir glauben, dass die Urheber des Kerbela-Angriffs auch hinter den CONUS-Angriffen stecken.»
Odin dachte darüber nach, was das hieß.
«Noch etwas.» Der Colonel machte eine Effektpause, um dem, was er gleich sagen würde, Nachdruck zu verleihen. «Sie werden Ihre Mission erfüllen, ganz egal, wohin sie führt – selbst wenn man Ihnen befiehlt, sie abzubrechen. Sie müssen weitermachen und Sie müssen es schaffen. Haben Sie mich verstanden, Master Sergeant?»
Odin nickte. «Ich glaube ja, Sir.»