|183|TEIL 2

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Ich erkannte die Polizisten an der Tür zur Intensivstation nicht. Die Jungs sahen aus, als wären sie noch feucht hinter den Ohren. Phatudis Idioten mussten die Tagschicht haben, aber diese beiden sahen nicht viel besser aus. Sie saßen da und starrten mich an, die Pistolen sicherheitshalber im Holster verstaut, bis ich vor ihnen stand. Einer der beiden erhob sich.

»Kein Eintritt.« Seine Augen waren blutunterlaufen vom Schlafmangel.

»Ich stehe auf der Liste.«

»Wer sind Sie?«

»Lemmer.«

Er zog ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Brusttasche und öffnete es.

»Martin Fitzroy?«

Dieser blöde Phatudi. »Ja.«

»Warten Sie.«

Die Balaclavas hätten sie in etwa vier Sekunden ausgeschaltet.

Ich wartete. Um Viertel nach sieben kam Dr. Eleanor Taljaard von Emmas Station. Sie sah müde aus. Ich fragte mich, wann sie zuletzt geschlafen hatte. Sie sagte, es gebe positive Zeichen. »Emma ist immer noch im Koma, reagiert aber stärker auf externe Stimuli. Ihr Glasgow-Index liegt jetzt bei acht.«

»Wie sehr steigert das ihre Chancen?«

»Fragen Sie mich das noch mal, nachdem wir heute Abend den CT-Scan gemacht haben.«

»Mehr oder weniger?«

»Lemmer, es sind nur Vermutungen …«

|186|»Das weiß ich.«

»Na ja, ich würde sagen, über fünfzig Prozent.«

»Das ist besser als die vierunddreißig Prozent von gestern.«

»Das stimmt, aber wir sollten noch nicht aus dem Häuschen geraten. Es ist noch viel zu tun. Sie können uns helfen.«

»Wirklich?«

»Sie braucht Stimulation, Lemmer. Ihre Stimme ist die Einzige, die sie kennt. Ich möchte, dass Sie mit Emma reden.«

»Ich? Mit Emma reden?«

»Ja.« Mit großer Geduld. »Ich möchte, dass Sie sich auf den Stuhl neben ihrem Bett setzen und mit ihr reden.«

»Wie lange?«

»So lange wie möglich. Sie haben den ganzen Tag …«

»Den ganzen Tag!«

»Sie können natürlich gern etwas essen und trinken, wenn es sein muss, aber je länger Sie mit ihr reden, desto besser.«

»Was soll ich sagen?«

»Was Sie wollen. Sprechen Sie gleichmäßig und gerade eben laut genug, dass Emma Sie hören kann. Reden Sie mit ihr.«

Das Leben ist ungerecht.

Eleanor sah ganz genau, wie begeistert ich war.

»Kommen Sie, Lemmer! Emma wird sich nicht erinnern, was Sie ihr erzählen. Holen Sie sich ein Buch und lesen Sie ihr vor. Oder erzählen Sie ihr die Geschichte eines Films, den Sie gesehen haben. Ganz egal. Emma braucht Sie.«

 

Sie wirkte leblos und zerbrechlich, blass und verloren. Man hatte ihr das Haar abrasiert. Ihr Kopf und ihre Brust waren verbunden. Kabel klebten auf ihr, ein Tropf hing an ihrem Arm, Bildschirme und Maschinen gaben leise elektronische Geräusche von sich. Ihre linke Hand lag ganz still auf der Bettdecke. Ich wollte die Hand ausstrecken und sie berühren.

Ich setzte mich neben sie aufs Bett. Ich wollte sie nicht ansehen. Schaute durch das Glas auf der anderen Seite. Dort stand Eleanor Taljaard und beobachtete mich. Sie nickte mir zu. Ich nickte zurück. Ich schaute Emma an.

|187|»Es tut mir leid«, sagte ich, aber zu leise, sie würde mich nicht hören können. Ich räusperte mich. »Emma, es tut mir so leid.«

Nur die Elektronik ihrer Lebenszeichen antwortete mir.

Was sollte ich ihr sagen?

»Ich, äh, die Ärztin hat gesagt, du kannst mich hören.«

Den ganzen Tag? Unmöglich. Wo konnte ich ein Buch bekommen? Eine Zeitschrift? Eine Frauenzeitschrift könnte die Lösung sein.

»Sie haben gesagt, heute Morgen geht es dir ein bisschen besser. Sie haben gesagt, es besteht eine gute Chance, dass du wieder gesund wirst. Du musst vasbyt …«

Vasbyt. Was war das für ein beschissenes Wort? Wie konnte ich jemand in einem Koma bitten, durchzuhalten? Ich war ein Idiot.

»Emma, sie sagen, ich soll mit dir reden, weil du meine Stimme kennst.«

Sage ihr, was du zu sagen hast.

»Es war meine Schuld, Emma. Ich hätte dir glauben sollen. Das war der Fehler, den ich begangen habe. Ich dachte, ich wäre ganz besonders klug. Ich dachte, ich kenne die Menschen. Ich dachte, ich kenne dich. Aber ich hatte unrecht.«

Sie lag bloß da.

»Ich bringe es in Ordnung. Ich verspreche es dir.«

Wie? Wie würde ich es in Ordnung bringen?

»Ich weiß noch nicht wie, Emma.«

Dann lehnte ich mich zurück und war still.

Ich schaute hoch zum Glasfenster. Ich wollte fragen, ob ich mal schnell verschwinden konnte. Doktor Taljaard war verschwunden. Emma und ich waren allein. Ich sah die langsame Bewegung ihrer Brust, einatmen, ausatmen. Ihre Hand lag entsetzlich still da.

Ich sammelte meine Gedanken, langsam und vorsichtig, und sagte: »Ich muss weiterreden. Du weißt, dass ich das nicht gut kann. Die Sache ist die, ich weiß nicht, was ich dir sonst noch erzählen soll. Sie haben mir keine Zeit gelassen, darüber |188|nachzudenken. Ich hoffe, das verstehst du. Ich gehe gleich eine Zeitschrift kaufen. Was liest du? Es gibt ja jetzt so viele zur Auswahl … Heute Morgen hat es wieder geregnet. Kein Gewitter wie neulich nachts, nur leichter Regen. Ich war gerade draußen. Das erste Mal, seit wir … Es ist jetzt nicht mehr so heiß.«

Konnte ich eine Zeitschrift kaufen gehen?

»Doktor Eleanor Taljaard scheint zu wissen, was sie tut. Sie ist ungefähr fünfzig. Ihr Mann arbeitet auch hier. Er heißt Koos. Sie sind ein interessantes Paar. Er ist kleiner als sie. Sie scheinen sich … sehr gut zu verstehen.«

Sag was.

»Ich werde Jeanette Louw bitten, dir dein Geld zurückzuerstatten.«

Rede nicht über die Verletzung.

Was mögen Frauen?

»Weißt du noch, als ich sagte, ich sei Bauarbeiter? Bei Wolhuter? Ich wollte clever sein, aber es war keine echte Lüge. Ich renoviere mein eigenes Haus in Loxton.«

Das war das richtige Thema.

»Es ist ein altes Haus. Niemand weiß genau, wann es erbaut wurde. Ich glaube, es muss zwischen neunzig und hundert Jahre alt sein. Es ist das letzte Haus auf der linken Seite, wenn man die Stadt Richtung Staudamm verlässt. Der Vorbesitzer war ein Moslem. Er war ein oder zwei Jahre der Elektriker in der Stadt. Die Leute nannten es das Al-Qaeda-Haus. Du weißt schon – ein Scherz. Weil es nicht mehr genug Arbeit gab, ist er weggezogen. Vielleicht fühlte er sich ohne seine eigenen Leute auch nicht zu Hause. Jetzt sprechen sie von Lemmers Haus. Das ist ein bisschen ironisch. Denn es ist mein erstes Haus. Ich hatte in Seapoint eine Wohnung, bevor ich … bevor ich dort wegzog. Davor habe ich immer gemietet, denn wir waren sechs Monate in Pretoria und sechs Monate in Kapstadt, als ich für den Minister arbeitete.

Jedenfalls bin ich damit beschäftigt, mein Haus umzubauen. Es war in keinem schlechten Zustand. Nur ein paar Risse in |189|den Wänden, doch der Garten war vollkommen vernachlässigt, denn der Moslem war schon zwei Jahre weg, als ich einzog. Aber der Grundriss ist eigenartig. All die alten Häuser in Loxton haben die Küche und das Badezimmer nebeneinander auf der Rückseite. Wenn man ein Bad nehmen will, muss man aus dem Schlafzimmer durch den Flur und die Küche gehen. Man hat überhaupt keine Duschen eingebaut. Ich weiß nicht warum, Wasser ist in der Karoo doch so kostbar. Aber damals hat man nur Badewannen genommen.

Im Augenblick reiße ich die Mauer zwischen Bad und Küche ein. Ich habe eines der kleineren Schlafzimmer in ein neues Bad umgebaut. Das war eine ganz schöne Arbeit – ich musste alle Rohre neu verlegen. Hat ungefähr ein Jahr gedauert, in dem ich allerdings auch für Jeanette gearbeitet habe. Ich finde, das neue Badezimmer sieht jetzt gut aus. Ich habe Keramikfliesen auf dem Boden, eine große Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette hinter einer kleinen Mauer, die ich selbst errichtet habe.

Ich habe mal mauern gelernt. Vielleicht sollte ich dir erzählen …

Lieber später. Jedenfalls musste ich die Mauer dreimal neu machen, bevor alles stimmte.

Als das Bad fertig war, begann ich mit der Wand zwischen Küche und dem alten Badezimmer. Ich will daraus einen großen Raum machen, zusammen mit dem kleinen Schlafzimmer hinter der Küche. Ein großes Wohnzimmer zum Essen, Kochen und für Gäste. Nicht, dass ich kochen könnte … oder besonders viele Gäste hätte. Aber in Loxton … Die Leute sind anders. Sie klopfen bei einem und sagen: ›Wir sind zum Kaffee gekommen.‹ Und dann plaudert man.

In der Küche steht ein alter Herd. Im Winter ist er wunderbar und warm. Wenn ich damit fertig bin, Wände einzureißen, wird es ein großes Zimmer sein, mit dem Herd in der Mitte.

Eine Farbige bringt mir Kochen bei. Sie heißt Agatha. Sie kommt zweimal die Woche, macht sauber, wäscht und bügelt, und dann zeigt sie mir, wie man eine Lammkeule oder Rippchen |190|im Ofen macht. Das Fleisch zergeht einem auf der Zunge, und wunderbare Düfte erfüllen das ganze Haus. Manchmal bringt sie ihren Enkel mit. Er ist drei und heißt Ryno. Sie sagt, er sei nach einem Jungen aus einer Soap benannt.

Ich muss dich unheimlich langweilen.

Als ich für die Regierung arbeitete, hatte ich nie Zeit zum Fernsehen. Jetzt habe ich eine Satellitenschüssel. Anfangs habe ich nur Rugby geguckt, aber du weißt ja, wie schlecht es beim Rugby zurzeit läuft …

Das Leben in Loxton ist sehr langweilig, doch das ist genau das, was ich will. Deswegen bin ich dort hingezogen. Aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht …

Das alte Wohnzimmer vorn ist jedenfalls jetzt mein Schlafzimmer, das neue Bad liegt daneben. Das Haus hat eine Veranda zur Straße hin. Auf der anderen Seite stehen keine Häuser. Da ist Gemeindeland. Karoo veld. Hügel. Das Gemeindeland hat zehntausend Hektar. Kannst du dir das vorstellen? Ein paar Leute halten Schafe darauf. Oom Joe van Wyk hat gesagt, ich solle mir auch ein paar Schafe anschaffen. Er sagte, ich müsse sie nicht einmal selbst schlachten, zum ersten Mal seit sieben Jahren gebe es einen Fleischer in der Stadt. Und ein Restaurant und ein Café … das Rooi Granaat. Du musst mal den Feigenlikör probieren, den Tannie Nita macht, Emma, besser als jeder Wein.

Und dann ist da mein Garten … In Loxton ist das Wasser immer noch rationiert. Ich bin donnerstags um drei mit dem Bewässern dran. Wenn ich nicht da bin, kümmern sich Agatha oder Antjie Barnard darum. Im Garten steht ein alter Birnbaum. Ich habe ihn zurückgeschnitten, und jetzt trägt er gut. Ich habe am Rand des Grundstücks eine Hecke aus Salzmelde gepflanzt. Außerdem drei Pfirsichbäume und eine Aprikose. Agatha meinte, ich solle Feigen pflanzen, denn die passen am besten in die Karoo, und sie werde mir Marmelade kochen. Ich habe vier dicht vor der Küche gepflanzt. Ansonsten ist es nur Rasen mit ein paar Blumenbeeten.

Ich mag die Gartenarbeit.«

|191|Ich schaute auf die Uhr. Viertel vor acht morgens.

Den ganzen Tag.

Ich sah ihre Hand an. Das schlanke Gelenk, die Finger.

»Emma, ich weiß nicht, was ich dir noch erzählen soll.«

Draußen, hinter der Glasscheibe, ging eine Krankenschwester vorbei.

»Ich möchte auch einen Kräutergarten anlegen. Und Gemüse pflanzen. Der Boden ist gut. Oom Wessel van der Walt hat Gemüsegärten auf seinen beiden Grundstücken, und die Grundstücke in Loxton sind groß, selten kleiner als tausend Quadratmeter. Oom Wessel hat die beiden Grundstücke vor langer Zeit gekauft. Als er sich zur Ruhe setzte, hat er auf einem gebaut. Eine Menge Leute in der Stadt sind in Rente, aber immer mehr und mehr von ihnen stammen aus Kapstadt oder Johannesburg. Um wegzukommen – von was auch immer. Sie kamen und eröffneten Hotels und ein Restaurant. Es gibt ein paar, die freiberuflich für Zeitschriften arbeiten, und einen Mann, der Websiten gestaltet. Ein paar Ferienhäuser.«

Die Tür ging auf. Eine Krankenschwester kam herein, eine junge Schwarze. Sie lächelte mich an.

»Guten Morgen«, sagte sie und trat an Emmas Bett.

»Guten Morgen«, sagte ich.

Sie las etwas ab und notierte es auf einem Blatt.

»Machen Sie einfach weiter«, sagte sie. »Ich bin gleich fertig.«

»Glauben Sie, Emma versteht, was ich sage?«

»Nein.«

»Glauben Sie, sie kann sich daran erinnern?«

»Nein.« Dann setzte die Krankenschwester lächelnd hinzu: »Wenn Sie also etwas Wichtiges sagen wollen, müssen Sie warten, bis sie aufwacht.«

Ich fragte mich, was Doktor Koos seinen Mitarbeitern erzählt hatte.

»Kann ich eine Zeitschrift kaufen gehen? Um ihr vorzulesen.«

»Das können Sie … aber wissen Sie, welche Sie wollen?«

|192|»Nein, ich kaufe einfach eine Frauenzeitschrift.«

»Aber welche?«

»Eine auf Afrikaans.«

»Aber welche auf Afrikaans?«

»Ist das denn wichtig?«

Die Schwarze schaute mich streng an. »Natürlich ist das wichtig.«

»Warum?«

»Was für eine Schande«, sagte sie. »Sie kennen sich nicht mit Frauen aus, was?«