Wir spazierten im Dämmerlicht zum Restaurant Mohlolobes Honey Buzzard. Emma wirkte ein wenig gedrückt. Sie war auch beim Abendessen gestern in Hermanus still gewesen. Vielleicht war sie kein Abendmensch. Vielleicht lag es an der Hitze.
Während wir im Kerzenlicht am Tisch saßen, sagte sie: »Sie müssen sehr hungrig sein, Lemmer.«
»Ich könnte schon etwas vertragen.«
Ein Kellner brachte uns die Speise- und eine Weinkarte. »Manchmal vergesse ich zu essen«, sagte sie.
Sie reichte mir die Weinkarte. »Sie können gern Wein bestellen.«
»Nein, danke.«
Sie las lange, aber ohne Begeisterung, die Speisekarte. »Nur einen griechischen Salat«, sagte sie dem Kellner. Ich bestellte eine Flasche Mineralwasser zum Preis eines Kleinwagens und das Rinderfilet mit Kartoffelbrei und Grüner-Pfeffer-Sauce. Wir betrachteten die anderen Leute im Saal, Fremde mittleren Alters in Zweier- und Vierergruppen. Emma zupfte die weiße Leinenserviette aus dem nachgemachten Elfenbeinring. Sie drehte den Ring mit ihren schlanken Fingern im Kreis und untersuchte das feine Blattmuster darauf.
»Es tut mir leid wegen vorhin …«, sagte sie und schaute auf. »Als ich die Impalas sah …«
Ich erinnerte mich an den Augenblick, als sie die Hand vor den Mund gehoben hatte.
Sie konzentrierte sich wieder auf den Serviettenring in ihrer Hand. »Wir hatten eine Jagdfarm in Waterberg. Mein Vater …«
Sie nahm einen tiefen Atemzug und stieß ihn langsam aus, |54|sie versuchte die Gefühle hinter den Worten unter Kontrolle zu bekommen.
»Kein großes Gelände, nur dreitausend Hektar, bloß ein Stück Land mit ein bisschen Wild, sodass wir am Wochenende dort hinfahren konnten und … Mein Vater sagte, das wäre für uns, für seine Kinder, damit wir keine reinen Stadtkinder würden. Damit wir wüssten, was klits-Gras ist. Für Jacobus war es … Er war niemals im Haus, wenn wir dort waren. Er schlief draußen, lief herum und fühlte sich wohl … Er hatte immer zwei oder drei Freunde mit, aber spät am Nachmittag, wenn die Sonne unterging, kam er mich holen. Ich muss neun oder zehn gewesen sein; er war schon fast mit der Schule fertig. Er ging mit seiner kleinen Schwester spazieren … Er wusste, wo das Wild war, all die Herden. Er fragte mich, was ich sehen wollte. Kleine, welches Wild? Und dann erzählte er mir von ihnen, ihren Gewohnheiten, was sie taten. Und die Vögel – ich musste alle ihre Namen lernen … das war lustig … aber ich fühlte mich immer ein wenig schuldig, weil ich nicht war wie er … Es war, als würde er nur wirklich zum Leben erwachen, wenn wir auf der Farm waren, in den Ferien … Ich wollte nicht andauernd dort hinfahren, nicht jedes Wochenende und jede Ferien.«
Sie schwieg wieder, bis unser Essen kam. Ich machte mich über das Steak her. Sie schob ihren Salat mit der Gabel hin und her, dann legte sie das Besteck hin.
»Mein Vater … für ihn war das Schlimmste, dass sie Jacobus nie gefunden haben. Vielleicht wäre es für ihn leichter gewesen, wenn es eine … eine Leiche gegeben hätte. Irgendetwas …«
Sie hob die Serviette von ihrem Schoß und drückte sie vor ihren Mund. »Er hat die Farm verkauft – als es keine Hoffnung mehr gab. Er hat nie mit uns darüber gesprochen; er kam einfach eines Tages nach Hause und sagte, die Farm sei … Es war das erste Mal … heute, als ich das Wild gesehen habe. Es war das erste Mal seit damals auf der Farm. Seit Jacobus starb.«
Ich sagte nichts. Mitgefühl auszudrücken war nie meine Stärke gewesen. Ich saß da, und mir war klar, dass es nichts zu bedeuten hatte. Ich war bloß der Einzige, der hier war.
|55|Emma griff wieder nach dem Serviettenring. »Ich … Letzte Nacht habe ich gedacht, vielleicht mache ich einen riesigen Fehler, vielleicht will ich so sehr, dass irgendetwas von Jacobus irgendwo … dass ich … Wie kann ich das objektiv beurteilen? Wie kann ich sicher sein, dass es nicht nur meine Gefühle und meine Sehnsucht sind … Ich vermisse sie, Lemmer. Ich vermisse sie als Menschen, und ich vermisse sie in meinen Gedanken, meinen Bruder, meine Mutter, meinen Vater. Jeder braucht eine Familie … Und ich frage mich, bin ich hergekommen, um nach ihr zu suchen? Hat der Mann im Fernsehen wirklich wie Jacobus ausgesehen? Ich … ich bin nicht sicher. Aber ich kann auch nicht … dieser Anruf … Wenn Sie mich jetzt fragen, was der Mann gesagt hat, was ich wirklich gehört habe? Dafür braucht man einen Vater, um ihn zu fragen: Dad, tue ich … ist es das Richtige?«
Mein Teller war leer. Ich legte erleichtert Messer und Gabel hin. Jetzt musste ich kein schlechtes Gewissen mehr haben, weil das Essen gut war, und ich es genoss, während Emma sich mit ihren Gefühlen abplagte. Aber ich konnte ihre Frage nicht beantworten. Also sagte ich: »Ihr Vater …« Nur eine kleine Ermutigung.
Sie antwortete nicht gleich. Sie umschloss den Ring mit der Hand, schaute dann zu mir auf und sagte: »Er war der Sohn eines Heizers.«
Ein Kellner nahm meinen Teller mit, und sie schob ihm ihren Salat hin und sagte: »Es tut mir leid, der Salat ist ausgezeichnet … aber mein Appetit …«
»Kein Problem, Madam. Möchten Sie die Dessertkarte sehen?«
»Sie sollten etwas bestellen, Lemmer.«
»Nein, danke, ich habe genug.«
»Kaffee? Likör?«
Wir lehnten ab. Ich hoffte, dass Emma bereit war zu gehen. Sie legte den Serviettenring hin, wo ihr Teller gestanden hatte, und stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch. »Es scheint, als hätten alle vergessen, wie arm viele Afrikaaner waren. Meine |56|Großmutter … sie hatte einen Gemüsegarten hinter dem Haus, und mein Großvater hatte einen Hühnerstall zwischen den Gleisen … das war nicht erlaubt, aber es gab keinen anderen Platz dafür. Es waren diese kleinen Eisenbahnhäuschen in Bloemfontein …«
Sie erzählte mir ihre Familiengeschichte, der Aufstieg des Johannes Petrus le Roux. Ich vermutete, dass es eine altbekannte Saga war, die sie als Kind oft gehört hatte. Es war eine Möglichkeit für sie, eine Verbindung zu ihrer verlorenen Familie aufzubauen und zugleich sich selbst und ihre Ermittlungen in der Gegenwart erneut zu definieren.
Ihr Vater war das zweitälteste von fünf Kindern gewesen, eine große Familie, die einen Heizer teuer zu stehen kam. Mit fünfzehn hatte er keine andere Wahl, als arbeiten zu gehen. Im ersten Jahr war er einfach nur Handlanger in den riesigen Hallen der SA Railways in Bloemfonteins East End; man konnte vom bescheidenen Heim seiner Eltern zwischen den Abstellgleisen hindurch dorthin laufen. Am Ende jeder Woche händigte er den Umschlag mit seinem mageren Verdienst seiner Mutter aus. Jeden Abend wusch er sein einziges Arbeitshemd und hängte es vor den Kohleofen zum Trocknen. Mit sechzehn begann er seine Ausbildung zum Mechaniker und Dreher, etwas, das ihn interessierte.
Ein kleines Wunder nahm seinen Lauf. Johan le Roux und seine Ausbilder bemerkten Stück für Stück, dass er einen Instinkt für Zahnradgetriebe hatte. Als er seine Lehre als Mechaniker abgeschlossen hatte, waren seine Fähigkeiten bereits allseits anerkannt, und seine Lösungen in einem Dutzend verschiedener Triebwerke sparten der Bahn Tausende.
Eines Sommermorgens im Jahr 1956 kamen zwei Afrikaaner-Geschäftsleute aus Bothaville in die große Werkstatt. Über den Lärm des Hämmerns, Feilens und Schneidens hinweg riefen sie, dass sie nach einem gewissen le Roux boy’tjie suchten, der sich so gut mit Getrieben auskannte. Sie bauten Arbeitsgeräte für die Maisbauern im nördlichen Freistaat und benötigten seine Fähigkeiten, um mit den teuren Maschinen |57|konkurrieren zu können, die aus Amerika und Großbritannien importiert wurden.
Sein Vater, der Heizer, war dagegen. Der Staat war ein zuverlässiger Arbeitgeber, eine Versicherung gegen Depression, Krieg und Armut. Die private Wirtschaft wurde von Engländern, Juden und Ausländern bestimmt, sie alle wollten seiner Meinung nach nur die Buren betrügen; es war ein großes Risiko. »Pa, ich kann meine eigenen Sachen entwerfen. Ich kann selbst die Pläne zeichnen, die Formen schneiden und die Maschinen Stück für Stück zusammensetzen. Das kann ich bei der Eisenbahn nicht«, war sein Argument. Ende des Monats verließ er die Züge für ein Städtchen am Vals River, wo die Götter bereit waren, ihn anzulächeln.
Er war alles, was seine neuen Arbeitgeber sich von ihm erhofft hatten – arbeitsam, entschlossen und einfallsreich. Seine Ideen waren innovativ, seine Produkte erfolgreich, er wurde immer bekannter. Kaum ein Jahr später traf er Sara.
Dies war ein entscheidender Augenblick in der le Roux-Geschichte, wie in vielen Familien-Sagas, die ich über die Jahre gehört hatte. Als Emma sie vortrug, war da die ewige Überraschung über die Vorsehung, das Schicksal der sich kreuzenden Wege ihrer zukünftigen Eltern.
Der kleine Industriepark Bothavilles befand sich im Norden der Stadt, auf der anderen Seite der Gleise. Um seine Unterkunft in der Innenstadt zu erreichen, musste Johan le Roux über die Fußgängerbrücke des Bahnhofs gehen und den Bahnhofsteig entlang. Verschwitzt und schmutzig, mit seiner blechernen Lunchbox in der Hand, folgte er eines Nachmittags seinem normalen Weg. Im Vorbeigehen schaute er neugierig durch die Fenster des hell erleuchteten, übervollen Restaurants am Bahnhof – und entdeckte eine hübsche junge Frau, die dort saß. Er blieb augenblicklich stehen. Es war ein magischer Augenblick: Das hübsche Mädchen mit dem frechen Hütchen, einer schneeweißen Bluse und roten Lippen hielt eine Tasse Tee in seinen zarten Händen.
Lange Zeit stand er auf dem dämmrigen Bahnsteig und sah |58|sie an, zerrissen von dem Wissen, dass sie für ihn bestimmt war, dass aber sein ölfleckiger Overall keinen guten Eindruck hinterlassen würde. Er konnte es jedoch auch nicht riskieren, nach Hause zu gehen, um sich umzuziehen, denn wenn er zurückkehrte, wäre sie vielleicht schon mit einem Zug davongefahren.
Schließlich öffnete er die Tür und ging zu dem Tisch, an dem sie saß. »Ich bin Johan le Roux«, sagte er. »Ich sehe viel besser aus, wenn ich gebadet habe.«
Sie sah auf und erkannte den Mann hinter dem Arbeiter, sein sanftes Lächeln, den intelligenten Blick und den Lebenshunger. »Ich bin Sara de Wet«, sagte sie und streckte ihm, ohne zu zögern, die Hand hin, »und mein Zug hat Verspätung.«
Johan bot an, sie auf eine weitere Tasse Tee einzuladen. Sie hielt einen Augenblick inne, berichtete sie später ihren Kindern, wie jemand am Rande eines Abgrunds. Sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass ihr »Ja« oder »Nein« eine Gabelung am Weg ihres Lebens darstellte. »Ja, bitte, das wäre nett«, entgegnete sie dann. In der Stunde, bevor ihr Zug Sara davontrug, hatten sie ihre Lebensgeschichten ausgetauscht und die ersten Schritte auf der Straße der Liebe getan. Sara war die ältere von zwei Töchtern des einzigen Anwaltes in Brandfort, unterwegs nach Johannesburg, um dort als Schreibkraft eines Bergbaubetriebes zu arbeiten. Sie verfügte über ein Sekretärinnen-Zertifikat vom Bloemfontein College – und eine nervöse Vorfreude auf die großen Abenteuer, die in der Stadt auf sie warteten. Johan schrieb seine Adresse auf die Rückseite des Restaurant-Bons (mittlerweile ein vergilbtes, kaum leserliches Fragment der Geschichte, das Emma in einer alten Familienbibel aufbewahrte), und sagte, sie könne ihm schreiben, wenn sie wolle.
Und das hatte sie getan. Zuerst korrespondierten sie ein paar Monate, dann nahm die Fernromanze Formen an. Einmal im Monat fuhr er über das Wochenende zu ihr, jede Woche erhielt Johan einen langen Brief und schickte einen ab. Dann |59|und wann, nur um ihre Stimme zu hören, rief er sie über die knisternden Telefonleitungen Bothavilles an.
Ein Jahr später erschienen die Männer von Sasol vor seiner Werkstatttür. Es war 1958. Ihre Fabrik arbeitete schon seit drei Jahren, aber der Antrieb einiger Kohlentransportzüge funktionierte einfach nicht gut genug. Sie suchten jemanden, der sie instand setzen und verbessern konnte, und hatten gehört, dass Johan le Roux der Meister aller Getriebe sei.
Der Vertrag, den er aushandelte, war gut genug, um eine eigene Firma in Vanderbijl Park zu eröffnen, aber nicht so großzügig, dass er um Saras Hand anhalten konnte. Dafür musste er bis 1962 warten, als seine Schulden bezahlt waren. Aber in diesen vier Jahren sahen sie einander wenigstens jedes Wochenende und konnten täglich telefonieren.
Im Jahr 1963 heirateten sie in Brandfort, und gemeinsam führten sie Le Roux Engineering Works – er in der Werkstatt, sie übernahm Verwaltung und Buchhaltung. Drei Jahre später wurde Jacobus Daniël le Roux geboren, und Sara wurde Mutter und Hausfrau. 1968 waren sie für ein weiteres Kind bereit, aber Johan le Roux’ wachsende Bekanntheit veränderte ihr Leben erneut. Diesmal war es ein langer schwarzer Sedan vor der Werkstatttür – und drei weiße Männer in schwarzen Anzügen und mit schwarzen Hüten, die ihn sprechen wollten. Sie kamen von der neu gebildeten Arms Development and Production Corporation, dem Vorläufer dessen, was 1977 Armscor wurde. Er musste eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnen, bevor sie ihm von der Artillerie und den gepanzerten Fahrzeugen erzählten, die entworfen und gebaut werden mussten. Da sie bereits in Erfahrung gebracht hatten, dass er ein treuer Afrikaaner war, waren sie gekommen, um ihn zum Bau der Antriebsmechanik unter Vertrag zu nehmen.
Dieser Vertrag hatte zwei Konsequenzen. Erstens wurden Johan und Sara le Roux reich. Nicht über Nacht und nicht ohne Mühen, denn der Staat ist ein unangenehmer Kunde, und es bedurfte vieler Stunden Blut und Schweiß. Aber über fast dreißig Jahre wurde Le Roux Engineering zu einer Firma mit |60|drei riesigen Werkstätten und einem Gebäude in Johannesburg nur für Forschung, Verwaltung und Management.
Die zweite Konsequenz bestand darin, dass sie bis 1972 warten mussten, bevor sie an ein weiteres Kind denken konnten. In diesem Jahr wurde Emma le Roux geboren. Am 6. April, einem Geburtstag, den sie damals mit der gesamten Republik teilte.
»Dann zogen sie nach Johannesburg, damit mein Vater nicht mehr so viel reisen musste …«
Mein Gefühl war, dass sich das große Geld nicht länger im Grau der Mittelklasse von Vanderbijl Park zu Hause fühlte. Linden war die Gegend der aufstrebenden, wohlhabenden Afrikaaner in jenen Tagen.
»Dort bin ich aufgewachsen«, sagte Emma und vollführte eine entschuldigende Bewegung mit der Hand, die sagen sollte: »Es war mein Schicksal.« Ich konnte sehen, dass die Schwere von ihr gewichen war, als hätte es sie irgendwie befreit, ihre Geschichte zu erzählen. Sie lächelte ein wenig unsicher und sah auf die Uhr. »Morgen müssen wir früh aufstehen.«
Wir gingen. Die Nacht war ein Brutkasten voll Hitze und Feuchtigkeit. Weit im Westen war ein Gewitter zu sehen. Während wir den hell erleuchteten Pfaden zurück zur Bateleur-Suite folgten, dachte ich über ihre Geschichte nach. Ich fragte mich, ob sie je an die Quelle ihres Wohlstandes dachte, erarbeitet auf dem Fundament der Apartheid und internationaler Sanktionen und mittlerweile politisch vollkommen inkorrekt. Geschah es aus Schuldbewusstsein, das sie solche Betonung auf die ursprüngliche Armut ihrer Eltern legen ließ?
War die Herkunft ihres Wohlstandes der Grund, dass sie einen Beruf hatte und nicht nur von den Zinsen lebte?
In unserer Suite bat ich sie, ihr Schlafzimmer von innen zu verriegeln. Ein schlechter Rat, wie wir bald herausfinden sollten.
Mein Handy piepste in meiner Tasche. Ich wusste, dass es Jeanette Louws tägliche ALLES OKAY?-Nachricht war. Ich |61|zog es heraus und schickte wie üblich zurück: ALLES OKAY. Dann umrundete ich noch einmal das Gebäude, bevor ich zu Bett ging. Meine eigene Schlafzimmertür ließ ich offen. Ich lag in der Dunkelheit und wartete auf den Schlaf. Nicht zum ersten Mal dachte ich über die Vorteile einer harmonischen Familiengeschichte nach.