Wir kommen wieder, keine Frage!

»Sind mit Freunden nach Polen. Aber rechtzeitig zum Essen zurück. Mach dir bloß keine Sorgen, Papa. Haben Dich lieb!!! J.+E.«

Einen hingekritzelten Zettel diesen Inhaltes fand Kai van Harm im Zimmer seiner Kinder vor, als er sie um elf für das Frühstück wecken wollte. Sie mussten sich also noch vor halb acht, dem Zeitpunkt, als Bruno an der Tür geläutet hatte, aus dem Haus geschlichen haben. Dass sie auf diese Weise den ersten Tag nach ihrem Hausarrest begehen wollten, schmeckte ihrem Vater keinesfalls.

Auch Bruno Zabel hatte sich gleich nach seinem großen, fast episch zu nennenden Bericht über die Ereignisse des letzten Abends wieder verabschiedet. Wahrscheinlich hielt er bereits nach neuen Begebenheiten Ausschau, die er Kai später wieder ofenfrisch auftischen konnte. Hockte mit seinem Feldstecher in irgendeinem Graben oder saß in der Krone eines Baumes, um stets dann wie ein Deus ex Machina einzuschreiten, wenn das Geschehen seine ziemlich klaren Maßstäbe von Gut und Böse, von Moral und Anstand zu unterschreiten drohte.

Eigentlich hatte sich Kai vorgenommen, Brunos Geschichte von der nächtlichen Prügelei in seine Reportage einzufügen. Doch der Brief seiner Kinder machte ihn so nervös, dass er sein Notebook gar nicht erst aufklappte, weil er wusste, dass er sich ohnehin nicht würde konzentrieren können.

Er versuchte sich durchs Telefonieren zu beruhigen. Seine größte Hoffnung war Bruno, der doch immer wusste, wer mit wem unterwegs war, aber Bruno hatte sein Handy ausgeschaltet. Auch Constanze war nicht zu erreichen. Vor lauter Glück oder wegen technischer Probleme, wer konnte das schon sagen? Wer wollte das schon wissen?

Van Harm schlüpfte in seine Sportsachen und schwang sich aufs Rad. Vielleicht hatte im Dorfkern von Altwassmuth jemand Janne und Erik gesehen. Vielleicht waren die Freunde, mit denen sie nach Polen gefahren waren, ja Annalena Petzold und Benjamin Pagel und nicht die Satansbraten Karol Dommasch und Felix Jagoda. Als er an Letzteren dachte, überfiel ihn ein Schaudern. Was, wenn der die sadistische Ader seines Vaters geerbt hatte? Immer vorausgesetzt, Bruno hatte ihm keinen Bären aufgebunden. Aber warum hätte er das tun sollen?

Um solche Gedanken abzuschütteln, trat Kai beherzter in die Pedale und kam deshalb schnell zu jener Stelle, an der Felix’ Vater gestern seine bürgerliche Contenance verloren hatte. Das schmale Wiesenstück der Feldbegrenzung war hier niedergetrampelt, genauso wie die Böschung am Drainagegraben. Überall lagen kleine Splitter herum und Fetzen aus Stoff oder Papier. Den schlimmsten Anblick aber bildeten einige dunkle, rostrote und viel zu große Flecken, die wie mit einem riesigen tropfenden Pinsel hingekleckert schienen. In der Mitte der größten dieser Flecken, wo es noch feucht war, saßen ein paar dicke Fliegen, rieben sich die dünnen Beinchen und taten ansonsten, was immer sie da tun mussten.

Kai schluckte runter, was gerade dabei war, in ihm aufzusteigen, hielt die Luft an und strampelte, statt zu atmen, einfach noch ein bisschen schneller.

Schon von Weitem sah er, dass die Sache mit dem schwarzen Block noch nicht ausgestanden war. Vor der Kirche parkte ein großer Reisebus aus Frankfurt Oder, doppelstöckig, mit Klimaanlage und WC. Der Pope – und van Harm nannte ihn ganz bewusst so – hatte es sich also nicht verkneifen können, einen Luxusbus für die verzogene Bande anzumieten, der sie zum Regionalexpress in die Kreisstadt brachte.

Aber wie gesagt, noch waren sie nicht weg. Vielmehr waren sie gerade dabei, sich in Blockformation am Rand der Bundesstraße aufzustellen. Das Fronttransparent war schon entfaltet, und van Harm sah, dass die erste Reihe dahinter aus jenen sechs jungen Männern bestand, denen die Bürgerwehr letzte Nacht das Fürchten beigebracht hatte. Sie hatten blaue Augen und geschwollene Lippen, trugen riesige, weiß in die Gegend leuchtende Kopfverbände. Der eine hatte den bandagierten Arm in einer Schlinge, der andere humpelte an zwei Krücken, und einem Dritten waren mit groben Stichen die geplatzten Augenbrauen genäht. Heute noch mehr als gestern, nach dem Gewaltmarsch von acht Kilometern, ähnelte die Berliner Truppe einer geschlagenen Armee, denn heute komplettierten ihre Kriegsverletzten, was bisher zum vollständigen Bild gefehlt hatte.

Kai stieg vom Rad, und während er es Richtung Kirche schob, vor der Pfarrer Pagel stand und noch jemand, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, finster guckte und auch ansonsten aussah wie ein Busfahrer, setzte sich der Zug der Demonstranten in Bewegung.

Sie liefen langsam, denn die Versehrten in der ersten Reihe gaben das Tempo vor. Sie liefen sogar sehr langsam. Sie schleppten sich einmal von der Kirche zur Bushaltestelle und dann wieder zurück. Sie zündeten Polenböller an und bewarfen damit die Autos, die hupend auf der Bundesstraße standen und auf ihre Weiterfahrt warteten. Sie warfen Polenböller in die Handvoll Vorgärten, an denen sie vorbeimarschierten, wenn sie sahen, dass jemand hinter den Gardinen stand und sie beobachtete.

Und nicht zu vergessen: Sie skandierten eine Parole, eine einzige heute nur, die eine klare Botschaft enthielt und weithin vernehmbar war:

»Heute ist nicht alle Tage,

Wir kommen wieder, keine Frage!«

»Na, hoffentlich bleiben sie lieber weg«, sagte der Pfarrer zu Kai van Harm, als der Bus endlich am Horizont verschwunden war.

»Die sehen wir so schnell nicht wieder, wenn wahr ist, was die Spatzen von den Dächern pfeifen.«

»Was pfeifen sie denn?« Der Pfarrer sah ihn neugierig an. Scheinbar schien er nichts von dem zu wissen, was Bruno Kai heute Morgen erzählt hatte.

»Na so dies und das. Kindereien eben. Der übliche Tratsch, die üblichen Gerüchte.«

»Ah ja«, sagte der Pfarrer, ohne seinen stechenden Röntgenblick von Kai abzuwenden.

»Ja.«

»Wissen Sie, was das Seltsamste ist? Angeblich will keiner von denen gesehen haben, wer sie denn nun verprügelt hat. Die reden sich alle auf den Alkohol raus und auf Gedächtnislücken. Keiner von denen will Anzeige erstatten, auch nicht gegen unbekannt.«

»Das klingt wirklich seltsam.«

»Nicht wahr?«

»Ja.«

»Oder finden Sie nicht?«

»Doch, durchaus«, sagte Kai. »Vielleicht haben die ja selber Dreck am Stecken, der nur aufwirbeln würde, wenn sich die Polizei einmischt?«

»Die Polizei? Sich einmischt?«

»Na, sich einschaltet meinetwegen.«

»Wer weiß, wer weiß«, sagte Pfarrer Pagel, »wollten Sie eigentlich zu mir?«

»Ja«, sagte Kai und erzählte, dass er seine Kinder suche, die ihm eine Nachricht hinterlassen hätten, dass sie mit Freunden in Polen seien.

»Jedenfalls nicht mit Benny und nicht mit Lenchen«, sagte der Pfarrer. »Die stehen in der Küche und waschen ab. Als kleine Buße. Dafür.« Er nickte gegen den Horizont, dorthin, wo vor ein paar Minuten der Luxusbus mit dem schwarzen Block aus Berlin verschwunden war.

»Fragen Sie doch mal bei Harald Dommasch nach. Das weiße Haus die Straße runter, gleich hinter der Feuerwehr. Der Karol dürfte schon eher nach dem Geschmack Ihrer Zöglinge sein. Wenn es stimmt, was die Spatzen von den Dächern pfeifen«, sagte der Pope und malte dabei unsichtbare Gänsefüßchen in die Luft. Dann drehte er sich um und lief, ohne sich verabschiedet zu haben, an der Kirche vorbei zum Pfarrhaus rüber.

Arschloch, dachte van Harm. Warum hat der eigentlich immer so eine verdammt gute Laune? Ist denn nicht eben erst seine Frau verbrannt? Ist es wegen Gott? Weil einem sowieso alles Wurst ist, wenn man an IHN glaubt? Oder gibt es einen anderen Grund? Ist er vielleicht sogar froh, Frau Pagel losgeworden zu sein? Arschloch!