Jugend forscht. Nicht

Nicht nur die Frauen Altwassmuths waren der informellen Dorfversammlung im Deutschen Haus ferngeblieben, die doch letztendlich nichts anderes gewesen war als die Geburtsstunde von Winfried Jagodas Bürgerwehr, sondern auch der Pfarrer, Herr Pagel, hatte es vorgezogen, die Veranstaltung zu meiden. Und das nicht etwa aus Gleichgültigkeit oder weil ihn die Trauer um seine Frau niederdrückte, sondern weil er außer ein höchst religiöser Mensch auch noch ein Demokrat aus tiefstem Herzen war. Jemand, für den eine Bürgerwehr nicht etwa ein Ausdruck der Demokratie war, sondern das genaue Gegenteil. Jemand, der an die Gewaltenteilung glaubte. An Polizei und Justiz und nicht an Anarchie und an das Walten von Lynchmobs.

Das alles erfuhr Kai van Harm von Pfarrer Pagel höchstpersönlich, als er am nächsten Tag an der Haltestelle auf den Morgenbus in die Kreisstadt wartete. Kai wollte etwas Bargeld holen, ein wenig durch die Fußgängerzone bummeln, in ein Restaurant einkehren, kurzum: Stadtluft schnuppern. Was angesichts der Größe dieses Kreiskäsekaffs schon komisch klang. Sich von den Störchen erholen natürlich, von ihrem Anblick und ihrem Geklapper, und auch für ein paar Stunden die mistige Landluft aus dem Kopf kriegen. Eine überregionale Tageszeitung kaufen vielleicht und deren Feuilleton bis zum letzten Wort auslesen. Überhaupt: ein wenig allein sein, ohne die Kinder und ohne Bruno Zabel, der ihm manchmal schon wie ein Schatten vorkam.

Doch kaum hatte van Harm sein Fahrrad an der Haltestelle abgeschlossen und sich auf die Wartebank gesetzt, war der Pfarrer um die Ecke gebogen und hatte sich vorgestellt. Gerade so, als habe er auf ihn gewartet.

Pagel sagte, dass er trotz des Schicksalsschlags nicht gedenke, seine Aufgabe als Hirte zu vernachlässigen. Dass auch seine so tragisch verunglückte Frau dies mit Sicherheit so gewollt hätte. Dass er bemerkt habe, dass Kai nun schon für eine längere Zeit im Ort wohne. Dass er einige von Kais Rezensionen und Artikeln gelesen habe, seit einiger Zeit aber nichts mehr von ihm habe finden können. Dass er ihn recht herzlich zum Gottesdienst einlade. Dass er, wie Kai vielleicht aufgefallen sei, gestern nicht auf der Versammlung gewesen war, wofür er aber sehr gute Gründe habe. Was wiederum eine Art Stichwort war, um van Harm anschließend minutenlang mit mittelmäßigen Ansichten über Moral und Demokratie zu langweilen. So palaverte jeder Landtagsabgeordnete, hielt man ihm nur lange genug ein Mikrofon unter die Nase. Oder vergaß man, es ihm rechtzeitig wieder zu entziehen. Erst die Ankunft des Busses konnte den Sermon des Popen unterbrechen. Das Zischen der hydraulischen Türen klang wie ein Seufzer der Erleichterung: Pfffhhh!

»Tragisch verunglückt, hatta jesagt?«

»Äh ja, ich glaube schon.«

»Und wissen Se, wer ooch nich uff der Versammlung war?«, fragte Bruno, als sie nach einem improvisierten Abendbrot im Hof saßen und ein erstes Bierchen zischten.

»Allerdings«, sagte van Harm. Er hatte, als er am Nachmittag von seiner kleinen Stadtreise zurückgekommen war, Bruno Zabel auf seiner Türschwelle sitzend vorgefunden. Bruno hatte in der Märkischen-Oder-Zeitung gelesen, und er hatte nicht nur sich selbst mitgebracht, sondern auch eine Kühltasche voller Bier und Lebensmittel, die er gern Fressalien nannte. Komischerweise hatte Kai sich durchaus über Brunos unangekündigten Besuch gefreut. Und er hatte sich auch gefreut, in der warmen Nachmittagssonne den Feldweg von der Altwassmuther Bushaltestelle nach Zirnsheim zurückzuradeln. Froh, der Kreisstadt entkommen zu sein, in der es, bis auf ein paar Möglichkeiten zum Konsum, noch weniger zu entdecken gab als auf dem Land. Ihn hatte die Geschäftigkeit der landwirtschaftlichen Maschinen gefreut, die über die Äcker und Felder fuhren, der Staub, den sie dabei aufwirbelten, und die langen Schatten, die sie warfen. Nicht einmal die Störche hatten ihn mehr gestört. Eine Frage allerdings hätte ihm die gute Laune fast verschattet: War er jetzt schon einer von ihnen geworden, von den Altwassmuthern, war er jetzt ein Brandenburger Hinterwäldler, ein Dorftrottel?

»Allerdings weiß ich es«, setzte van Harm ein zweites Mal an, um Brunos Frage zu beantworten, »der Förster war nicht da, und es war niemand da vom Künstlerheim, weder die Direktorin …«

»… Frau Doktor Sommer-Born …«, ergänzte Bruno den Namen.

»… noch die falsche Russin …«

»… die anjeblich Tatjana Malenkova heißt.«

Sie sahen sich an und mussten gleichzeitig loslachen: »Wie Sherlock Holmes und Dr. Watson«, sagte Kai und prostete Bruno zu.

»Wie Pat und Patachon«, sagte Bruno und trank einen tiefen Schluck.

»Wie Stan Laurel und Oliver Hardy.«

»Wie Hurvínek und Spejbl.«

»Wie Don Camillo und Peppone.«

»Wie Lolek und Bolek.«

»Wie Hase und Igel.«

»Wie Hase und Wolf«, prustete Bruno los und hieb Kai mit voller Wucht seine Ex-Piloten-Pranke auf den Rücken.

Als Bruno um halb eins nach Hause ging, klappte Kai am Gartentisch noch einmal sein Notebook auf. Er öffnete das Dokument, das er für seine neue Reportage erstellt hatte, begann zu tippen, und bevor er es wenig später wieder schloss, konnte man auf dem Bildschirm für einige Minuten lesen:

Satans Jünger und brennende Kirchen –