Lebendige Demokratie

Wolf Kretzschmer, der national-chauvinistische Wirt des Deutschen Hauses, saß an einem winzigen Tisch neben der doppelten Eingangstür zu seinem Festsaal. Auf dem Tisch stand ein mit Münzen gefüllter Suppenteller, sonst nichts.

»Mensch, Wolf, du kassierst hier doch nicht allen Ernstes ’nen Euro von den Leuten ab«, sagte Bruno, als er und van Harm kurz vor neun Einlass zur Dorfversammlung begehrten, die in wenigen Minuten beginnen sollte.

»Ick hab die Unkosten«, sagte Kretzschmer und grinste.

»Du hast doch vor allem den Jetränkeumsatz«, sagte Bruno.

»Aber ooch die Unkosten.« Diesmal war sein Grinsen noch breiter. »Außerdem leben wa nich mehr in deim Kommunismus, Bruno, jewöhn dich lieber mal langsam dran.«

»Dazu allerdings is dit letzte Wort noch nich jesprochen«, erwiderte Bruno und ließ ein Eurostück in den Teller fallen. Kai tat es ihm nach.

Sie fanden zwei Plätze in der Mitte der vielleicht zwanzig Stuhlreihen, die schon gut gefüllt waren. Zwei Frauen mittleren Alters, die Kretzschmer für den Abend angeheuert hatte, verteilten von Tabletts herunter Getränke und Bierdeckel, auf die sie Striche machten. Bruno orderte zwei Pils auf seinen Deckel.

Die Luft war rauchgeschwängert, van Harm begannen die Augen zu tränen, ein Hustenreiz setzte sich in seinem Hals fest und ließ sich auch mit mehreren Schlucken Bier nicht wegspülen: »In Berlin ist Rauchen verboten.«

»Hier ooch. Aber wo’s keine Kontrolle jibt, da jibt’s ooch keene Jesetze, wa?«, sagte Bruno, und man wusste nicht, ob er das bedauerte oder eher nicht.

Wenig später trat Kretzschmer auf die Bühne, ein Glöckchen in der Hand, das er kurz läutete, und erklärte die Versammlung für eröffnet.

Der erste Dorfbewohner trat auf die Bühne und sagte ein paar Worte. Irgendwer aus dem Publikum schrie: »Lauter!«

Der Mann auf der Bühne artikulierte drei, vier Worte klar, laut und deutlich, und fiel dann wieder zurück in das unverständliche Ursprungsgenuschel, das er allerdings mit hingebungsvollen Gesten begleitete. So, als müsse er einen Bienenschwarm verscheuchen.

Ein nächster Zuhörer brüllte: »Jibt’s denn keen Mikro oda wat?«

Der Dritte: »Nee, Mikro jibt’s nich!«

Der Vierte: »Ick versteh hier hinten kein einzjet Wort.«

Der Fünfte: »Haltet do’ ma die Fresse!«

Der Nächste: »Der Pope hat do’n Mikro.«

Der Übernächste: »Is do’ allet vabrannt, dit janze Jelumpe vom Popen.«

Und so weiter.

Auf diese Art vergingen drei Wortbeiträge, und Kai merkte, wie müde er war. Dass er kaum noch die brennenden Augen offen halten konnte. Wie sehr ihm jetzt das unfreiwillige frühe Aufstehen in den Knochen steckte. Auch Bruno neben ihm wirkte alles andere als frisch. Er gähnte in einer Tour.

Plötzlich aber wurde es merklich ruhiger, das Murmeln der Zuhörer erstarb, die letzten Störer wurden niedergezischt.

Bruno dagegen stöhnte leise auf: »Er nu wieder!«

Der jetzt zur Bühne vorging, war selbstsicher, das sah man. Jeder Schritt ließ das abgewetzte Parkett erbeben. Als der Mann die Bühne geentert hatte und sich dem Publikum zuwandte, erkannte auch van Harm, wer es war: Winfried Jagoda, der zugezogene Schweinezüchter. Der, schenkte man Bruno Zabel Glauben, so etwas wie der informelle Pate der vereinigten Gemeinde von Altwassmuth war. Oder vielmehr: sein wollte. Der Arbeitsplatzschaffer und alleinerziehende Vater. Der Macher und … weiß der Geier, was er sonst noch alles darstellte.

»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger«, begann Jagoda im pathetischen Tonfall eines Provinzpolitikers seine Ansprache, obwohl Kai so gut wie keine Frauen im Saale erkennen konnte. Abgesehen von den beiden Aushilfskellnerinnen vielleicht.

Aber was folgte, war dann doch nicht sonderlich originell, eine lahme Aufzählung der Begebenheiten, die Altwassmuth in Atem hielten. Kai stellte seine Ohren auf Durchzug und kämpfte weiter tapfer gegen den Schlaf. Einmal sank er sogar gegen Brunos Schulter, ganz kurz nur. Zabel aber tat, als habe er die kleine Entrückung nicht bemerkt.

Er hörte erst wieder richtig zu, als Winfried Jagoda auf der Bühne offenbar zum Höhepunkt gelangte. Seine Stimme schwoll an, sein Körper schien voluminöser zu werden, so als blase er sich von innen her auf, und er schrie in allerbester Parteitagsmanier: »Und deshalb fordere ich euch auf: Tragt euch in die Liste ein. Denn das ist gelebte Demokratie! Nichts anderes ist das. Gelebte Demokratie!« Auch Jagoda fuchtelte während seiner letzten Worte herum. Anders als beim Bienenmann vorhin sah das bei ihm aus, als wolle er mit der blanken Faust einen Nagel in einer Wand versenken.

Unter recht großem, aber keinesfalls tosendem Beifall trat Winfried Jagoda ab.

»Was ist gelebte Demokratie?«, fragte Kai und rieb sich die Augen.

»Die Liste«, sagte Bruno.

»Was für eine Liste?«

»In die man sich eintrajen kann, wenn man bei die nagelneue Bürgerwehr vom Schweinepriester mitmachen will.«

»Was denn: so richtig mit Fackeln und Mistgabeln?«

»Woll’n Sie mir veräppeln?«, fragte Bruno in strengem Ton, musste dann aber auch grinsen.

»Hat sonst noch wer wat zu sajen?«, brüllte jetzt vorne Wolf Kretzschmer los. »Ansonsten tragt euch alle in die Liste ein, und wir jehn langsam mal zum jemütlichen Teil der Veranstaltung über.«

»Ja, ich!«

»Dit jib’s do’ nich«, sagte Bruno und stieß Kai in die Seite. »Mannometer: Die Kleene hat Mumm.«

Es war also doch eine Frau im Publikum gewesen, und diese betrat jetzt mit sicherem Schritt die Bühne: Es war niemand anderes als Frau Wurst.

»In der Höhle des Löwen, oder?«, sagte Kai.

»Dit will ick meinen.«

»Bevor wir hier eine Bürgerwehr gründen und vielleicht sogar Selbstjustiz verüben, sollten wir uns mal an die eigene Nase fassen«, begann Frau Wurst zu sprechen, und man konnte sie deutlich hören, weil es schien, als hätte das gesamte männliche Publikum den Atem angehalten. Kein Glas klirrte, niemand räusperte sich oder zog die Nase hoch. »Wie wäre es denn, wenn sich gewisse Herrschaften um ihren eigenen Nachwuchs kümmern würden, statt Listen ausfüllen zu lassen? Vielleicht würden sich die Probleme unseres Dorfes ja von selbst lösen«, rief Frau Wurst. Ihr rechter Zeigefinger war während des Wortes Nachwuchs urplötzlich aus ihrer Faust herausgeschnellt und wies nun, da sie sich eine kleine Pause gönnte, noch immer in die Tiefe des Saales. Das Publikum drehte sich nach hinten um, einige standen auf, um besser erkennen zu können, auf wen Frau Wurst deutete. Auch Kai und Bruno erhoben sich und starrten in die linke hintere Saalecke.

Da standen zwei hochgewachsene junge Männer, schwarz gekleidet, blass und mit dunklen Augenringen, deren schwarz gefärbte, lange Haare die hageren Gesichter einrahmten. Beide trugen nietenbesetzte Hundehalsbänder. Vielleicht einen halben Schritt hinter ihnen, einen halben Kopf kleiner, blond und zwei, drei Jahre jünger und mit etwas feineren Gesichtszügen ausgestattet, stand ein weiterer schwarz gekleideter Junge. Und nein, Frau Wurst war doch nicht die einzige Frau im Publikum, denn neben dem blonden Jungen stand seine ebenfalls schwarz gekleidete Schwester, und auch sie hatte sich ein Hundehalsband eng um die Kehle gelegt, und, was noch befremdlicher war, auch ihre Haare waren schwarz gefärbt.

Kai merkte, dass ihn Bruno verstohlen von der Seite ansah und dass ihm das Blut in den Kopf schoss. Er ließ sich schnell auf seinen Stuhl zurückfallen. Blond und als halbes Kind noch hatte Janne am Vormittag das Haus verlassen, und jetzt am Abend war sie schwarzhaarig und trug Nieten um den Hals. Kai musste an Constanze denken, verscheuchte deren Bild aber rasch wieder aus seinem Kopf und überlegte stattdessen, ob sich schwarz gefärbte Haare noch einmal blond überfärben ließen, ohne dass die Haare brachen, aber noch ehe er das Für und Wider einer solchen Maßnahme abwägen konnte, setzte Frau Wurst ihre Ansprache fort: »Das dort also ist die feine Brut, die unter uns heranwächst. Die wir an unserem Busen nähren. Der Nachwuchs vom Bürgermeister und vom größten Arbeitgeber in unserem Dorf. Und da tun wir uns noch wundern, dass hier die Kirchen brennen und die Ruhe unserer Toten gestört wird? Pfui Deibel!«

»Jetz mach aba mal nen Punkt, Else!« Das kam von Bruno, der neben Kai aufgesprungen war, und mit seinem Zwischenruf vermutlich verhindern wollte, dass Frau Wurst sich vollends um Kopf und Kragen redete.

»Ich bin sowieso fertig«, sagte Frau Wurst und verließ gleich darauf die Bühne.