Neukölle Alaaf!

Familie, Karriere, Altersabsicherung? Pah! Plötzlich waren das alles nur noch Worthülsen aus einer anderen Sphäre, aus einer Parallelwelt der Sorglosigkeit. Fremdwörter geradezu. Genau so wie Loup de Mer, Fleur de Sel, Piment de Espelette, Noilly Prat oder Haut Medoc. Die Zahl der Wörter, die sich ihm entfremdeten, wurde allmählich Legion. Und sie wuchs täglich. Dabei war es gar nicht so, dass nur arme Schweine im Viertel lebten. Van Harms Nachbarin zur Rechten auf der Etage war beispielsweise Arzthelferin, seine Nachbarin zur Linken studierte Biologie. Beide waren sie Mitte zwanzig.

Die eine adrett, perfekt frisiert, pinkfarbene Strähnchen im messerscharf geschnittenen Kurzhaar, gezupfte Augenbrauen, kleine Tätowierung am Fußknöchel: die Fee Naseweis aus dem Peter-Pan-Trickfilm, den er früher manchmal mit Janne zusammen angesehen hatte, als sie noch fünf Minuten am Stück still sitzen konnte. Nachgedunkelter Teint, stets duftend, immer gut gelaunt bis zur Schmerzgrenze. Und so stark berlinernd, dass van Harm, obwohl er selbst in der Stadt geboren war, quasi die Ohren bluteten, wenn sie bei ihm klingelte, um sich Eier, Salz, Senf, Mehl, Spaghetti, Brot, Butter, Spül-und Waschmittel oder einfach eine Flasche Mineralwasser zu borgen, und ihn dann zwischen Tür und Angel in einen halbstündigen Plausch verwickelte, der sich um alles und nichts drehte.

Die andere unmittelbare Nachbarin, die Studentin zu seiner Linken, von eher dezentem, zufälligem Schick, dunkel gekleidet in wertvolle, schwere Stoffe, straffer Pferdeschwanz, artig grüßend, war eine sympathische Tochter aus der süddeutschen Provinz. Und wann immer van Harm ihr im Treppenhaus begegnete, schickte er ein heimliches Stoßgebet gen Himmel, dass seine eigene Tochter Janne, wenn sie eines Tages die Höllenkreise der Pubertät durchschritten hätte, ihr auch nur zu einem Drittel ähneln möge. Besser noch zur Hälfte.

Das Haus, in dem van Harm seit Januar in zwei nicht allzu geräumigen Zimmern zur Miete wohnte, sah von außen nicht weniger bürgerlich aus als jenes am Kreuzberger Kanalufer, das er verlassen hatte. Es war ockerfarben statt weiß und hatte statt eines glatten Verputzes einen rauen, in dessen Klüften und Unebenheiten sich eine sichtbare Schicht aus Staub und Ruß angelagert hatte. Es besaß keinen Vorgarten, und es standen keine Bäume davor, so wie es in der ganzen Straße keine Bäume gab, überhaupt: gar kein Grün.

In Neukölln liefen die Leute herum, die in seinem alten Kreuzberger Kiez bettelnd vor den Supermarkttüren gekauert hatten. Von Jahr zu Jahr waren es mehr geworden. An manchen warmen Tagen hatten sie in Reihe vor dem Eingang gesessen. So dass van Harm unweigerlich die Dreigroschenoper in den Sinn gekommen war.

Van Harm, der stets ein wenig gegeben hatte – wenn er guter Laune war, sogar einen vollen Euro –, hatte sich immer gefragt, aus welchen Löchern all diese abgerissenen Typen mit ihrem gesenkten Blick und ihren leeren Kaffeebechern aus Pappe gekrochen waren und mehr noch, wo sie hingingen, wenn der Supermarkt schloss. Und hier kamen ihm diese Leute plötzlich auf der Straße entgegen, humpelnd, manchmal torkelnd, stets mit prall gefüllten Plastiktüten beladen, deren Inhalt sie an den Flaschenautomaten der Discounter in Pfandbons umwandelten. Und obwohl van Harm wusste, dass die Leute nicht gut rochen, dass sie oft aggressiv waren und obendrein undankbar, wandte er das Gesicht nicht ab, kreuzten sich seine Wege mit einem von ihnen. Oder stellte sich an der Kasse, wenn alle anderen Kunden genau diese Schlange mieden, demonstrativ hinter einen dieser Penner, und wenn er Glück hatte, stank dieses Exemplar dann nicht mal nach Urin. Aber ob das Südneuköllner Pfandflaschengesindel tatsächlich identisch war mit den Supermarktbettlern des Kreuzberger Wrangelkiezes, konnte van Harm natürlich nicht sagen.

Solche Überlegungen zu den personellen Überschneidungen in den Milieus entsprangen lediglich irgendwelchen Kapriolen seines beschäftigungslosen Verstandes. Den es nach einem Jahr ohne Herausforderung ja durchaus noch gab. Den er ja nicht zurückgelassen hatte in der Eigentumswohnung am Kanalufer, obwohl sich sein Verstand dort zweifellos wohler gefühlt hatte. Es ließ sich durchaus angenehmer denken, lief man währenddessen über ein frisch geschliffenes Fischgrätparkett, anstatt über ein räudiges Linoleum, das einem beim Darübergehen unter den Pantoffeln quietschte.

Türken und Araber, die Constanze quasi von Berufs wegen mochte, gab es hier zuhauf. Die richtigen! Aus den Kreuzberger Straßen in Ufernähe waren sie nach und nach verschwunden. Als seien sie ausgestorben. Dabei waren sie nur zurückgedrängt worden, vermutlich in die Reservate rund ums Kottbusser Tor oder in eine der lauten Ausfallstraßen, an deren einer auch sein Büro gelegen hatte, bevor es hochgegangen war. So wie es Ureinwohnern eben immer erging, wenn die materiell und technisch überlegenen Konquistadoren erst einmal begannen, ihr seit Ewigkeiten angestammtes Land attraktiv zu finden, um es dann schleunigst in Besitz zu nehmen.

Wenn Constanze von Türken oder Arabern sprach, hatte sie immer den alten Herrn Bigül aus dem Feinkostladen vor Augen oder seine Tochter Hatice, die sie noch als Schulmädchen kannte und die jetzt ein Haus weiter der heimeligen Familienbäckerei vorstand. Oder ihre Änderungsschneiderin, deren Namen van Harm nicht mehr wusste. Vielleicht noch die beiden Kollegen aus ihrer Fraktion, die sie einmal zum Essen eingeladen hatte. Die zwar schwarze Haare trugen und türkische Namen, aber bei den Gattinnen hörte es dann auch schon wieder auf. Beide waren sie mit deutschen Frauen verheiratet, und als wäre das nicht schlimm genug, waren die beiden Furien auch noch blond. Aber was hieß schon schlimm? Schlimm war da natürlich nichts dran. Höchstens aus türkischer Sicht. Aus der Sicht eines traditionellen türkischen Vaters zum Beispiel, so wie sich van Harm vorstellte, dass Herr Bigül einer war. Und Hatice trug ja auch immer dieses geblümte Kopftuch hinter der Verkaufstheke. Wobei van Harm nicht ausschließen konnte, dass es wegen der Hygiene war. Damit man kein Haar im Brot fand. Auf der Straße hatte er sie allerdings noch nie getroffen, konnte also nicht mit Sicherheit sagen, ob sie es wegen der Hygiene trug oder aus religiösem Wahn.

Was hieß schon Wahn? Aus … aus religiöser Überzeugung.

Oder hatte van Harm sie etwa doch schon einmal auf der Straße getroffen, und dann – bloß nicht erkannt? Möglicherweise, weil sie dort kein Kopftuch getragen hatte. Oh müßige graue Zellen!

Abgesehen von den auswendig gelernten Phrasen aus dem Handbuch Der Guten, mit denen sie auf jede von Kais politischen Provokationen reagierten (und die er alle schon bis zum Erbrechen kannte, weil auch Constanze diese Phrasen im Repertoire hatte und aus dem Eff-eff zum Besten geben konnte), waren ihm die Fraktionskollegen seiner Frau am jenem Abend vorgekommen wie zwei Reinickendorfer Kleingärtner, die nur gerne ein andersfarbiges Haupthaar auf dem Skalp gehabt hätten. Ein blondes zum Beispiel. Zur Not auch brünett. Sogar kupferfarben, wenn’s denn sein musste. Optional buschige Koteletten dazu wie der späte John Lennon.

Kai dagegen hatte schon immer Respekt gehabt vor den Türken, vor den Arabern. Überhaupt: vor der ganzen Nahost-Mischpoke, einschließlich Nordafrika und Vorderer Orient. Nicht Respekt in jenem Sinne, dass er schätzte, was die Angehörigen dieser Stämme machten. Von Zeit zu Zeit tat er sogar das. Wenn er eine gute Falafel-Bude entdeckt hatte etwa, wo es frischen Hummus und Petersiliensalat gab. Und knuspriges Sharwama im Fladenbrot mit Backkartoffeln und scharfer Mangosauce, Zitronenjoghurt und ein paar Blättern Minze. Dann pries er gerne und empfahl, dass sich die Balken bogen. Sondern Respekt im Sinne von Angst. Machte sich eben besser, wenn man sagte: Respekt haben. Das klang nicht so feige. So feige, wie man im Grunde war.

Zugegeben: »Stämme« hörte sich auch seltsam an, irgendwie nach neunzehntem Jahrhundert, irgendwie reaktionär.

Vor den Frauen hatte er natürlich keinen Respekt, ob mit oder ohne Schleier. Das heißt natürlich: keine Angst.

Schleier oder nicht: Das war ihm sowieso egal, seinetwegen auch bis zu den Knöcheln und schwarz wie die Nacht. Mit einem vergitterten Sehschlitz, aus dem die funkelnden Augen böse Blitze auf die Ungläubigen feuerten. Van Harm doch schnuppe. Alles noch im Rahmen, Religionsfreiheit und so weiter. Auch vor den älteren Herren fürchtete er sich nicht. Vor denen, die alle ein bisschen wie der nette Herr Bigül hinter seiner Oliven-und Schafskäseauslage aussahen, mit Schnauzbart, Jackett und Schiebermütze. Kariertes Hemd nicht zu vergessen. So wie man sich vorstellte, dass sie in den Sechzigern frisch aus Anatolien eingetroffen waren und zuerst mal ein bisschen hilflos auf dem Bahnsteig herumgestanden hatten, Köfferchen unterm Arm, bevor dann die deutschen Beamten kamen und sie an die Hand nahmen. Im übertragenen Sinne. Und sie auf die Fabriken verteilten und auf die Wohnheime in den heruntergekommenen Stadtteilen an der Mauer, die – haste nich jesehn – fünfzig Jahre später plötzlich die begehrten waren.

Ein bisschen schon wie Karikaturen, aber wie liebevoll gemeinte, niedliche. Oder, wenn sie die buschigen Augenbrauen hochzogen und die Stirnen kraus wie die Figuren aus einer Undercover-Reportage von Günter Wallraff. Also wie Günter Wallraff selbst. Das heißt: verkleidet und präpariert. Wie der Hinterwäldlerischste derer vom Bosporus, den sich ein deutscher Eingeborener in den siebziger Jahren vorstellen konnte. Ein so genannter Autochthoner. Ein völlig vertrottelter.

Nun: Angst hatte er nur vor den Jungen, die hier, häufiger als in Kreuzberg, laut krakeelend um den Block zogen. In Banden von zehn, zwanzig, manchmal sogar von noch mehr Burschen. Die ihre Hosen in die Tennissocken stopften, rasierte Zickzackmuster in den Haaren hatten und, was van Harm bemerkenswert fand, nicht nur häufig in weißen, manchmal sogar rosa Sachen steckten, in aufgeblasenen Blousons oder weiten Hosen aus Fallschirmseide, sondern oft Brauen über den finster blickenden Augen trugen, die ebenso akkurat zu dünnen Strichen gezupft waren wie die von van Harms penetrant fröhlicher Nachbarin zur Rechten. Deren Name im Übrigen Peggy lautete. Kongenialerweise.

Einmal bisher war van Harm wie aus dem Nichts in die Mitte eines solchen Jungmännertrupps geraten. Eben noch arglos den Bürgersteig entlangflaniert, grazil die Hundehaufen umschifft, eine Sekunde unaufmerksam und im nächsten Moment schon mittendrin gewesen. Von Testosteron umbrandet und von süßlichem Aftershave. Und von einer Sprache, die noch schlimmer war als jene der Politiker, wenn sie vor die Fernsehmikrofone traten, um ihre nichtswürdigen Ansichten in den Äther zu stammeln. Ein grammatikalischer Amoklauf, versetzt mit Grunzlauten und rollenden R-Gewittern. Mit Obszönitäten, verpackt in leicht verrutschte oder sprachlich schiefe Bilder und immer wieder von der monoton gebellten Behauptung unterbrochen, er, van Harm, sei in der körperlichen Liebe nicht den Frauen zugetan, sondern Angehörigen des eigenen Geschlechts. Praktisch schwul.

Van Harm mochte gar nicht wissen, wie eines ihrer Schuldiktate aussah, wenn sie schon derart redeten.

Aus der Distanz hatte es sicherlich komisch gewirkt: ein Trupp aufgeputzter, femininer Jungen, der einen seriös wirkenden Mann in einem konservativen Anzug und in seinen besten Jahren fanatisch umschwärmt. Ein Trupp, aus dem sich immer wieder einer löste, um van Harm balzend zu umtanzen oder sich für kurze, wollüstige Augenblicke am Stoff seines Mantels zu reiben, um ihm die Strickmütze vom Kopf zu ziehen und sie einem seiner gleichfalls neckisch werbenden Kameraden zuzuwerfen. Um ihm einen leichten Schlag auf den Rücken oder den Hinterkopf zu geben. Oder um ihm spielerisch den Ellbogen in die Rippen zu stoßen.

Unten auf der Straße, inmitten dieses Haufens infantiler Großprotze, die unfähig waren sich anständig und ihren pubertär-maskulinen Intentionen gemäß zu kleiden, sah die Sache schon anders aus. Noch nie in seinem Leben hatte van Harm solche Angst verspürt und war gleichzeitig so ratlos gewesen, was er hätte tun können, um die verfahrene Situation zu entspannen. Davon, dass sie Zeichen nicht lesen konnten, zeugte schon ihre Aufmachung, die sie im Zusammenspiel mit ihrem aggressiven Auftreten wirken ließ wie eine Bande Klemmschwestern, die sich mit der Brechstange ihrer Heterosexualität versichern wollte. Deshalb konnte alles, was van Harm jetzt zur Beschwichtigung sagen würde, auch genau das Gegenteil auslösen. Doch auch sein Schweigen konnte missdeutet werden, als Arroganz oder gar als Schmerzresistenz, die man durchaus mit härteren Schlägen und gezielteren Tritten zu überwinden versuchen könnte.

Van Harm hatte sich schon aufgegeben, bereit, allein dem Schicksal die Entscheidung über den Fortlauf der Auseinandersetzung zu überlassen, als er von zwei Männern gerettet wurde: von Herrn Bigül und einem von dessen Kumpels. Ein paar harte Worte in seiner Muttersprache und ein drohend geschwungener Gehstock genügten Herrn Bigül, die Horde zu zerstreuen. Die Jungen ließen sofort von van Harm ab und schlenderten breitbeinig und betont langsam zur nächsten Straßenecke, wo sie allesamt abbogen. Als sie außer Sicht waren, begannen sie, laute höhnische Sprüche zu rufen, einige auf Türkisch, wohl an Herrn Bigül adressiert, ein paar aber auch an van Harm, in jener Spielart des Deutschen, die sich nicht sehr elegant anhörte, aber immerhin verständlich war. So wie das universelle Pidgin-English.

Dann war der Spuk vorbei, und erst als sich van Harm bei seinen Rettern bedanken wollte, merkte er, dass es gar nicht der richtige Herr Bigül war, der aus dem Feinkostladen ein, zwei Kilometer nördlich von hier, der die Angreifer vertrieben hatte. Er ähnelte ihm beim flüchtigen Hinsehen nur, weil er die gleiche Schiebermütze trug und den gleichen Schnauzbart, so wie alle Türken ab Mitte vierzig seit Günter Wallraff.

Weder Herrn Bigüls Doppelgänger noch dessen Kumpel, der wie dessen Zwilling aussah, wollten nach dem überstandenen Scharmützel van Harms Dank entgegennehmen. Sie wollten auch keine Komplimente über ihren Mut hören. Oder sich gar die Hände schütteln lassen. Im Gegenteil: Sie taten, als verstünden sie kein Wort Deutsch, und nachdem sie weitergegangen und schon ein gutes Stück entfernt waren, beobachtete van Harm, wie der falsche Herr Bigül obendrein ausspuckte. Mit Anlauf quasi und ziemlich geräuschvoll. In hohem Bogen. Die Spucke traf einen Laternenpfahl, blieb zwei Sekunden wie erschrocken dort kleben, bevor sie langsam hinunterzulaufen begann. Aber vielleicht hatte der Wallraff-Imitator bloß einen Krümel im Hals gehabt. Vielleicht eine Fischgräte vom Mittagessen. Man musste schließlich nicht allen immer das Schlimmste unter stellen. Selbst im südlichen Neukölln nicht, wo das nahelag.

Wie dem auch sei: So sah es nun mal aus in van Harms neuem Viertel, das aus einem halben Dutzend Seiten-und Querstraßen der allseits bekannten Sonnenallee bestand. Aber es war nicht alles schlecht hier, wenn man denn überhaupt das, woraus das Leben eben auch bestand, das Raue, das Arme, das Hässliche, als schlecht bezeichnen konnte.

Denn war es nicht so, fragte sich van Harm an sonnigen Mittagen an seinem geliebten, wuchtigen Schreibtisch sitzend, der für die zwanzig Quadratmeter seines neuen kombinierten Wohn-und Arbeitsraumes leicht überdimensioniert war, während er schon um diese frühe Uhrzeit an einem Glas Rotwein zweifelhafter Herkunft nippte (ein goldenes Etikett, von silbernen Reben umrankt, auf das drei stilisierte, bronzefarbene Medaillen obskurer Weinakademien geprägt waren), war es nicht so, dass das Geschmeidige, das Harmonische und Schöne erst im Kontrast zum Grauenhaften zu voller Blüte gelangten? Zur wahren Entfaltung?

Und gab es nicht auch im Grässlichen entdeckenswerte Facetten und liebenswürdige Winkel? Nischen der Geborgenheit?

Der Kohlegeruch etwa, der bei Tiefdruckwetter durch die Ritzen der undichten Fenster hereinkam, hatte van Harm an jene schöne Zeit Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger erinnert, als er sein erstes eigenes WG-Zimmer bezogen hatte. Typische Studentenbude. Gar nicht weit entfernt von der Eigentumswohnung am Kanal, mit undichtem Kachelofen, ochsenblutfarbenen Dielen und dem Toilettenkabuff auf halber Treppe. Anfang zwanzig, und das erste Mal fort aus dem beschaulichen Nikolassee, das erste Mal der elterlichen Obhut entschlüpft. Um zu studieren, Literatur und Kunstgeschichte. Das erste Mal im Leben fort von dem massiven Haus mit den großen Zimmern und dem weitläufigen Garten. Von wo aus Wälder und Seen zu Fuß zu erreichen gewesen waren. Der Tennisplatz um die Ecke, die Minigolfanlage, zig Musiklehrer aller Instrumente in Rufweite, immer bereit, immer zu Diensten, weil stets knapp bei Kasse: ein beschauliches und komfortables Landleben in der Stadt.

Und keine fünfzehn Kilometer entfernt, mit S-und U-Bahn in einer halben Stunde zu erreichen, dann diese vollkommen andere Welt. Die van Harm bis dahin, abgesehen von gelegentlichen Exkursionen mit der Schule, ganz selten nur auf eigene Faust, nicht besser gekannt hatte als zum Beispiel Ostberlin. Auch den Alexanderplatz hatten sie zu Mauerzeiten mit der Jahrgangsstufe besucht. Beides Welten, von denen er hauptsächlich aus der Zeitung wusste, aus dem Blatt, für das er später selber einmal schreiben sollte und das seine Eltern, solange er denken konnte, abonniert hatten. Oder aus der Abendschau des dritten Programms. All die Geschichten über Punks und Psychobillys, die sich in den Achtzigern am Ku’damm blutige Massenschlägereien geliefert hatten, die jährlichen Maikrawalle in Kreuzberg, die Hausbesetzungen und die Häuserräumungen, die Schützenpanzerwagen und die brennenden Barrikaden aus Müllcontainern und Baustellenzubehör, die abgefackelten Autos und die entglasten Sparkassen, all die Straßenschlachten zwischen linksradikalen Autonomen und der Polizei, die Stunden währenden Prügeleien zwischen den Diskofuzzis und Poppern des Big Eden auf der einen und den unbehausten Rockern aus dem Märkischen Viertel und den gymnasialen Grunewald-Punkern auf der anderen Seite. Zwischen Metallern und Teds in Hochwasserhosen, zwischen den Hertha-Fröschen und den 36er Boys aus Kreuzberg. Nicht zu vergessen die Gefechte zwischen den Hells Angels und den Bandidos, bei denen sogar Panzerfäuste und Stielhandgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg zum Einsatz gekommen waren: das gute alte Westberlin, immer kreuzfidel und subventioniert bis zum Anschlag.

All diese schönen, diese kostbaren Erinnerungen waren an einem frühen Nachmittag wiedergekommen, ausgelöst vom Kohlenmonoxidgeruch verbrannter Braunkohle, der zufällig und wetterbedingt durch die schlecht isolierten Doppelfenster hereingedrungen war.

Van Harms Erinnerungsvermögen wäre sicherlich weiter vorgedrungen, tiefer in die Kindheit hinein, um die vielen Details zu bergen, die sie erst sinnlich machten, bunt und wiedererkennbar, hätte ihm nicht der Rotwein vom Discounter täglich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach zwei Gläsern begann sich seine Stirn zu umwölken, ein dumpfer Druck, der nach einem weiteren Glas den gesamten Schädel betäubte, der einem die Lider schwer machte und den Willen paralysierte. Dieser verdammte Rotwein war alles andere als eine unerwartete Nische des Genusses in einer Sphäre des Geldmangels und des schlechten Geschmacks. Er kam aus der Neuen Welt, typisch, aus Kalifornien, wie van Harm, irgendwann genervt, nachlas. Er hieß Zinfandel, und nach einem ganzen Monat dumpfen Kopfschmerzes in der neuen Wohnung beschloss van Harm, darauf zu verzichten, sich durch die anderen gold-, silber-und bronzeprämierten Sorten des unübersichtlichen Discounterregals zu testen. Stattdessen stieg er auf ein Pilsner Bier aus heimischer, Ostberliner Produktion um. Was auf den großen Beifall seiner duftenden Nachbarin Peggy stieß, als er ihr davon erzählte. Nachdem sie geklingelt hatte, um sich das Viertel einer Salatgurke zu leihen, die sie später zu einer vitalisierenden Maske für ihre gestresste Gesichtshaut zerschreddern wollte.

Und weil sie schon mal da war, wie sie sagte, würde sie auch gleich noch eines von den nagelneuen Bierchen mit rübernehmen. Damit ihr die Zeit nicht lang würde, mit all den Gemüseschnipseln im Gesicht.

Van Harm war es nur recht. Er pfiff sogar leicht vor sich hin, als er mit quietschenden Pantoffeln in die Küche schlurfte, um ihr die Flasche eisgekühlten Biers aus dem Tiefkühlfach zu holen. Denn irgendwie war Peggys phänomenale Laune ansteckend. Ob man das nun wollte oder nicht.

Im sonnigen Süden Neuköllns trugen die alteingesessenen Eckkneipen Namen wie Burgstube oder Zum dicken Paule, die moderneren, in den achtziger Jahren gegründeten, hießen Klappsmühle oder Halli Galli.

Wenn der sozialpragmatische Bezirksbürgermeister im Fernsehen über seine Kommune und deren Schäfchen sprach, in Interviews und Talkshows, tat er dies immer mit einem kaum merklichen Ausdruck der Verachtung um den Mund. Bevor er dann weit ausholte und seinen Bezirk einen Problemkiez nannte und bis aufs Zehntelprozent all jene Zahlen herunterratterte, die sowieso niemand auf die Schnelle auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen konnte. Erstens: Anteil der Sozialfürsorgeempfänger, der Schulabbrecher und Analphabeten an der Gesamtbevölkerung. Plus: Zahl der kriminellen Delikte pro hundert Einwohner. Zweitens: Anteil der Ausländer unter den Sozialfürsorgeempfängern, Analphabeten, Schulabbrechern und Gewohnheitskriminellen.

Wobei der Bürgermeister nicht »Sozialfürsorge« sagte, sondern »-transfer«. Vermutlich, weil es ruchloser klang.

Er redete von der allgemeinen Verwahrlosung, von Graffitis, niedergetrampelten Beeten, von wildem Sperrmüll an den Straßenrändern und den Millionen von Hunden, für die nicht mal die reguläre Steuer abgeführt werde, obwohl sie wahre Kackmaschinen seien, die pro Tag so und so viel Tonnen an Exkrementen absonderten. Was so und so viele Prozente mehr Kot wären als noch vor zehn Jahren. Er warnte vor den bandenmäßig organisierten Großfamilien südländischer Herkunft, die jenseits des Gesetzes ihr eigenes Recht durchsetzten und schon so und so viel Prozente des Klein-und Einzelhandels der Sonnenallee kontrollierten. In deren Einflussbereich sich schon lange keine Polizeistreife mehr hineinwagte. Was kein Wunder sei bei der Kürzung von deren Mitteln um so und so viele Millionen Euro. Allein im letzten Jahr. So und so viele Prozente mehr seien das allein in einem einzigen Quartal als über den gesamten Zeitraum des Jahres so und so hinweg.

Und wenn dann eine der rehäugigen, jungen Absolventinnen der Axel-Springer-Journalistenschule, der vom ganzen Zahlenbrimborium des Bezirksmeisterschwadroneurs die Ohren schlackerten, eingeschüchtert fragte, was man denn gegen all das Ungemach seines Problemkiezes tun könne, streckte der Bürgermeister den Bauch raus, stützte die Hände in die Hüften und sagte: Erstens: Bürgerwehren. Passiv bewaffnet, Kiezpatrouille. Und zweitens: all jenen das Geld streichen, die auf Kosten der Allgemeinheit lebten, sich ihr aber nicht unterordneten. Zunächst, als Warnschuss vor den Bug, nur noch so und so viele Prozente auszahlen. Bei wiederholten Verstößen, etwa dem Schulschwänzen des Nachwuchses, so und so viele Prozente mehr kürzen. Bei anhaltender Renitenz schließlich sämtliches Geld durch Essensgutscheine ersetzen, die in ausgewählten, videoüberwachten Discountern eingelöst werden könnten. Und wenn selbst diese drastische Maßnahme keinen Erfolg zeitigte, auch die Essensgutscheine noch streichen. Punkt.

»Okay, Herr Bürgermeister, ich danke Ihnen, wünsche viel Erfolg bei Ihrer Mission, und gebe zurück zu meiner lieben Kollegin Nasarin, die im Studio schon mit den Promi-News wartet!«

Van Harm hatte es also in einen Rabaukenbezirk verschlagen, in dem man entweder groß geworden sein musste, um das Leben in ihm normal zu finden, oder vollkommen abgestumpft. Vom Alkohol benebelt oder schon von den Fürsorgeaufsehern in den Verwaltungsämtern des Mangels zerrieben. Da, wo sich Not und Elend gute Nacht sagten. Über die Schreibtische der Sachbearbeiter hinweg. Und in den Umkleidekabinen der Kompetenzteams. Mit den funkelnden Exzellenz-Bestecken in den Fleischerschürzen.

Oder aber, eine dritte Möglichkeit: Alles musste einem so dermaßen ungewohnt vorkommen, so jenseits jeder bisherigen Erfahrung, dass man bereit war, in dem Ungemütlichen, in dem zuweilen sogar Gefährlichen das abenteuerliche Element zu sehen. Den Reiz des Exotischen. Das neue Ufer, hinter dem sich weites unentdecktes Land dehnte.

Und Letzteres traf doch tatsächlich auf van Harm zu. Sogar einen Monat noch, nachdem er von zu Hause ausgezogen war. Trotz der Angst, die er nicht gerade selten auf der Straße spürte. Trotz des gelegentlichen Ekels, der in ihm aufstieg, wenn er am Discountereingang über Lachen von Erbrochenem hinwegsteigen musste, um hineinzugelangen. Er hätte es selbst bis vor Kurzem nicht für denkbar gehalten.