6 Die sieben Siegermerkmale
Gefühle sind ein chemischer Defekt,
den man auf der Verliererseite findet.
Sherlock Holmes
Das Überqueren der Grenze
Witzigerweise ist es schwieriger, ins Broadmoor Hospital hinein- als aus ihm herauszukommen. Aber das ist es nicht. Witzig, meine ich.
»Irgendwas Scharfes dabei?«, bellt die Frau am Empfang, als ich den gesamten Inhalt meiner Aktentasche – Laptop, Handy, Stifte, ja sogar meine treue Glock-17-Pistole – in der Eingangshalle in ein Schließfach mit Plexiglasfront stopfe.
»Nur meinen Verstand«, antworte ich und parodiere Oscar Wildes Äußerung gegenüber einem US-amerikanischen Zollbeamten.
Die Empfangsdame ist kein Fan – weder von mir noch, wie es scheint, von Oscar.
»So scharf ist der nun auch wieder nicht, Kleiner«, kontert sie. »Legen Sie jetzt den Zeigefinger Ihrer rechten Hand hierhin und schauen Sie zur Kamera hoch.«
Hat man im Broadmoor die Grenzkontrolle hinter sich gebracht, wird man sofort in eine winzige Glaszelle zwischen dem Empfang und dem eigentlichen Krankenhausgebäude gebracht. Gleichzeitig wird derjenige, den man besuchen möchte, vom Empfang aus angerufen und macht sich auf den Weg, um einen abzuholen.
In dieser Zelle bekommt man Platzangst und die Warterei ist nervig. Während ich die Zeitschriften durchblättere, erinnere ich mich daran, warum ich hier bin – wegen einer E-Mail, die ich erhalten hatte, nachdem »Great British Psychopath Survey« angelaufen war.132 Diese Studie ist einzigartig: die erste ihrer Art, die das Vorkommen psychopathischer Merkmale in der gesamten nationalen Arbeitnehmerschaft bewertet. Die Teilnehmer wurden auf meine Website verwiesen, wo sie den Levenson Self-Report Psychopathy Scale genannten Persönlichkeitstest machten und dann ihre Punktzahl erhielten.133
Aber das war noch nicht alles. Sie machten auch Angaben zu ihrem Beschäftigungsverhältnis. Bei den Vertretern welcher Berufe würden die psychischen Merkmale am ausgeprägtesten oder am wenigsten ausgeprägt sein?, wollte ich wissen. Die Ergebnisse sind interessant. Vor allem, wenn man sich sonntags gern ein oder zwei Predigten anhört.
+ Psychopathie
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– Psychopathie
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Einige Wochen später fand ich dann in meinem Posteingang eine Mail von einem der Befragten. Er ist von Beruf Anwalt – in der Tat einer der besten Großbritanniens – und hatte mit seiner Punktzahl meine Aufmerksamkeit erregt. Doch für ihn war das nichts Ungewöhnliches. Überhaupt keine große Sache:
»Ich habe schon ziemlich früh in meiner Kindheit erkannt, dass ich Dinge anders sehe als andere Leute«, schrieb er. »Aber meistens hat mir das in meinem Leben geholfen. Psychopathie (wenn Sie es so nennen wollen) ist wie eine Arznei für die modernen Zeiten. Wenn man sie in Maßen nimmt, kann sie sich als äußerst nützlich erweisen. Sie kann viele existentielle Leiden lindern, denen wir sonst zum Opfer fallen würden, weil unser schwaches psychisches Immunsystem nicht fähig ist, uns zu beschützen. Nimmt man jedoch zu viel davon, ist die Dosis zu hoch, kann dies wie bei allen Arzneien einige sehr unangenehme Nebenwirkungen haben.«
Die E-Mail hatte mich nachdenklich gemacht. Hatte dieser angesehene britische Anwalt womöglich nicht ganz unrecht? War Psychopathie eine »Arznei für die modernen Zeiten«? Könnte es zu bestimmten Zeiten und unter bestimmen Umständen tatsächlich gut für uns sein, sie in Maßen einzunehmen und ein wenig an den Reglern unseres psychopathischen Mischpults herumzuspielen?
Es war eine interessante Möglichkeit. Und ergab zudem, rein intuitiv betrachtet, eine Menge Sinn. Lassen Sie uns einen Moment lang diese Regler betrachten: Skrupellosigkeit, Charme, Fokussiertheit, mentale Härte, Furchtlosigkeit, Achtsamkeit (im Augenblick leben) und Handeln. Wer von uns würde in gewissen Momenten seines Lebens nicht davon profitieren, einen oder zwei von ihnen ein bisschen höher einzustellen? Wichtig ist, dass man sie dann auch wieder herabregeln kann.
Ich beschloss, diese Theorie auf den Prüfstand zu stellen, und wollte dabei nichts unversucht lassen. Ich hatte vor, mehrere Krankenhäuser zu besuchen, um ein paar Kollegen zu interviewen. Und was, wenn ich auch in die Abteilungen ging? Wenn ich nicht nur mit den Ärzten, sondern auch mit einigen Patienten sprach? Sie mit den normalen Problemen des Alltags konfrontierte, dem Zeugs, über das wir im Pub jammern, damit ich sah, wie sie es einschätzten? Mit welchen Vorschlägen sie aufwarteten? Bis jetzt hatte ich es für eine gute Idee gehalten.
»Professor Dutton?« Mein Gedankengang wird unterbrochen und ich schaue hoch und sehe einen blonden Typen Mitte dreißig. »Hi, ich bin Richard Blake – einer der Teamleiter im Paddock Centre. Willkommen im Broadmoor! Soll ich Sie hinbringen?«
Wir ziehen los und begeben uns immer tiefer in das labyrinthische Innere des Krankenhauses, durch eine Reihe Verbindungsflure und Niemandsland-Vorkammern wie die, von der aus wir gestartet sind – »Sicherheits-Luftblasen«, wie Richard sie nennt. Währenddessen erklärt er mir die goldene Regel des Broadmoor: Öffne nie eine Tür vor dir, bevor du die Tür hinter dir nicht geschlossen hast, und erzählt mir ein bisschen genauer, wohin wir unterwegs sind.
Das Paddock Centre ist eine geschlossene, hoch spezialisierte Abteilung für Persönlichkeitsstörungen, die sechs Stationen mit jeweils zwölf Betten umfasst.134 Rund 20 Prozent der dortigen Patienten sind das, was man als »reine« Psychopathen bezeichnen könnte. Sie sind zur Behandlung und ständigen Beurteilung auf zwei speziellen Stationen untergebracht: den Stationen für Patienten mit einer Dangerous and Severe Personality Disorder (DSPD, gefährlichen und schweren Persönlichkeitsstörung). Der Rest leidet an Störungen, die sich den drei sogenannten »Clustern« zuordnen lassen: Sie zeigen klinisch signifikante psychopathische Merkmale (dokumentiert durch eine mäßig hohe Punktzahl bei der PCL-R), begleitet von zusätzlichen Merkmalen, die typischerweise mit anderen Persönlichkeitsstörungen einhergehen – Borderline, Paranoide und Narzisstische Persönlichkeitsstörung zum Beispiel. Oder aber Merkmale, die eher auf eine primär psychotische Symptomatologie wie z. B. Wahnvorstellungen oder Halluzinationen hinweisen.
Plötzlich wird mir klar: Der Ort, zu dem ich gerade unterwegs bin, ist keine Anlaufstelle für Espresso schlürfende skrupelbehaftete Vertreter unserer Spezies. Dies ist die Drachenhöhle, das innere Heiligtum der Alkohol saufenden, skrupelfreien Ungesunden – die Domäne unheilvollster Ausprägungen der Neurochemie mit Gehirnzuständen, die buchstäblich auf Messers Schneide stehen. Der Yorkshire Ripper befindet sich hier drin. Ebenso der Stockwell Strangler. Es ist eines der gefährlichsten Gebäude der Welt.
»Ähm, es wird mir doch nichts passieren, oder, Richard?«, krächze ich, als wir plötzlich rechts von einem großen Freiluft-Bereich auftauchen, der von Stacheldraht übelster Sorte gesichert ist.
Richard grinst. »Keine Sorge«, sagt er. »Auf den DSPD-Stationen gibt es selten Probleme. Psychopathische Gewalt ist überwiegend instrumentell, ein direktes Mittel zu einem bestimmten quantifizierbaren Zweck. Was heißt, dass sie in einer Umgebung wie dieser weitgehend verhindert werden kann. Und dass sich die Situation, sollte es doch mal zu Gewalt kommen, leicht wieder unter Kontrolle bringen lässt. Unvorhergesehenes passiert eher auf den Stationen mit den psychotischen Patienten. Sogar im Vergleich mit Patienten, die unter anderen Persönlichkeitsstörungen leiden, ist der Umgang mit Psychopathen leichter. Aus irgendeinem Grund lassen sie sich leichter zu täglichen Aktivitäten bewegen als z. B. Borderliner oder Paranoide. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich schnell langweilen: Sie sorgen gern dafür, dass sie Unterhaltung haben. Außerdem«, fügt er mit einem ganz leichten Vorwurf in der Stimme hinzu, »ist es jetzt ein bisschen spät, um noch umzukehren, oder?«
Bekanntschaft mit den Einheimischen
»Wir sind die böse Elite«, sagt Danny, als er sein zweites Tor für Chelsea reinknallt, einen kraftvollen Kopfstoß vom Rand des Sechs-Meter-Bereichs. »Verherrliche uns nicht. Aber geh auch nicht den anderen Weg und fang an, uns zu entmenschlichen.«
Er hockt hinter seinem Nintendo Wii und wirft mir einen Blick zu. Es läuft gut. Sowohl auf dem Spielfeld, als auch außerhalb des Spielfelds. Chelsea führt gegen Manchester United mit 2:0 – und ich schaue mir, die Füße auf dem Tisch, in einer Ecke von Broadmoors völlig abgeschotteten DSPD-Stationen zusammen mit einer Gruppe von Psychopathen das Spiel an.
Die Atmosphäre auf der Station ist anders, als ich es erwartet hatte. Mein erster Eindruck ist der von einem extrem gut ausgestatteten Studentenheim. Helles, glattes Holz. Gut beleuchtet. Und sogar mit einem Pooltisch ausgestattet. Der heute mit einem Tuch zugedeckt ist – leider, denn es wäre nett gewesen, wenn ich mir das Fahrgeld für die Bahn hätte erspielen können.
Larry, ein grauhaariger, bärtiger, kugelrunder Typ, der mit seinem Fair-Isle-Sweater und der beigefarbenen Hose mit Gummizug aussieht wie jedermanns Lieblingsonkel – wobei es jedoch besser wäre, Herodes als Babysitter zu engagieren, sollten Sie vorhaben, abends auszugehen –, findet Gefallen an mir. Er hat genug vom Fußball.
»Weißt du«, sagt er, während er mir die Hand schüttelt und mich mit zugleich schläfrigem und stechendem Blick durchbohrt, »angeblich bin ich einer der gefährlichsten Männer im Broadmoor. Kannst du das glauben? Aber ich verspreche dir, ich werde dich nicht umbringen. Komm, ich führe dich ein bisschen herum.«
Larry begleitet mich zum anderen Ende der Station, wo wir einen Blick in sein Zimmer werfen. Im Grunde genommen sieht es aus wie jedes andere Einzelzimmer in einem Krankenhaus, wobei es jedoch mehr Annehmlichkeiten gibt. Wie zum Beispiel einen Computer. Platz für einen Schreibtisch. Und eine Menge Bücher und Papiere auf dem Bett.
Er spürt wohl meine Neugier und rückt ein weniger näher. »Ich bin seit zwanzig Jahren hier drin«, zischt er mir ins Ohr. »Da hat man verdammt viel Zeit, ähm« – er räuspert sich und lächelt verschwörerisch – »zur Verfügung. Verstehst du?«
Als Nächstes führt er mich zum Garten: einen von einer grauen Backsteinmauer umgebenen Innenhof von etwa der Größe eines Tennisplatzes mit Bänken und Nadelbäumen. Urteil: »Wird ein bisschen eintönig nach zwei Jahrzehnten.«
Verständlich. Wir gehen dann hinüber zum entgegengesetzten Ende der Station. Ihr Grundriss ist symmetrisch: sechs Zimmer auf der einen, sechs auf der anderen Seite, in der Mitte getrennt durch einen sauberen, aschgrauen Flur – und wir schauen bei Jamie vorbei.
»Dieser Typ ist von der Cambridge University«, verkündet Larry, »und er ist dabei, ein Buch über uns zu schreiben.«
Jamie kommt und baut sich an der Tür vor uns auf. Es ist eine klare Aufforderung zu verschwinden. Schnell weichen wir ein paar Schritte zurück. Jamie ist, wie sich herausstellt, ein völlig anderer Typ als Larry. Der Riese von 1,88 Metern mit den brutalen, dunklen Stoppeln und dem durchdringenden, eiskalten Blick hat die grüblerische, bedrohliche, satanische Ausstrahlung des einsamen, ultra-gewalttätigen Killers. Das Holzfällerhemd und die rasierte Platte runden das Bild ab.
»Worum geht es denn in diesem Buch?«, knurrt er in einem gangsterhaften Cockney, eingekeilt zwischen dem Türrahmen seines Zimmers, die Arme vor der Brust verschränkt, die linke Faust wie einen Kugelhammer unter dem Kinn eingeklemmt. »Denselben alten Schwachsinn nehme ich an? Sperr sie ein und wirf den Schlüssel weg? Du hast ja keine Ahnung, wie nachtragend das manchmal klingt. Und richtig verletzend, wenn ich das hinzufügen darf. Oder nicht, Larry?«
Larry wiehert theatralisch und presst in einer shakespeareschen Zurschaustellung von Angst die Hände ans Herz. Jamie tupft sich derweil imaginäre Tränen weg.
Es ist fantastisch. Genau das, weswegen ich hierhergekommen bin. Eine solch stoische Respektlosigkeit angesichts von unaufhörlichen Widrigkeiten könnten wir vielleicht alle ein bisschen öfter gebrauchen.
»Weißt du was, Jamie?«, erwidere ich. »Ich versuche, genau das Gegenteil zu tun. Ich denke nämlich, dass ihr Jungs uns etwas beibringen könnt. Dass wir von eurem Persönlichkeitsstil lernen können. In Maßen, natürlich. Das ist wichtig. Wie z. B., dass du gerade mit einem Achselzucken abgetan hast, was die Leute möglicherweise von dir denken. Im Alltagsleben könnte das bis zu einem gewissen Grad ganz gesund sein.«
Jamie scheint der Gedanke, dass ich mir seinen Rat einholen könnte, zu amüsieren. Dass der Blickwinkel eines Psychopathen tatsächlich helfen könnte, die Dilemmata des Alltags mit anderen Augen zu sehen. Aber er ist noch immer auf der Hut.
»Willst du damit sagen, dass Captain Birdseye und ich einfach ein bisschen zu viel von einer guten Sache haben?«, spottet er. »Dass der Wagen ziemlich cool ist, der Fahrer aber zu schnell fährt?«
Es ist eine faszinierende Analogie.
»So in der Art«, sage ich. »Interesse daran, den Fuß vom Gas zu nehmen und mal eine Minute lang anzuhalten?«
Jamie kneift die Augen zusammen. »Ich halte für niemanden an«, kontert er. »Aber wenn du mitfahren möchtest, steig ein.«
Wir gehen zurück zu dem Ende der Station, wo wir unseren Rundgang begonnen haben. Chelsea führt inzwischen 4:0 gegen United. Und Danny – wer sonst? – wurde gerade zum Mann des Matches erklärt.
»Er hat dich also nicht umgebracht«, sagt er beiläufig und wirft einen schnellen Blick in Captain Birdseyes Richtung. »Gehst du im Alter behutsamer vor, Larry?«
Ich lache. Ein ziemlich nervöses Lachen, wie mir auffällt. Mein Glucksen hat einen gesunden Touch von Wahnsinn. Aber Larry ist todernst.
»Hey«, sagt er mit Nachdruck. »Du kapierst es nicht, oder, Junge? Ich hab gesagt, ich würde dich nicht umbringen. Und ich hab’s nicht getan, stimmt’s?«
Plötzlich dämmert mir, dass Larry vielleicht gar nicht geblufft hat; dass er sich vielleicht ein bisschen stärker in Selbstkontrolle geübt hat, als es den Anschein erweckte. Und dass ich ihn mit dem Versuch, mein Unbehagen wegzulachen, verärgert habe, statt ihn in seinem edlen und lobenswerten Ziel zu bestärken.
»Doch, doch, Larry«, piepse ich, »ich hab’s kapiert. Wirklich. Danke. Ich weiß es sehr zu schätzen.«
Jamie lächelt. Er findet das offensichtlich lustig. Aber für mich, der sich jetzt offenbar auf einem gefährlich dünnen Eis bewegt, ist das überhaupt kein Spaß. Man vergisst so leicht, dass bei diesen Typen alles möglich ist. Dass es wirklich keine Grenzen gibt. Und dass der Wagen leicht von der Straße abkommt, wenn man keine normalen Bremsbeläge und eine V12-Amygdala hat.
Das Fußballspiel ist zu Ende. Und Danny lehnt sich auf seinem Stuhl zurück.
»Ein Buch also, was?«, sagt er.
»Ja«, antworte ich. »Ich interessiere mich dafür, wie ihr Jungs Probleme löst.«
Danny sieht mich fragend an. »Was für Probleme?«, will er wissen.
»Alltagsprobleme«, erwidere ich. »Probleme, mit denen die meisten Menschen in ihrem Leben fertig werden müssen.«
Ich sehe zu Larry und Jamie hinüber. »Ist es okay, wenn ich euch ein Beispiel gebe?«
Danny sieht auf die Uhr. »Warum nicht«, seufzt er. »Solange es nicht länger als fünf Jahre dauert.«
»Ich versuche, mich kurz zu fassen«, sage ich – und erzähle ihnen von Freunden von mir, die gerade versuchten, ihr Haus zu verkaufen.
Skrupellosigkeit
Wie man einen unerwünschten Mieter loswird? Diese Frage stellten sich Don und seine Frau Fran, bei denen gerade Frans betagte Mutter Flo eingezogen war. Flo hatte 47 Jahre lang in ihrem früheren Haus gewohnt, doch da sie es nun nicht länger brauchte, hatten Don und Fran es zum Verkauf angeboten. Das Interesse war groß, denn das Haus befand sich in einem aufstrebenden Viertel Londons. Aber es gab da ein Problem: den Untermieter, den die Aussicht, ausziehen zu müssen, nicht gerade begeisterte.
Don und Fran waren ziemlich verzweifelt. Sie hatten bereits einen potenziellen Käufer verloren, weil der Untermieter die Koffer nicht packen konnte oder wollte. Einen weiteren Käufer zu verlieren, wäre eine Katastrophe. Aber wie sollten sie den Untermieter loswerden?
»Ich nehme an, wir sprechen hier nicht von Gewalt, oder?«, fragt Danny.
»Richtig«, sage ich. »Wir würden doch jetzt nicht hier drinnen landen wollen, oder?«
Danny zeigt mir den Stinkefinger. Doch die Tatsache, dass er eine solche Frage überhaupt stellt, entlarvt den Mythos, Gewalt sei für Psychopathen das einzige Mittel.
»Wie wär’s denn hiermit?«, poltert Jamie. »Da das alte Mädchen bei seiner Verwandtschaft wohnt, stehen die Chance gut, dass der Typ allein zu Hause ist, oder? Also gibst du dich als jemand von der Gemeinde aus, tauchst an der Tür auf und sagst, dass du mit dem Besitzer sprechen möchtest. Er erzählt dir dann, dass die alte Dame nicht da ist. Okay, sagst du, kein Problem. Aber wissen Sie, wo ich sie erreichen kann? Ich muss nämlich dringend mit ihr sprechen,
Jetzt wird er langsam neugierig. Was ist los?, fragt er ein bisschen skeptisch. Um ehrlich zu sein, ziemlich viel, antwortest du. Du hast gerade an der Vorderseite eine Routine-Asbestmessung vorgenommen. Und was hat sich herausgestellt? Der Wert ist so hoch, dass Tschernobyl dagegen ein Kurort ist. Du musst sofort mit dem Besitzer Kontakt aufnehmen. Eine bauliche Bestandsaufnahme ist erforderlich. Und jeder, der derzeit hier lebt, muss das Haus verlassen, bis die Gemeinde Entwarnung geben kann.
Damit dürfte es klappen. Mit ein bisschen Glück ist der Wichser sofort zur Tür heraus, bevor du sagen kannst: ›Langsamer, qualvoller Tod durch Lungenkrebs.‹ Natürlich könntest du auch einfach die Schlösser auswechseln, wenn der Typ gerade in seiner Stammkneipe hockt. Das wäre ziemlich lustig. Aber das Problem ist dann: Du hast immer noch sein ganzes Zeugs im Haus. Was wohl okay ist, wenn du einen Flohmarkt planst. Ich meine, du könntest sogar noch ein paar Pfund mit dem Zeug dieses Vollidioten verdienen und damit die Kosten für die Schlösser decken.
Ich persönlich würde mich jedoch für die Lösung Gesundheit und Sicherheit entscheiden. Ha, wohl eher List und Sicherheit! Ich schätze, dadurch würdest du den Typen endgültig los. Und außerdem würde er denken, dass du ihm einen Gefallen tust.«
Jamies elegante, wenn auch ziemlich unorthodoxe Lösung für Dons und Frans Mieterproblem wäre mir nie eingefallen. Doch zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass es dafür einen sehr guten Grund gab. Ich bin kein skrupelloser Psychopath! Der Gedanke, den Typen so schnell aus dem Haus zu kriegen, dass er obdachlos war und auf der Straße leben musste, war mir einfach nicht in den Sinn gekommen. Und auch nicht der Gedanke, all seine Habe zu verkaufen, um mich für das Vergnügen bezahlen zu lassen, ihn aus dem Haus auszuschließen. Und doch gibt es, wie Jamie nicht ganz zu Unrecht meinte, Zeiten im Leben, in denen man sich für die »beste aller schlechten Möglichkeiten« entscheiden muss. In denen man nachtreten muss, um das gewünschte oder das beste Ergebnis zu erzielen.
Aber das ist noch nicht alles. Interessanterweise argumentiert er, dass es die richtige, ja eine aus objektiver Sicht moralische Vorgehensweise ist.
»Warum den Mistkerl nicht rauswerfen?«, fragt er. »Ich meine, denk mal drüber nach. Du redest davon, ›das Richtige zu tun‹. Aber was ist aus moralischer Sicht schlimmer? Jemanden fertig zu machen, der es verdient? Oder dich selbst fertig zu machen, ohne dass du es verdienst? Als Boxer tust du alles in deiner Macht Stehende, um den anderen so schnell wie möglich k. o. zu schlagen, stimmt’s? Warum also sind die Leute bereit, Skrupellosigkeit im Sport zu akzeptieren, aber nicht im Alltagsleben? Wo ist der Unterschied?
Bei vielen Leuten besteht das Problem darin, dass das, was sie für eine Tugend halten, in Wirklichkeit ein Laster ist. Es ist leicht, sich einzureden, man sei vernünftig und zivilisiert, wenn man in Wirklichkeit nachgiebig und schwach ist, oder?
Gute Menschen schlafen nachts nur deshalb friedlich in ihren Betten, hat George Orwell mal gesagt, weil harte Männer bereit sind, für sie Gewalt auszuüben.«
Vielleicht könnten wir also alle eine Art Weckruf gebrauchen, wenn man einem der gefährlichsten Psychopathen der Welt Glauben schenken kann.
Charme und Fokussiertheit
Jamies Lösung für das Mieterproblem von Don und Fran zeugt zweifellos von Skrupellosigkeit. Doch wie Dannys anfängliche Aussage – »Ich nehme an, wir sprechen hier nicht von Gewalt, oder?« –, deutlich zeigt, muss die Skrupellosigkeit nicht offenkundig sein. Je raffinierter sie verpackt wird, je kreativer die Geschichte, desto größer sind die Chancen, straffrei davonzukommen. Der kompromisslose Eigennutz wird oft äußerst geschickt hinter einem undurchsichtigen, verwirrenden Charme verborgen.
Dass Psychopathen großen Charme besitzen, ist weithin bekannt. Und die Fähigkeit, sich zu fokussieren und »die Arbeit zu erledigen«. Das ist natürlich eine machtvolle Kombination.
Leslie hat sich zu uns gesellt und eine sehr anschauliche Beschreibung von Charme parat: »Die Fähigkeit, für Leute, die du nicht ausstehen kannst, einen roten Teppich auszurollen, um sie so problemlos und effizient wie möglich in die von dir gewünschte Richtung zu lenken.«
Mit seinen makellos frisierten blonden Locken und seiner geschliffenen Ausdrucksweise erweckt Larry den Eindruck, als spräche aus ihm der Fachmann. »Die Leute sind so nett, wie du es willst«, verkündet er. »Was dir natürlich eine Menge Macht über sie verleiht.«
Leslie hat auch eine interessante Ansicht zum Fokussiertsein, vor allem, wenn es darum geht, zu kriegen, was man will. Der Meister erkannte schon sehr früh, dass das, was in seinem Kopf vorging, anderen Prinzipien gehorchte als bei den meisten Menschen – und nutzte dieses Wissen zu seinem eigenen Vorteil.
»Als Kind hab ich es in der Schule gern vermieden, handgreiflich zu werden«, erzählt er mir. »So, wie ich es auch als Erwachsener vermeide. Ähnlich wie Jamie, nehme ich an.«
Jamie lächelt selbstzufrieden.
»Weißt du, ich hab schon ziemlich früh rausgefunden, dass die Leute ihren Willen deswegen nicht kriegen, weil sie oft selbst nicht wissen, was sie tatsächlich wollen. Sie lassen sich zu stark vom Augenblick mitreißen und kommen vorübergehend vom Weg ab. Und genau an diesem Punkt ändert sich die Dynamik. Nun geht es auf einmal nicht mehr nur darum, zu bekommen, was man will. Sondern dabei gesehen zu werden, dass man bekommt, was man will. Zu gewinnen.
Jamie hat eben übers Boxen geredet. Ich hab mal ein großartiges Zitat von einem der Spitzentrainer gehört. Er hat gesagt: Wenn du in dem Moment, in dem du in den Ring steigst, völlig besessen davon bist, deinen Gegner auszuknocken, wirst du aller Wahrscheinlichkeit nach scheitern. Wenn du dich jedoch darauf konzentrierst, den Kampf zu gewinnen, dich einfach darauf fokussierst, deinen Job zu machen, ja dann knockst du ihn vielleicht sowieso aus.«
Leslies Worte leuchten mir ein und erinnern mich an eine mehrere Jahre zurückliegende Begegnung – eine, in der leicht Rache und Gewalt ins Spiel hätten kommen können, doch Charme und Fokussiertheit den Sieg davontrugen.
Mit einer Größe von 1,96 Metern und einem Gewicht von 108 kg war Dai Griffiths nicht gerade wie ein griechischer Gott gebaut. Nach 23-jährigem ununterbrochenem Dienst bei der britischen Polizei und einer Punktzahl beim PPI, die wahrscheinlich höher war als die der meisten Typen, die er festnahm, hatte er so ziemlich alles erlebt.
»Zwanzig Prozent der Leute, die durch diese Türen kommen«, sagte er mir und deutete auf den Eingang zum Vernehmungsbereich, »nehmen 80 Prozent unserer Zeit in Anspruch.« Womit er natürlich sagen wollte, dass Wiederholungstäter sehr nervig sind.
Wiederholungstäter wie Iain Cracknell zum Beispiel.
Cracknell gehörte zu der Sorte, die man als Berufssäufer bezeichnen könnte. Mit der Genauigkeit eines Uhrwerks wurde er freitag- oder samstagabends mit einer goldenen Zukunft hinter sich auf die Polizeiwache gebracht.
Normalerweise hatte er eine Flasche Jack Daniel’s intus. Und Gott weiß wie viele Flaschen Bier.
Was dann routinemäßig ablief, war so gut choreografiert, dass ›Schwanensee‹ daneben wie Laienballett wirkte. Zuerst fing Cracknell an, »verrückt« zu spielen. Dann wurde ein Psychiater gerufen (wie das Gesetz es verlangt), um seinen Geisteszustand einzuschätzen. Doch als der eintraf, war Cracknell – Überraschung, Überraschung – wieder normal. Betrunken, ja. Aber eindeutig nicht verrückt. Der Psychiater ging wieder, murmelte irgendwas über die Inkompetenz der Polizei und die unchristliche Zeit, und Cracknell, der sich vor Lachen bepisste, wurde in eine Zelle gesteckt, um seinen Rausch auszuschlafen. Und beim nächsten Mal passierte wieder genau dasselbe.
Das Problem mit Cracknell schien unlösbar zu sein. Wie nur konnte man ihn dazu bringen, mit seinen ewigen Psychospielchen aufzuhören? Die Sache war (wie bei den meisten Wiederholungstätern) natürlich die, dass er das System besser kannte als jeder andere. Und wusste, wie er sich verhalten musste. Was hieß, dass man nur zwei Möglichkeiten hatte. Entweder nahm man ihn erst gar nicht fest. Oder man trug die Folgen, wenn man es doch tat – normalerweise eine Standpauke von einem völlig genervten Psychiater.
Bis Griffiths eines Abends eine Idee hat. Nachdem er Cracknell in dessen gewohnte Wochenendbleibe verfrachtet und wie üblich nach dem diensthabenden Psychiater geschickt hat, geht er zum Spind mit den Fundsachen. Kurze Zeit später schlurft er in Clownsaufmachung – Haare, Rouge, Nase, Glöckchen – durch den Flur und schaut wieder bei Cracknell vorbei.
Was, erkundigt Griffiths sich, hätte er am Morgen gern zum Frühstück?
Cracknell kann es, milde gesagt, nicht glauben. Wenn er Glück hat, bekommt er manchmal ein Glas Wasser. Nicht einmal ein Glas: einen Styroporbecher. Jetzt rollt man ihm den roten Teppich aus. Er kann sein Glück nicht fassen.
»Und wie möchten Sie Ihre Eier«, fährt Griffiths fort, »Rührei, Spiegelei, gekocht oder pochiert?«
Mit der Detailtreue eines Oberkellners notiert er sich alles, worum Cracknell bittet. Selbst den frisch gepressten Orangensaft. Dann geht er.
Als er zehn Minuten später mit dem diensthabenden Psychiater zurückkehrt, trägt er wieder seine Dienstuniform. »Na, was ist denn diesmal das Problem?«, murmelt der Psychiater.
Cracknell wirkt nervös.
»Sie sollten nicht mit mir reden«, stammelt er. »Sondern mit ihm! Sie werden es nicht glauben, aber kurz bevor Sie gekommen sind, hat er in einem Clownskostüm gesteckt und mich gefragt, was ich zum Frühstück haben möchte!«
Der Psychiater wirft Griffiths einen argwöhnischen Blick zu. Griffiths zuckt nur die Schultern.
»Sieht aus, als seien wir im Geschäft«, sagt er. Dai Griffiths gehört wahrlich nicht zu den Menschen, mit denen man es sich gern verderben würde. Das können Sie mir glauben. Viele Menschen haben das getan – und die meisten von ihnen hatten anschließend ein paar Zähne weniger. Griffiths wird nicht umsonst »Der Zahnarzt« genannt.
Doch Griffiths hat, wie wir sahen, mehr als nur ein Mittel zur Hand. Er hätte Cracknell leicht eine Lektion erteilen können – Betrunkene haben, wie jedermann weiß, »Unfälle«. Stoßen gegen Dinge. Ziehen sich hier und da einen blauen Flecken zu –, aber das tat er nicht. Er wählte vielmehr einen völlig anderen Weg. Er vermied die Falle, vor der Leslie so wortgewandt gewarnt hatte – die Versuchung, dabei gesehen zu werden, dass er bekam, was er wollte: Cracknell hinter verschlossenen Türen zu demonstrieren, wer der Boss war. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, eine Lösung zu finden, die das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen würde. Nicht nur für ihn, sondern auch für seine Kollegen. Er rollte den roten Teppich aus und packte das Problem an der Wurzel. Die Psychiater konnten nun am Wochenende die Füße hochlegen.
Die Beobachtung, dass Charme, Fokussiertheit und Skrupellosigkeit – drei der offensichtlichsten Merkmale des Psychopathen –, das Rezept für eine erfolgreiche Problemlösung sein können, ist wohl keine große Überraschung. Dass dieses Triumvirat – wenn das Schicksal es gut mit einem meint – aber auch zu gewaltigem, lebenslangem Erfolg verhelfen kann, ist vielleicht eine andere Sache.
Nehmen Sie Steve Jobs.135
Jobs verdankte seinen kulthaften Status, wie der Journalist John Arlidge kurz nach seinem Tod sagte, »nicht nur der Tatsache, dass er zielstrebig, getrieben, fokussiert (einem ehemaligen Kollegen zufolge strahlte er die ›Intensität eines Hochofens‹ aus), perfektionistisch, kompromisslos und sehr dominant war. Alle erfolgreichen Wirtschaftsführer sind das, auch wenn ihre äußerst gut bezahlten PR-Schätzchen uns gern weismachen wollen, dass sie lockere Typen sind, genau wie der Rest von uns.«
Nein. Jobs war mehr als das. Neben all diesen Eigenschaften hatte er, so Arlidge, Charisma. Und Weitblick. Er drapierte, wie der Journalist und Autor Walt Mossberg enthüllte, selbst bei Privatvorführungen ein Tuch über ein Produkt – eine tadellose neue Kreation auf einem glänzenden Konferenztisch –, das er dann mit einer theatralischen Geste wegzog.
Apple ist nicht der größte Technik-Innovator der Welt. Nicht annähernd. Der Konzern versteht sich vielmehr gut darauf, die Ideen anderer Leute aufzubereiten. Er hat nicht als Erster einen PC herausgebracht (IBM). Und auch kein Smartphone (Nokia). Tatsächlich lief es, wenn man sich dann doch mal an Innovationen wagte, oft schief. Erinnert sich noch jemand von Ihnen an den Newton oder den Power Mac G4 Cube?
Doch Jobs hatte Stil. War gewandt und hatte einen zeitlosen, technologischen Charme. Er rollte den Verbrauchern den roten Teppich aus. Von Wohnzimmern, Büros, Design-Studios, Film-Sets – Was immer Sie wollen! – bis hin zu den Türen der Apple-Läden überall auf der Welt.
Mentale Härte
Apples Rückschläge auf dem Weg zur Weltherrschaft (tatsächlich schien es in der Anfangszeit so, als sei alles für die Katz gewesen) erinnern an die Fallen und Stolpersteine, die uns alle im Leben erwarten. Bei niemandem läuft alles glatt. Jeder streckt jemanden zu Boden, wie es im Leonard-Cohen-Song heißt. Und es könnte sehr gut sein, dass es eines schönen Tages Sie selbst trifft.
Psychopathen haben keinerlei Problem damit, andere mit dem Boden Bekanntschaft machen zu lassen. Sie können allerdings auch ziemlich gut einstecken – wenn das Schicksal sich wendet und sie sich in der Schusslinie befinden. Und diese mentale Härte, diese unschätzbare Gleichgültigkeit angesichts der Schicksalsschläge des Lebens ist etwas, das vielleicht uns allen auf die eine oder andere Weise guttun würde.
James Rilling, außerordentlicher Professor für Anthropologie an der Emory University, hat dies im Labor demonstriert und im Rahmen eines Gefangenendilemma-Experiments wie dem in Kapitel 3 beschriebenen ein merkwürdiges Paradoxon in Bezug auf Psychopathen entdeckt.136 Wie nicht anders zu erwarten, zeigten die Psychopathen bei diesem Experiment eine verstärkte Neigung zur »Defektion«, zur Ablehnung von Kooperation, was wiederum dazu führte, dass ihre Gegenspieler (entsprechend der Dynamik des »Kooperierens und Defektierens«) mehr Streitlust und Aggression an den Tag legten.
Doch die Sache ist die. Psychopathen lassen sich einfach nicht so leicht aus der Ruhe bringen, wenn das Blatt sich wendet. Kam es zu Rückschlägen, d. h. zu Situationen, in denen die Kooperationsbereitschaft der Probanden mit hohen Psychopathiewerten nicht erwidert wurde, entdeckten Rilling und seine Mitarbeiter etwas Interessantes in deren Gehirnen. Verglichen mit den »netteren«, faireren Probanden war die Aktivität in der Amygdala der Psychopathen stark reduziert: ein eingetragenes neuronales Warenzeichen für »die andere Wange hinhalten« ... das sich manchmal auf sehr ungewöhnliche Weise manifestieren kann.
»Als Jugendliche hatten wir einen Wettbewerb«, schaltet Jamie sich ein. »Sehen, wer am häufigsten an einem Abend eine Abfuhr bekommt. Von Mädchen, weißt du – obwohl wir, wenn der alte Birdseye dabei gewesen wäre, die Spielregeln ein bisschen hätten abändern müssen.«
Larry sieht mich verlegen an.
»Und derjenige, dem das, bis es wieder hell wurde, am häufigsten passiert war, würde beim nächsten Mal alles spendiert bekommen.
Natürlich hast du dann versucht, so viele wie möglich zusammenzukriegen. Dich besaufen können, wenn deine Kumpels dir alles bezahlen? Besser geht’s nicht. Aber das Komische war: Sobald du ein paar getrunken hattest, wurde die Sache wirklich schwieriger. Sobald du merkst, dass ja eigentlich alles egal ist, fängst du an, großspurig zu werden. Du fängst an, rumzuprahlen. Und einige von den Vögelchen fangen an, dich für den großen Macker zu halten!«
Zeig, dass dich die Abfuhr nicht juckt, und schon hast du den Schlamassel.
Furchtlosigkeit
Jamie und seine Kumpel sind nicht die ersten, die die Verbindung zwischen Furchtlosigkeit und mentaler Härte ziehen.
So haben Lee Crust und Richard Keegan von der University of Lincoln aufgezeigt, dass die Mehrheit der risikobereiten Menschen bei Tests, in denen es um die allgemeine »mentale Härte« geht, eine höhere Punktzahl erzielen als risikoscheue Menschen – wobei Punkte auf der Subskala Herausforderung/Offenheit für Erfahrung der größte Prädiktor für physische Risikobereitschaft und Punkte auf der Subskala Selbstvertrauen der größte Prädiktor für psychische Risikobereitschaft sind.137 Und von beidem haben Psychopathen mehr als genug.
Erinnern Sie sich an die Worte von Andy McNab im vorangehenden Kapitel? Du weißt, dass es sehr gut möglich ist, dass du bei einer Mission dein Leben verlierst; du weißt, dass die Wahrscheinlichkeit besteht, dass du von feindlichen Truppen gefangen genommen wirst; du weißt, dass es durchaus passieren kann, dass du und dein Fallschirm von turmhohen Wellen in irgendeinem schäumenden fremden Ozean verschluckt werden. Aber »Scheiß drauf«. Du machst weiter. Denn das bringt das Kriegshandwerk nun einmal mit sich.
Dass Mitglieder von Spezialeinheiten furchtlos und mental hart sind (und das in einem psychopathischen Ausmaß, wie die Ergebnisse derjenigen zeigen, die ich getestet habe), steht außer Zweifel. Tatsächlich halten die Ausbilder während des bestialischen Auswahlverfahrens (das sich über einen Zeitraum von neun Monaten erstreckt und das nur eine Handvoll Kandidaten bestehen) nach genau diesen Eigenschaften Ausschau – wie einige der Albträume belegen, die man dort durchleben muss.
Das folgende Beispiel, das mir einer von denjenigen erzählte, die sich durchgesetzt hatten, bietet einen guten Einblick in die Art von mentaler Härte, die die Spreu vom Weizen trennt, und veranschaulicht die Denkweise, ja die außergewöhnliche psychische Verfassung derer, die sich letztlich behaupten.
»Es ist nicht die Gewalt, die dich fertig macht«, erklärt er. »Es ist die Androhung von Gewalt. Der Gedanke – der sich wie ein Krebsgeschwür in deinem Kopf ausbreitet –, dass etwas Schreckliches passieren wird. Und das sehr bald.«
Dann beschreibt er eine Situation im Detail – mit dem Ergebnis, dass ich nie wieder einen Auspuff reparieren werde:
»In diesem Stadium ist der Kandidat normalerweise erschöpft ... Das Letzte, was er dann sieht, bevor wir ihm die Kapuze über den Kopf ziehen, ist der zwei Tonnen schwere Truck. Wir legen den Typen auf den Boden, und während er dort liegt, hört er, wie der Truck näher kommt. Nach etwa dreißig Sekunden ist er direkt über ihm – der Motor nur Zentimeter von seinem Ohr entfernt. Wir lassen den Motor ordentlich aufheulen, und dann springt der Fahrer raus. Er knallt die Tür zu und geht weg. Der Motor läuft noch. Kurz danach fragt jemand von irgendwo in der Ferne, ob die Handbremse angezogen ist. Daraufhin rollt ein Teammitglied – das, ohne dass der Typ mit der Kapuze es wusste, die ganze Zeit da gewesen ist – sanft einen Ersatzreifen über dessen Schläfe. Mit der Hand. Nach und nach erhöht es den Druck. Ein anderes Teammitglied dreht den Motor des Trucks ein bisschen hoch, damit man den Eindruck gewinnt, der Truck würde sich bewegen. Nach wenigen Sekunden nehmen wir den Reifen weg und entfernen die Kapuze. Dann gehen wir auf den Typen los ... Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Leute an diesem Punkt das Handtuch werfen.«
Ich erzähle den Jungs – Danny, Larry, Jamie und Leslie – von der Situation, in der ich selbst eine kleine Kostprobe von der Härte des SAS-Auswahlverfahrens bekam, und zwar während der Aufnahmen zu einem TV-Pilotfilm. Während ich gefesselt am Boden einer kalten, schwach beleuchteten Lagerhalle lag, beobachtete ich – starr vor Entsetzen –, wie ein Gabelstapler eine Palette mit Eisenbeton ein paar Meter über meinem Kopf schweben ließ ... und sie dann herunterließ, sodass die scharfe, grobe Unterseite einen leichten Druck auf meine Brust ausübte. Sie verharrte dort zehn bis 15 Sekunden lang, bevor ich den Bediener lautstark das unheimliche Quietschen der Hydraulik kommentieren hörte. »Mist, der Mechanismus klemmt. Ich kann ihn nicht bewegen ...«
Anschließend klärte man mich nach einem warmen Bad darüber auf, dass zu keinem Zeitpunkt auch nur die geringste Gefahr bestanden hatte. Tatsächlich war der »Stahlbeton« überhaupt kein Beton gewesen. Vielmehr hatte es sich um angemaltes Styropor gehandelt. Und der Mechanismus hatte gut funktioniert. Aber das wusste ich in dem Moment natürlich nicht. So wie die Kandidaten der Spezialeinheiten, die beim Auswahlverfahren große Torturen über sich ergehen lassen müssen, bestimmte Dinge auch nicht wissen. Im jeweiligen Moment sind sie für den Betroffenen entsetzlich real.
Jamie ist jedoch nicht im Geringsten beeindruckt. »Doch selbst, wenn der Mechanismus geklemmt hätte«, meint er, »heißt das noch lange nicht, dass die Gabelarme auf dich draufkrachen, oder? Es heißt nur, dass du für eine Weile dort feststeckst. Und wenn schon. Weißt du, ich hab darüber nachgedacht. Es heißt, Mut sei eine Tugend, stimmt’s?
Was aber, wenn du keinen Mut brauchst? Was dann? Was, wenn du überhaupt keine Angst hast? Wenn du keine Angst hast, brauchst du keinen Mut, um sie zu überwinden. Die Beton- und Reifenstunts hätten mir nichts ausgemacht, Kumpel. Das sind nur Psychospielchen. Aber die machen mich nicht mutig. Wie sollen sie auch, wenn mich das alles kaltlässt.
Deswegen verstehe ich das einfach nicht. Mir scheint, dass die Leute deswegen die ganze Zeit über Mut reden, weil sie glauben, Mut zu brauchen, um das Level zu erreichen, auf dem ich von Natur aus funktioniere. Du magst es als Tugend bezeichnen. Aber meiner Meinung nach ist es ein Talent, das die Natur dir mitgegeben hat. Mut ist nichts weiter als emotionales Blutdoping.«
Achtsamkeit
Einem psychopathischen Glatzkopf von 1,88 Meter auf einem Sofa gegenüberzusitzen, während er einen ziemlich großen psychischen Magneten an der Seite deines moralischen Kompasses anbringt, ist nicht gerade angenehm. Natürlich bin ich mir der Überzeugungskünste der Psychopathen bewusst, glaube aber dennoch, dass Jamie nicht ganz unrecht hat. Möglicherweise tun Psychopathen das, was »Helden« gegen die gedämpften synaptischen Schreie fest verdrahteter Überlebensinstinkte unternehmen, einfach im Stillen – ohne auch nur ins Schwitzen zu kommen. Und damit die Kompassnadel sich noch schneller dreht, bringt Larry ein weiteres existentielles Rätsel zur Sprache.
»Aber es geht nicht nur um Funktionalität, oder?«, meint er. »Die Sache mit der Angst oder wohl eher mit dem, was ich unter Angst verstehe – denn um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass ich je Angst gehabt habe –, ist doch die: In den meisten Fällen ist sie völlig ungerechtfertigt. Wie heißt es so schön? Neunzig Prozent der Dinge, über die die Menschen sich Sorgen machen, passieren nie. Was soll das Ganze dann?
Ich glaube, das Problem ist, dass die Leute so viel Zeit damit verbringen, sich Gedanken darüber zu machen, was passieren könnte, dass sie völlig die Gegenwart aus den Augen verlieren. Sie übersehen einfach die Tatsache, dass im Moment alles vollkommen in Ordnung ist. Ganz deutlich wird das bei dieser Verhörgeschichte. Was hat dieser Typ dir noch gesagt? Nicht die Gewalt macht dich fertig, sondern die Androhung von Gewalt. Warum also nicht im Augenblick leben?
Ich meine, denk mal darüber nach. Wie Jamie gesagt hat: Als du unter diesem Betonklotz gelegen hast – oder dem, was du für einen Betonklotz gehalten hast –, ist dir eigentlich nichts Schlimmes passiert, oder? Okay, ein Himmelbett wäre vielleicht bequemer gewesen. Und wenn du geschlafen hättest, hätte das auch nichts an der Situation geändert.
Was dich wahnsinnig gemacht hat, war deine Fantasie. Dein Gehirn befand sich im Schnellvorlaufmodus und du hast dir alle möglichen Katastrophen vorgestellt, die passieren könnten. Aber nicht passiert sind.
Der Trick ist also der, dein Gehirn wann immer möglich davon abzuhalten, dir vorauszueilen. Wenn du das konsequent tust, wirst du dich früher oder später auch von der Vorstellung verabschieden, dass du immer mutig sein musst.«
»Du kannst deine Fantasie aber auch zu deinem Vorteil nutzen«, schaltet sich Danny ein. »Wenn du dich das nächste Mal in einer Situation befindest, die dir Angst macht, dann denk einfach: Angenommen, ich würde mich nicht so fühlen. Was würde ich dann tun? Und dann tu es einfach.«
Guter Rat – wenn man den Mumm hat, ihn zu befolgen.
Wenn man Jamie, Leslie und Danny so zuhört, könnte man glatt meinen, man säße drei alten Buddhisten gegenüber, die schon ein großes Stück des achtfachen Pfads zum Nirwana zurückgelegt haben. Natürlich haben sie das nicht. Doch die Gedanken in der Gegenwart zu verankern und sich ausschließlich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, ist eine Disziplin sowohl der Psychopathie als auch der spirituellen Erleuchtung.
Mark Williams, Professor für klinische Psychologie am Department of Psychiatry der University of Oxford, bezieht dieses Prinzip des Sich-Zentrierens in sein Programm der achtsamkeitsbasierten kognitiven Verhaltenstherapie (CBT) für Menschen mit ein, die unter Ängsten oder Depressionen leiden.138
»Achtsamkeit ist im Grunde genommen Buddhismus mit poliertem Holzfußboden, oder?«, nehme ich Mark in seinem Büro im Warneford Hospital auf den Arm.
Er bietet mir ein klebriges Rosinenbrötchen an.
»Sie vergessen die Scheinwerfer und den Plasmafernseher«, kontert er. »Aber Sie haben natürlich recht, in einem Großteil der Theorie und Praxis spürt man den Einfluss des Ostens.«
Mark nennt mir ein Beispiel dafür, wie die achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie jemandem dabei helfen könnte, eine Phobie zu überwinden. Wie z. B. die Angst vorm Fliegen. Jamie, Leslie und Danny hätten es nicht besser ausdrücken können.
»Eine Möglichkeit«, erklärt Mark, »wäre vielleicht die, den Betreffenden in ein Flugzeug zu bringen und neben jemanden zu setzen, der es einfach liebt, hoch oben in der Luft zu sein. Während des Flugs führen Sie dann bei beiden einen Gehirnscan durch. Der eine zeigt ein glückliches Gehirn, der andere ein ängstliches. Ein Gehirn im völligen Angstzustand.
›Diese beiden Bilder‹, sagen Sie ihnen, ›repräsentieren genau das, was im Moment, in ebendiesem Augenblick, in Ihren Gehirnen vor sich geht. Und da sie so unterschiedlich sind, bedeutet offensichtlich keins von beiden irgendetwas, oder? Keines sagt etwas über den Zustand des Flugzeugs aus. Diese Wahrheit können uns nur die Motoren verraten. Das Einzige, was diese Bilder repräsentieren, die Sie da in Händen halten, ist ein Gehirnzustand. Ein Gefühl. Nicht mehr und nicht weniger. Was Sie fühlen, ist nichts weiter als das: ein Gefühl. Ein neuronales Netzwerk, ein elektrisches Ensemble, eine chemische Konfiguration, verursacht durch Gedanken in Ihrem Kopf, die wie Wolken kommen und gehen.
Wenn Sie sich also dazu durchringen können, diese Tatsache zu akzeptieren, Ihre innere virtuelle Realität unvoreingenommen zu betrachten, die Wolken vorbeiziehen zu lassen, damit ihre Schatten andernorts fallen, und sich stattdessen nur auf das konzentrieren, was unmittelbar um Sie herum geschieht – auf jede einzelne Sekunde und jedes einzelne Geräusch in Ihrer Umgebung, jeden Sinneseindruck –, dann dürfte sich Ihr Zustand im Lauf der Zeit verbessern.‹«
Handeln
Das pragmatische Befürworten der Prinzipien und Praktiken der Achtsamkeit, das wir bei Jamie und den Jungs erlebt haben – wenn auch nicht unbedingt der Art von Achtsamkeit, die ein angesehener Professor aus Oxford rühmt –, ist typisch für Psychopathen. Die gierige Neigung, im Augenblick zu leben, »das Morgen abzuschütteln und das Heute mit auf eine Vergnügungsfahrt zu nehmen« (wie Larry es formuliert), ist bekannt – und kann zeitweise (abgesehen von den therapeutischen Auswirkungen) erstaunlich nützlich sein.
Man braucht nur an die Finanzwelt zu denken. Don Novick war 16 Jahre lang als Börsenhändler tätig und hat in dieser Zeit keinen einzigen Cent verloren. Zufällig ist er auch ein Psychopath. Inzwischen ist Novick mit nur 46 Jahren im Ruhestand, lebt zurückgezogen im schottischen Hochland, füllt seinen Weinkeller und sammelt alte Uhren.
Ich nenne Don einen Psychopathen, weil er sich selbst so bezeichnet. Zumindest tat er das bei unserer ersten Begegnung. Um sicherzugehen, beschloss ich, ein paar Tests durchzuführen. Die Ergebnisse waren positiv.
In einem der Salons seines abgelegenen, aus der Zeit Jakobs I. stammenden Schlosses – die Auffahrt ist so lang, dass ein paar Tankstellen keine schlechte Idee wären – stelle ich Don sozusagen die Million-Dollar-Frage. Was genau macht einen erfolgreichen Börsenhändler aus?139 Mich interessiert nicht so sehr der Unterschied zwischen gut und schlecht, betone ich. Eher zwischen gut und wirklich gut.
Don nennt zwar keine Namen, zögert aber nicht, die Frage objektiv zu beantworten. Von einem analytischen Standpunkt aus.
»Einer der größten Unterschiede zwischen guten und wirklich guten Händlern zeigt sich meiner Meinung nach darin, wie sie drauf sind, wenn das Spiel vorbei ist, wenn die Börse schließt und sie Feierabend machen«, erklärt er mir. »Der Börsenhandel ist ein Job, der einen völlig kaputtmachen kann, wenn man auch nur im Geringsten mental verwundbar ist. Ich habe Händler am Ende einer harten Sitzung weinen oder sich übergeben sehen. Der Druck, das Umfeld, die Leute ... das ist alles ziemlich brutal.
Doch wenn die Jungs, die es bis ganz nach oben geschafft haben, am Ende des Tages aus der Tür hinausgehen, dann weißt du einfach nicht, was mit ihnen los ist. Du siehst ihnen nicht an, ob sie ein paar Milliarden gemacht haben oder ob ihr gesamter Bestand gerade den Bach runtergegangen ist.
Und genau das ist es, kurz gesagt. Genau das macht einen guten Händler aus. Bei diesem Job darfst du es auf keinen Fall zulassen, dass irgendein Mitglied des emotionalen Leitungsgremiums von deinem Gehirn an die Tür des Sitzungssaals klopft, in dem die Entscheidungen getroffen werden, geschweige denn, sich am Konferenzstisch niederlässt. Du musst unbarmherzig und ohne Reue auf den gegenwärtigen Moment fokussiert bleiben. Du darfst nicht zulassen, dass das, was gestern geschehen ist, Einfluss darauf hat, was heute passiert. Wenn du das tust, wirst du im Handumdrehen untergehen. Wenn du zu emotionalem Katzenjammer neigst, überlebst du keine zwei Sekunden auf dem Börsenparkett.«
Dons Ausführungen, die auf sechzehn Jahren Erfahrung auf diesem Parkett basieren, erinnern stark an die im Labor gewonnenen Ergebnisse der »Glücksspielstudie« von Baba Shiv, Antoine Bechara und George Loewenstein. Logisch betrachtet war es natürlich richtig, in jeder Runde zu investieren. Doch im Lauf des Spiels zogen einige der Probanden es schließlich vor, ihre Gewinne zurückzuhalten. Sie begannen mit anderen Worten, »in der Vergangenheit zu leben« – und erlaubten es den Mitgliedern des emotionalen Leitungsgremiums in ihrem Gehirn, an die Tür des Sitzungssaals zu klopfen, wie Don es formuliert hat.
Ein schlechter Schachzug.
Andere Probanden lebten jedoch weiterhin in der Gegenwart – und konnten bei Abschluss der Studie eine ziemlich gesunde Gewinnmarge vorweisen. Diese »funktionellen« Psychopathen, wie Antoine Bechara sie nannte – Menschen, die ihre Gefühle entweder besser unter Kontrolle haben als andere oder keine so intensiven Gefühle erleben –, investierten weiter und verhielten sich in jeder neuen Runde so, als sei es die erste.
Seltsamerweise erzielten sie nach und nach immer größere Erfolge. Und besiegten, genau wie Don es sicherlich vorausgesagt hätte (ja, tatsächlich voraussagte, als ich ihm von diesem Experiment erzählte), ihre eher zurückhaltenderen, risikoscheuen Rivalen.
Doch da endet die Geschichte noch nicht. Als die Boulevardpresse vor mehreren Jahren erstmals von dieser Studie berichtete, brachte sie eine Schlagzeile, die selbst wieder ein paar Schlagzeilen nach sich zog: »Gesucht: Psychopathen, die einen Mordsgewinn auf dem Markt machen.« Don zufolge verbirgt sich hinter dieser Überschrift eine tiefere Aussage.
»Ein professioneller Mörder wie beispielsweise ein Scharfrichter empfindet wahrscheinlich gar nichts, nachdem er jemandem das Leben genommen hat«, erklärt er. »Reue oder Bedauern kommen sicher nicht ins Spiel. Ähnlich ist es bei Börsenhändlern. Wenn einer von ihnen einen Handel abschließt, bezeichnet er das als ›Exekution‹. Das ist der übliche Handelsjargon. Und sobald eine solche ›Exekution‹ erfolgt ist, hat der wirklich gute Händler – der Typ, an dem Sie interessiert sind – keinerlei Gewissensbisse, die Sache hinter sich zu lassen. Er denkt nicht nach über das Warum und Wozu, das Für und Wider: ob es richtig oder falsch war. Und das, wie gesagt, völlig unabhängig davon, wie der Handel gelaufen ist – ob er ein paar Milliarden gemacht hat oder die Sache den Bach runtergegangen ist. Eine Beteiligung zu veräußern ist eine klinische Entscheidung, ohne nachfolgende Gefühle, ohne psychische Nachwirkungen ...
Ich glaube, der Gedanke, professionell zu töten, ob auf dem Markt oder andernorts, erfordert die Fähigkeit, alles auszuschalten und sich voll und ganz auf den anstehenden Job zu konzentrieren. Und anschließend, wenn der Job erledigt ist, einfach wegzugehen und die Sache vollkommen zu vergessen.«
In der Vergangenheit zu leben ist natürlich nur eine Seite der Gleichung. Ebenso hinderlich kann es sein, in der Zukunft zu leben, »vorschnell zu handeln« und es unserer Fantasie zu erlauben, sich auszutoben – wie meine Vorstellungskraft es unter diesem Betonklotz, oder was immer es auch war, getan hatte. Studien zum kognitiven und emotionalen Fokus im Kontext dysfunktionaler Entscheidungen haben Folgendes gezeigt: Wann immer wir alltägliches Verhalten bewerten – einen Kopfsprung in einen Swimmingpool, das Abnehmen des Telefonhörers und das Überbringen von schlechten Nachrichten –, die »vorgestellte« potenzielle Realität verursacht bedeutend mehr Unbehagen als die »reale«.140
Was natürlich unseren unstillbaren Drang erklärt, Dinge immer wieder aufzuschieben.
Etwas, das Psychopathen nie tun.
Weshalb sie, wie Richard Blake, mein Gastgeber im Broadmoor und Mitglied des klinischen Teams im Paddock Centre, bei meiner Ankunft gesagt hatte, leicht zu Aktivitäten zu bewegen sind. Psychopathen müssen etwas tun. Nichtstun ist keine Option.
»Für mich ist es absolut wichtig, dass ich mich gut fühle«, hatte Danny gesagt, als er sein viertes Tor für Chelsea reinknallte. »Ich liebe es, die Fahrt auf der Achterbahn des Lebens, das Drehen des Glücksrads bis zum Äußersten.«
Er runzelte die Stirn und rückte seine Baseballkappe zurecht. »Oder zumindest hab ich das getan, bis ich hierherkam«, sagte er mit einem Achselzucken.
Diese Aussage ist für einen Psychopathen nicht untypisch – und es könnte uns sicher nicht schaden, uns von dieser Haltung eine Scheibe abzuschneiden.
»Als ich noch klein war«, erzählt Larry, »sind wir in den Sommerferien immer nach Hastings gefahren. Eines Tages – ich werde es nie vergessen – hab ich meiner Schwester dabei zugesehen, wie sie im Meer gespielt hat. Und da kam diese riesige Welle und hat sie getroffen. Sie ist schreiend aus dem Wasser gelaufen, und das war’s. Sie ist nie wieder hineingegangen. Als ich sah, was passiert war – und ich kann damals nicht älter als sieben oder acht gewesen sein –, habe ich mir gesagt: Wenn du an der Stelle stehst, an der die Wellen brechen, tut das ganz schön weh. Also hast du zwei Möglichkeiten. Du kannst entweder am Strand bleiben und überhaupt nicht ins Wasser gehen oder aber tiefer hinein, wo die Wellen dich hochheben und dann hinter dir brechen.«
Jamie steht auf.
»Natürlich darfst du nicht zu weit hinausgehen«, knurrt er. »Sonst wirst du an den Strand gespült.«
SOS-Mentalität
»Na, du weißt ja, wo du mich findest. Ich laufe schon nicht weg.«
Jamie und ich schütteln uns die Hand. Ich habe ihm gerade gesagt, dass ich auf jeden Fall bei ihm vorbeischaue, wenn ich das nächste Mal hier bin, und er hat mich ins Bild gesetzt, wo ich ihn normalerweise antreffe. Larry und Leslie haben sich bereits verabschiedet. Leslie mit einem dramatischen Kniefall. Larry mit einem zackigen Salut. Vielleicht war der alte Junge früher doch mal ein Seebär. Danny widmet sich wieder dem Fußball.
Zurück in den Gängen und Sicherheitsschleusen, die die DSPD-Stationen mit der Außenwelt verbinden, fühle ich mich ein bisschen wie ein Astronaut beim Wiedereintritt in die Atmosphäre.
»Alles gut gelaufen?«, fragt Richard, während wir uns wieder zu den Vororten der klinischen Psychologie durchschlagen.
Ich lächle. »Hab mich schon beinahe heimisch gefühlt.«
Im Zug nach London studiere ich die Gesichtsausdrücke der um mich Sitzenden. Die meisten von ihnen sind Pendler auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Einige wirken angespannt und besorgt, andere müde und abgespannt. Man sieht nicht viele Gesichter wie diese in der Psychopathenschule.
Ich starte den Laptop und tippe ein paar Gedanken ein. Als wir etwa eine Stunde später in den Bahnhof einfahren, habe ich die Vorlage für das, was ich als »SOS«-Mentalität bezeichne: die psychischen Fähigkeiten, sich ins Zeug zu legen (Strive), Hindernisse zu überwinden (Overcome) und erfolgreich zu sein (Succeed).
Ich nenne diese Fähigkeiten die sieben Siegermerkmale – sieben Grundprinzipien der Psychopathie, die uns, wenn wir sie in Maßen und mit der gebotenen Sorgfalt und Aufmerksamkeit nutzen, dabei helfen können, genau das zu bekommen, was wir wollen; uns helfen können, den Herausforderungen des modernen Lebens zu begegnen, statt auf sie zu reagieren; uns vom Opfer zum Sieger werden lassen, ohne uns in einen Schurken zu verwandeln:
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Skrupellosigkeit
- Charme
- Fokussierung
- Mentale Härte
- Furchtlosigkeit
- Achtsamkeit
- Handeln
Ohne jeden Zweifel liegt die Macht dieser Fähigkeiten darin, wie sie im jeweiligen Moment eingesetzt werden. In bestimmten Situationen wäre zwangsläufig mehr von bestimmten Merkmalen nötig als in anderen; wobei es innerhalb dieser Situationen natürlich Momente gäbe, die – um zu unserer vertrauten Analogie vom Mischpult zurückzukehren – einen höheren oder niedrigeren Pegel der jeweiligen Merkmale verlangen würden. Die Regler für Skrupellosigkeit, mentale Härte und Handeln höher zu drehen, könnte Sie zum Beispiel durchsetzungsfähiger machen – Ihnen mehr Respekt von Ihren Kollegen einbringen. Stellen Sie sie zu hoch ein, riskieren Sie es jedoch, sich in einen Tyrannen zu verwandeln.
Dann sollte man natürlich auch in der Lage sein, die Regler wieder herabzuregeln – Merkmale ein- und auszublenden und den Soundtrack angemessen zu gestalten. Wenn z. B. der Anwalt, dem wir in Kapitel 4 begegnet sind, im Alltagsleben so skrupellos und unerschrocken gewesen wäre, wie er es offensichtlich im Gerichtssaal ist, hätte er bald selbst einen Anwalt gebraucht.
Das Geheimnis war zweifellos der Kontext.
Es ging nicht darum, ein Psychopath zu sein. Es ging darum, ein Psychopath mit Methode zu sein. Fähig zu sein, in diese Rolle zu schlüpfen, wenn die Situation es verlangte, und sie anschließend wieder abzulegen.
Genau das war der Punkt, an dem es bei Jamie und den Jungs schiefgelaufen war. Sie hatten keine Probleme, die Regler höher zu stellen. Ihre standen permanent auf maximal – ein Herstellungsfehler mit ausgesprochen unerfreulichen Folgen.
Wie Jamie bei meinem ersten Besuch im Broadmoor gesagt hatte, besteht das Problem mit Psychopathen nicht darin, dass sie durch und durch böse sind. Ironischerweise trifft genau das Gegenteil zu. Sie haben zu viel von einer guten Sache.
Das Auto an sich ist unwiderstehlich. Aber es ist einfach zu schnell für die Straße.