5 Mach mich zum Psychopathen

Die großen Epochen unseres Lebens liegen dort,

wo wir den Muth gewinnen, unser Böses

als unser Bestes umzutaufen.

Friedrich Nietzsche

The Times They Are A-Changin’

Wenn man schon so lange zu den Größen seiner Zunft zählt wie Bob Hare, hat man das Recht, ein bisschen wählerisch zu sein, mit wem man bei Konferenzen herumhängt. Als dann 2011 die alle zwei Jahre stattfindende Konferenz der Society for the Scientific Study of Psychopathy in Montreal bevorstand und ich dem ehrenwerten Professor eine E-Mail schrieb, um ein Treffen zu vereinbaren, hielt ich es für das Beste, förmlich zu bleiben. Sollte es zwischen den einzelnen Sitzungen ein Zeitfenster geben, wir wäre es dann mit einem Kaffee?, fragte ich vorsichtig.

Die Antwort folgte prompt. »Ich ziehe einen guten Scotch vor. Sie finden mich in der Hotelbar. Ich gebe einen aus.«

Genau so war es dann auch.

Ich beschließe, behutsam vorzugehen. »Wie hoch ist denn Ihre Punktzahl bei der PCL-R, Bob?«, frage ich bei einem 21 Jahre alten Single Malt.

Er lacht.

»Oh, sehr niedrig«, sagt er. »Ich bringe es auf ein oder zwei Punkte. Meine Studenten haben mir schon gesagt, ich solle ein bisschen mehr daran arbeiten. Aber ich habe vor nicht allzu langer Zeit etwas wirklich ›Psychopathisches‹ getan. Ich habe mir einen brandneuen Sportwagen geleistet. Einen BMW.«

»Toll!«, sage ich. »Vielleicht haben Ihre Studenten mehr Einfluss auf Sie, als Ihnen bewusst ist.«

Meine zweite Frage ist ernsthafter:

»Wenn Sie sich umschauen und unsere moderne Gesellschaft betrachten, glauben Sie dann, dass wir im Allgemeinen psychopathischer werden?«

Dieses Mal nimmt sich der berühmte Mann ein wenig mehr Zeit mit seiner Antwort. »Ja, ich denke schon, dass unsere Gesellschaft im Allgemeinen psychopathischer wird«, sagt er. »Ich meine, heutzutage finden Entwicklungen statt, die vor zwanzig oder auch noch vor zehn Jahren noch nicht zu beobachten waren. Kinder lernen nicht mehr, was normales sexuelles Verhalten ist, weil sie so früh mit der Pornographie im Internet in Berührung kommen. Rent-a-Friend-Websites werden immer populärer, weil die Leute entweder zu beschäftigt oder zu gereizt sind, um echte Freundschaften zu schließen. Und neulich habe ich einen Bericht gelesen, der den signifikanten Anstieg der Anzahl rein weiblicher Gangs mit der zunehmend gewalttätigen Natur der modernen Videospielkultur in Verbindung brachte.97 Wenn man nach Beweisen dafür sucht, dass die Gesellschaft psychopathischer wird, dann ist der jüngste Anstieg der weiblichen Kriminalität meiner Meinung nach besonders aufschlussreich. Und fangen Sie mir bloß nicht mit der Wall Street an!«

Hares Standpunkt leuchtet jedem ein, der auch nur ein flüchtiges Interesse an dem hat, was er in der Zeitung liest, im Fernsehen sieht oder zufällig online mitbekommt. 2011 trennte sich ein siebzehnjähriger Japaner von einer seiner Nieren, um sich ein iPad kaufen zu können. Als in China ein zweijähriges Kind mitten auf einem Markplatz nicht nur einmal, sondern zweimal überfahren wurde, während Passanten sorglos ihren Geschäften nachgingen, reichte eine entsetzte Wählerschaft bei der Regierung eine Petition ein, ein sogenanntes »Good Samaritan«-Gesetz zu erlassen, das zur Hilfeleistung verpflichtet. Damit soll verhindert werden, dass so etwas je wieder passiert.

Andererseits ist schon immer und in jeder Gesellschaft Schlimmes geschehen. Und wird zweifellos weiterhin geschehen. Dies zeigt auch der Harvard-Psychologe Steven Pinker in seinem Buch ›Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit‹ auf.98 Allerdings behauptet Pinker darin sogar, dass die Gewalt nicht zunehme, sondern immer weiter zurückgehe. Dass grausame Morde und andere abscheuliche Verbrechen es nicht deswegen auf die Titelseiten unserer Zeitungen schaffen würden, weil sie so alltäglich seien, sondern weil das genaue Gegenteil zuträfe.

Nehmen wir z. B. den Tatbestand des Totschlags. Beim Durchforsten von Gerichtsprotokollen einer Reihe europäischer Länder haben Wissenschaftler festgestellt, dass die Totschlagrate im Lauf der Jahrhunderte drastisch gesunken ist.99 Im Oxford des 14. Jahrhunderts schien im Vergleich zu heute jeder ein Totschläger zu sein: Damals lag die Rate bei 110 Morden pro 100 000 Menschen pro Jahr verglichen mit nur einem Mord pro 100 000 Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts in London. Ähnliche Muster sind auch für Italien, Deutschland, die Schweiz, die Niederlande und Skandinavien belegt.100

Dasselbe gilt für den Krieg.101 Pinker zufolge starben selbst im konfliktgeschüttelten 20. Jahrhundert von den rund sechs Milliarden weltweit lebenden Menschen nicht mehr als 40 Millionen auf den Schlachtfeldern – was einem Prozentsatz von 0,7 entspricht. Rechnet man noch all jene hinzu, die kriegsbedingten Krankheiten und Hungersnöten sowie Völkermord zum Opfer fielen, steigt die Zahl der Toten auf 180 Millionen. Das klingt nach viel, macht aber nur rund drei Prozent aus und ist damit statistisch gesehen immer noch relativ unbedeutend.

Dies verdeutlicht ein Vergleich mit der entsprechenden Zahl für vorgeschichtliche Gesellschaften, nämlich sage und schreibe 15 Prozent. Der verletzte Schädel des Neandertalers, den Christoph Zollikofer und seine Kollegen im Südwesten Frankreichs ausgegraben haben, ist nur die Spitze des Eisbergs.

Angesichts dieser Prozentsätze stellen sich sofort folgende zwei Fragen: Wie passen diese Zahlen zu der Vorstellung – einer intuitiven, jedoch empirisch spekulativen Vorstellung –, dass die Gesellschaft immer psychopathischer wird? Und wodurch sind im Lauf der Jahre unsere mörderischen, gewalttätigen Impulse so dramatisch gedämpft worden?

Die offensichtliche Antwort auf letztere Frage – oder zumindest diejenige, die wohl die meisten Menschen bereitwillig als Erklärung aus der Schublade ziehen würden – ist das Gesetz. 1651 behauptete Thomas Hobbes im ›Leviathan‹ als Erster, dass wir uns ohne staatliche Kontrollen, also Kontrollen von oben nach unten, in einen Haufen roher Wilder verwandeln würden – eine Vorstellung, die mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthält. Pinker argumentiert jedoch eher aus einer Bottomup-Perspektive. Er leugnet zwar keinesfalls die Wichtigkeit von Gesetzen, weist andererseits aber auf einen allmählichen kulturellen und psychologischen Reifeprozess hin.

So schreibt Pinker, dass die Europäer vermutlich »über mehrere Jahrhunderte hinweg, nämlich seit dem 11. oder 12. Jahrhundert und in ausgereifter Form im 17. und 18., ihre Impulse zunehmend unter Kontrolle hielten, die langfristigen Folgen ihrer Handlungen voraussahen und die Gedanken und Gefühle anderer Menschen berücksichtigten. Eine Kultur der Ehre – die Bereitschaft, Rache zu nehmen – machte einer Kultur der Würde Platz – der Bereitschaft, die eigenen Gefühle zu kontrollieren. Solche Ideale hatten ihren Ursprung in ausdrücklichen Anweisungen, die kulturelle Schiedsrichter den Aristokraten und Edelleuten gaben, damit diese sich von den ungehobelten Bösewichtern und Bauern abheben konnten. Dann aber schlossen sie die Sozialisation immer kleinerer Kinder ein, bis sie für diese schließlich zur zweiten Natur wurden. Die Maßstäbe sickerten auch ins Bürgertum ein, das die Oberschicht nachahmen wollte, und von dort gelangten sie in die unteren Schichten, sodass sie schließlich zu einem Teil der gesamten Kultur wurden.«102

Dies macht sowohl aus historischer als auch aus soziologischer Perspektive Sinn. Doch Pinkers Beobachtungen schließen auch eine Reihe von wichtigen Grundsätzen mit unmittelbareren Implikationen mit ein: subtile, soziobiologische Hinweise, die – nimmt man sie genauer unter die Lupe – möglicherweise dazu beitragen, ein interessantes kulturelles Paradoxon zu erklären und die erste unserer beiden Fragen zu beantworten: die Wahrnehmung einer Gesellschaft, in der einerseits ein Rückgang der Gewalt zu verzeichnen ist, die andererseits aber offensichtlich psychopathischer wird.

Betrachten wir z. B. die Bedeutung, die in Pinkers Erläuterungen dem »kulturellen Schiedsrichter« als Wegbereiter des ideologischen Wandels zugemessen wird. In der Vergangenheit wären diese Schiedsrichter traditionell Geistliche gewesen. Oder Philosophen. Oder Dichter. In manchen Fällen sogar Monarchen. Da wir heute jedoch in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft leben und das virtuelle Universum sich immer weiter ausdehnt, haben wir es mit einer völlig anderen Spezies zu tun: mit Popstars und Schauspielern sowie Medien- und Videospielmoguln, die, statt Würde auszustrahlen, diese nun auf dem Altar der kreativen Schizophrenie opfern.

Man braucht nur den Fernseher einzuschalten.

Doch die kulturelle Weitergabe normativer Verhaltensweisen stellt nur eine Seite von Pinkers soziobiologischer Gleichung dar. Ihre Annahme seitens der Gesellschaft als konventioneller Verhaltenskodex, der dann irgendwann »zur zweiten Natur wird«, ist eine völlig andere Geschichte.

Nehmen wir z. B. die Finanzindustrie. Gier und Korruption hat es im Big Business schon immer gegeben – von den Kriegsgewinnlern im amerikanischen Sezessionskrieg bis zu den Insiderhandel-Skandalen im kapitalistischen, thatcheristischen Großbritannien der späten 1980er-Jahre. Doch zusammen mit dem neuen Millennium wurde allem Anschein nach eine nie da gewesene Ära der Wirtschaftskriminalität eingeläutet. Investitionsschwindel, Interessenkonflikte, Fehlurteile sowie die Evergreens unter den unternehmerischen Partytricks, Betrug und Veruntreuung, haben ein nie da gewesenes Ausmaß angenommen.

Unternehmensanalysten führen mehrere Gründe für das derzeitige verpestete Wirtschaftsklima an. Gier – das Rückgrat des Gekkoismus – ist natürlich einer davon. Ein anderer das sogenannte »Guerilla-Accounting«. Während die Wall Street und die London Stock Exchange von immer weiteren Gewinnen ausgingen und die Geschwindigkeit und Komplexität der Geschäfte exponentiell zunahmen, wurden Verschleierung und das Beugen von Recht unumgänglich.

»Angesichts von sehr viel komplexeren Wertpapieren, Buchhaltungsgepflogenheiten und Geschäftsvorgängen«, sagt der Wirtschaftsanwalt Seth Taube, »ist es viel leichter, einen Betrug zu verschleiern.«103

Clive R. Boddy, ehemals Professor an der Nottingham Business School, nimmt kein Blatt vor den Mund und behauptet in einer der letzten Ausgaben des ›Journal of Business Ethics‹, dass die Verursacher des ganzen Problems die Psychopathen seien.104 Psychopathen, so erklärt Boddy mit Formulierungen, die an die von Bob Hare und Paul Babiak im vorherigen Kapitel erinnern, nutzen die »relativ chaotische Natur des modernen Unternehmens« aus, das durch »raschen Wandel, ständige Erneuerung« und eine hohe Fluktuation des »Schlüsselpersonals« gekennzeichnet ist. Diese Umstände ermöglichen es ihnen nicht nur, sich mithilfe einer Kombination von »extrovertiertem persönlichem Charisma und Charme« einen Weg in die Eckbüros großer Finanzinstitute zu bahnen, sondern sorgen auch dafür, dass »ihr Verhalten unsichtbar« bleibt, ja schlimmer noch, »sie lassen es so aussehen, als seien sie normale und sogar ideale Führungspersönlichkeiten«.

Seiner Analyse zufolge sind diese Unternehmens-Attilas, sobald sie es an die Spitze geschafft haben, »fähig, das moralische Klima der gesamten Organisation zu beeinflussen« und »beträchtliche Macht« auszuüben.

Boddy schließt seine Betrachtungen mit einer vernichtenden Anklage. Die Psychopathen, so sagt er, sind für die globale Finanzkrise verantwortlich, weil ihr »unbeirrbares Streben nach Selbstbereicherung und Selbstüberhöhung unter Missachtung aller anderen Erwägungen zur Aufgabe des altmodischen Konzepts des Noblesse oblige, der Gleichheit, der Fairness und einer echten unternehmerischen Sozialverantwortung geführt hat«.

Es lässt sich nicht leugnen, dass er durchaus recht haben könnte.

Andererseits sollten wir laut Charles Elson, dem Leiter des Weinberg Center for Corporate Governance an der University of Delaware, aber auch die Gesellschaft als Ganzes nicht unberücksichtigt lassen.105 Elsons Ansicht nach lässt sich die Schuld nicht allein den überbezahlten Top-Managern in die Schuhe schieben, sondern ist auch einer Kultur der moralischen Grenzüberschreitungen geschuldet, in der man es aufgrund eines übermäßigen Eigennutzprinzips mit der Wahrheit nicht so genau nimmt und moralische Grenzen völlig verschwimmen.

Der Wendepunkt war laut Elson – zumindest in den Vereinigten Staaten – Präsident Clintons Affäre mit Monica Lewinsky. Und die Tatsache, dass seine Regierung, seine Familie und (weitgehend auch) sein Vermächtnis relativ intakt blieben. Wie dem auch sei, Ehrgefühl und Vertrauen schwinden auch in anderen Bereichen weiter dahin. Die Polizei steht wegen ihres institutionellen Rassismus in der Kritik, der Sport wegen weitverbreiteten Dopings und die Kirche wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger.

Selbst das Rechtswesen bildet hier keine Ausnahme. Beim Prozess um die Entführung von Elizabeth Smart in Salt Lake City drängte der Anwalt von Brian David Mitchell – dem obdachlosen Straßenprediger und selbsternannten Propheten, der die vierzehnjährige Elizabeth entführt, vergewaltigt und neun Monate lang gefangen gehalten hatte (Smarts Aussage zufolge vergewaltigte er sie übrigens in dieser Zeit fast täglich) – den urteilenden Richter, seinem Mandanten gegenüber Nachsicht walten zu lassen, und zwar mit der Begründung: »Ms Smart hat es überstanden. Hat es überlebt. Hat es überwunden.«106

Wenn schon die Gerichte anfangen, solche Töne anzuschlagen, wo wird die Entwicklung dann hinführen?

Generation Ich

Bei Bier und Popcorn im Harvard Faculty Club erkläre ich Steven Pinker, dass wir vor einer Art Rätsel stehen. Denn einerseits gibt es Beweise dafür, dass die Gewalt in der Gesellschaft abnimmt, andererseits dafür, dass die Gesellschaft psychopathischer wird.

»Okay. Nehmen wir an, die Gesellschaft wird tatsächlich psychopathischer«, entgegnet er. »Das heißt nicht unbedingt, dass es auch eine Zunahme der Gewalt geben wird. Die Mehrzahl der Psychopathen ist, soweit ich sehe, nicht gewalttätig. Sie fügen anderen vor allem emotionalen und keinen physischen Schmerz zu ...

Sollte die Psychopathie wirklich irgendwann Fuß fassen, könnte es natürlich sein, dass wir, verglichen mit dem Ausmaß der Gewalt vor vierzig oder fünfzig Jahren einen minimalen Anstieg erleben. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass wir einen Unterschied im Gewaltmuster entdecken werden. Es wird vielleicht beliebiger. Oder instrumenteller.

Ich glaube, dass die Gesellschaft in höchstem Maße psychopathisch werden müsste, um wieder so gewalttätig zu werden, wie wir es z. B. im Mittelalter waren. Und aus einer rein praktischen Perspektive betrachtet, ist dieser Grad an Psychopathie einfach nicht erreichbar.

Es würde mich nicht im Geringsten überraschen, wenn sich herausstellte, dass es in den vergangenen Jahrzehnten zu subtilen Schwankungen im Persönlichkeitsstil oder im interpersonellen Stil gekommen ist. Doch wir haben die Sitten und die Etikette der modernen Zivilisation viel zu stark verinnerlicht, als dass sie durch einen Ausschlag oder, was wahrscheinlicher ist, durch einen Stups zur dunklen Seite unterminiert werden könnte.«

Pinker hat recht, wenn er sagt, dass Psychopathie langfristig nicht zukunftsfähig ist. Wie wir im vorangehenden Kapitel mithilfe der Spieltheorie gesehen haben, ist sie ein biologischer Blindgänger. Pinker hat auch recht damit, dass es subtile Veränderungen hinsichtlich der Motivation zu gewalttätigem Handeln gegeben haben könnte. In einer vor Kurzem vom Center for Crime and Justice am King’s College in London durchgeführten Studie wurden 120 verurteilte Straßenräuber gefragt, warum sie ihre Straftaten begangen hatten.107 Ihre Antworten sagten eine Menge über das moderne britische Straßenleben aus. Nervenkitzel. Spontaner Impuls. Status. Und finanzieller Gewinn – in ebendieser Reihenfolge. Genau das sorglose, gefühllose Verhalten, das man oft bei Psychopathen antrifft.

Erleben wir also die Entstehung einer sub-psychopathischen Minderheit, für die die Gesellschaft nicht existiert? Einer neuen Spezies von Individuen, für die es weitgehend keine sozialen Normen gibt, die keinen Respekt vor den Gefühlen anderer haben und gleichgültig gegenüber den Folgen ihres Handelns sind? Hat Pinker vielleicht recht mit den subtilen Schwankungen in der modernen Persönlichkeitsstruktur – und mit dem Stups zur dunklen Seite? Den Ergebnissen einer neueren, von Sara Konrath und ihrem Team am Institute for Social Research der University of Michigan durchgeführten Studie zufolge lautet die Antwort auf diese Fragen Ja.108

Bei einer Umfrage mit bislang 14 000 Probanden hat Konrath festgestellt, dass das Empathie-Level von Collegestudenten, so wie es von ihnen selbst eingeschätzt wird (gemessen mithilfe des Interpersonal Reactivity Index[31]109), während der vergangenen drei Jahrzehnte tatsächlich ständig abgenommen hat – seit der Einführung der Skala im Jahr 1979. Und dass in den vergangenen zehn Jahren ein besonders deutliches Absinken zu beobachten war.

»Heute haben die Collegestudenten rund 40 Prozent weniger Empathie als vor dreißig oder vierzig Jahren«, berichtet Konrath.110

Noch beunruhigender ist laut Jean Twenge, Professorin für Psychologie an der San Diego State University, dass sich das Narzissmus-Level der Studenten im selben Zeitraum in die andere Richtung entwickelt hat, d. h. enorm gestiegen ist.111

»Viele Menschen halten die derzeitige Gruppe von Collegestudenten, die manchmal ›Generation Ich‹ genannt wird, für eine der egoistischsten, narzisstischsten, konkurrenzbetontesten, selbstsichersten und individualistischsten in der neueren Geschichte«, fährt Konrath fort.112

Da überrascht es kaum, dass der ehemalige Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte, Lord Dannatt, vor Kurzem die Ansicht vertreten hat, dass eine »moralische Erziehung« als Teil der Grundausbildung von Rekruten sinnvoll sei, weil so vielen von ihnen ein grundlegendes Wertesystem fehle.

»Die jungen Leute sind viel weniger mit traditionellen Werten in Berührung gekommen als vorangehende Generationen«, sagt Dannatt.113 »Deswegen halten wir es für wichtig, dass [sie] eine moralische Basis erhalten.«

Schick sie zur Armee, hieß es früher von Straftätern. Die Zeiten sind vorbei, denn sie hat bereits genügend von der Sorte.

Warum es zu diesem Verfall der sozialen Werte kommen konnte, lässt sich nicht eindeutig sagen. Als Begründung wird üblicherweise gern eine Verkettung von Umwelt, Vorbildern und Erziehung genannt. Doch zu einer grundsätzlicheren Erklärung könnten uns vielleicht die Ergebnisse einer Studie verhelfen, die Jeffrey Zacks und sein Team am Dynamic Cognition Laboratory der Washington University in St. Louis durchgeführt haben.114

Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie schauten Zacks und seine Co-Autoren tief in die Gehirne einer Gruppe von Freiwilligen, während diese Geschichten lasen. Ihre Beobachtungen boten eine faszinierende Einsicht darin, wie unser Gehirn das Selbstgefühl konstruiert. Änderungen des Aufenthaltsorts der Figuren (z. B. »ging aus dem Haus auf die Straße«) waren mit einer erhöhten Aktivität in den Regionen der Schläfenlappen verbunden, die für die räumliche Orientierung und Wahrnehmung verantwortlich sind, während Veränderungen in Bezug auf die Interaktion der Figur mit Objekten (z. B. »nahm einen Stift in die Hand«) zu einer ähnlich erhöhten Aktivität in einer Region der Stirnlappen führte, die bekanntermaßen eine wichtige Rolle bei der Kontrolle von Greifbewegungen spielt. Die wichtigste Beobachtung war jedoch folgende: Änderungen in Bezug auf die Zielsetzung einer Figur erhöhten die Aktivität in Bereichen des präfrontalen Kortex. Ist dieser geschädigt, ist das Wissen um Ordnung und Struktur geplanten, bewussten Handelns eingeschränkt.

Die Fantasie, so scheint es, spielt wirklich eine entscheidende Rolle. Wann immer wir eine Geschichte lesen, »simulieren wir mental jede neue Situation, der wir begegnen«, so die Forschungsleiterin Nicole Speer. Unser Gehirn verwebt diese neuen Situationen dann mit Wissen und Erfahrungen aus unserem eigenen Leben und erschafft damit ein organisches Mosaik dynamischer mentaler Synthesen.

Die Lektüre eines Buches gräbt brandneue neuronale Pfade in das alte kortikale Gestein unseres Gehirns. Sie verändert unsere Art, die Welt zu sehen. Sie macht uns, wie Nicholas Carr es in seinem Essay ›The Dreams of Readers‹ formuliert, »aufmerksamer gegenüber dem Innenleben anderer«.115

Wir werden zu Vampiren, ohne gebissen zu werden. Mit anderen Worten, empathischer. Bücher helfen uns, auf eine Weise zu sehen, wie es das flüchtige Eintauchen ins Internet und dessen schnelllebige virtuelle Welt nicht vermögen.[32]116

Schuldig, aber nicht verantwortlich

In Montreal kippen Bob Hare und ich einen weiteren Whisky. Im Zusammenhang mit dem Thema Empathie und Perspektivenübernahme sprechen wir auch über das Aufkommen des sogenannten »Neurorechts«, einer Unterdisziplin, die sich aufgrund eines zunehmenden Interesses der Gerichte an den Neurowissenschaften entwickelt.117

Im Jahr 2002 wurde eine Studie veröffentlicht, die einen Wendepunkt markierte.118 Dort hieß es, dass ein funktioneller Polymorphismus eines Gens, das den Metabolismus von Neurotransmittern im Gehirn beeinflusst, zu einer Prognose für psychopathisches Verhalten bei Männern führt, die als Kind misshandelt wurden. Das fragliche Gen – von den Medien, wie bereits erwähnt, »Kriegergen« getauft – kontrolliert die Produktion eines Monoaminooxidase-A (MAOA) genannten Enzyms. Geringe Dosen davon waren zuvor mit aggressivem Verhalten bei Mäusen in Verbindung gebracht worden.

Doch Avshalom Caspi und Terrie Moffitt vom Institute of Psychiatry am King’s College in London gingen noch einen Schritt weiter und entdeckten im Rahmen einer bahnbrechenden Studie, die Kinder während der Adoleszenz bis hinein ins Erwachsenenalter begleitete, ein ähnliches Muster beim Menschen. Jungen, die missbraucht oder vernachlässigt werden und eine Variante des Gens besitzen, das für geringe MAOA-Level verantwortlich ist, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sich mit zunehmendem Alter in Psychopathen zu verwandeln. Produzieren Jungen mit einem ähnlich dysfunktionalen Umfeld jedoch größere Mengen von diesem Enzym, kommt es selten zu derlei Problemen.

Die Implikationen dieser Entdeckung sind bis in die Gerichtssäle gedrungen und könnten eine Neufassung der fundamentalen Regeln von Verbrechen und Strafe nach sich ziehen.119 Ob wir »gut« oder »schlecht« sind, hat teilweise mit unseren Genen zu tun und teilweise mit unserer Umwelt.

Sind wir also, da wir uns keins von beidem aussuchen können, überhaupt in irgendeiner unserer Entscheidungen frei?

2006 rief Wylie Richardson, der Strafverteidiger von Bradley Waldroup, Professor William Bernet, einen forensischen Psychiater der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, in den Zeugenstand.120

Richardsons Job war nicht einfach.

Waldroup war wegen eines der brutalsten und abscheulichsten Verbrechen in der Geschichte Tennessees angeklagt. Nachdem seine Noch-Ehefrau ihn mit den vier gemeinsamen Kindern und ihrer Freundin in seinem Wohnwagen aufgesucht hatte, rastete Waldroup, seinen eigenen Aussagen zufolge, aus. Er schnappte sich sein Kleinkalibergewehr, schoss der Freundin seiner Noch-Ehefrau acht Kugeln in den Rücken und schlitzte ihr dann mit einer Machete den Kopf auf. Dann ging er mit der Machete auf seine Frau los, hackte ihr den Finger ab und stach und schlug wiederholt auf sie ein, bevor er seine Taktik änderte und sie mit einer Schaufel bewusstlos schlug.

Wie durch ein Wunder überlebte seine Frau. Ihre Freundin jedoch nicht. Was hieß, dass Waldroup, falls er für schuldig befunden wurde, die Todesstrafe erwartete.

Richardson, der beweisen wollte, dass Waldroup nicht schuldig war, packte die Sache so an. »Trifft es zu«, fragte er Bernet, »dass der Angeklagte Träger einer Variation des Gens ist, das für niedrige MAOA-Level verantwortlich ist?«

»Ja«, erwiderte Bernet.

»Trifft es auch zu«, fuhr Richardson fort, »dass er als Kind von seinen Eltern wiederholt heftig geschlagen wurde?«

»Ja«, erwiderte Bernet.

»Inwieweit ist dann der Mann, der vor Ihnen steht, voll und ganz für sein Handeln verantwortlich?«, bohrte Richardson weiter. »Inwieweit wird sein freier Wille durch seine genetische Prädisposition untergraben?«

Es war eine wegweisende Frage – vor allem für Bradley Waldroup, dessen Existenz ja auf dem Spiel stand.

Die Antwort war ebenso wegweisend. Sie reichte nach Ansicht des Gerichts, um Bradley von vorsätzlichem Mord frei und des Totschlags im Affekt schuldig zu sprechen. Sie bewirkte, dass Geschichte geschrieben und mithilfe der Wissenschaft der Verhaltensgenetik ein ansonsten sicheres Todesurteil abgewendet wurde.

Das Thema des Neurorechts kam auch zur Sprache im Kontext einer umfassenderen Diskussion über das neue Arbeitsfeld Kultur-Neurowissenschaft: das Studium dessen, wie sich gesellschaftliche Werte, Praktiken und Überzeugungen herausbilden und wie sie durch genetische, neuronale und psychologische Prozesse über Zeiten und Kulturen hinweg geformt werden.121 Falls die Gesellschaft tatsächlich psychopathischer wurde, war dann bereits ein Gen damit beschäftigt, mehr Psychopathen zu produzieren?, fragte ich mich. Oder war es vielmehr so, dass Bräuche und Sitten zu einem Teil der Kultur und für den Menschen schließlich zur zweiten Natur wurden, wie Steven Pinker dies in seinen Ausführungen zur »Kultur der Würde« erklärt hatte?

Hare ist der Ansicht, dass wahrscheinlich beides eine Rolle spielt: dass Psychopathen im Moment sozusagen einen Lauf haben und dass ihr Verhalten in dem Maße normativer wird, indem sie erfolgreicher werden. Er weist auf das Aufkommen der Epigenetik hin – einen neuen Zweig der Genetik, der sich, einfach gesagt, mit Veränderungen von Genaktivitäten beschäftigt, die keine strukturellen Veränderungen des genetischen Codes per se beinhalten, aber dennoch an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.122 Diese Muster der Genexpression werden von kleinen »Schaltern« gesteuert, die oben auf dem Genom sitzen. Es liegt eher am Herumhantieren mit diesen Schaltern als an einer komplizierten inneren Neuverdrahtung, dass Umweltfaktoren wie Ernährung, Stress und sogar pränatale Ernährung eine Rolle spielen. Wie durch mutwillige biologische Poltergeister werden unsere Gene an- und abgeschaltet und lassen ihre Anwesenheit in Arealen spürbar werden, die uns schon vor Urzeiten von unseren Vorfahren vererbt wurden.

Hare erzählt mir von einer Studie, die in den 1980er-Jahren in Schweden durchgeführt wurde.123 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte Överkalix, eine entlegene Gemeinde im Norden des Landes, mit einer Folge von schlechten und unvorhersehbar guten Ernten zu kämpfen. Hungerjahre wurden von Jahren mit reichen Ernten abgelöst.

Als die Wissenschaftler die landwirtschaftlichen Archive durchforsteten und die gewonnenen Daten dann mit Daten aus dem Gemeinderegister verglichen, entdeckten sie etwas sehr Geheimnisvolles: ein epidemiologisches Vererbungsmuster, das die Genetik auf den Kopf stellte. Die Söhne und Enkel von Männern, deren Präpubertät[33] mit einer Zeit der Hungersnot zusammenfiel, hatten ein vermindertes Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung (wie Schlaganfall, hoher Blutdruck oder Koronarproblemen) zu sterben. Im Gegensatz dazu hatten die Söhne und Enkel von Männern, deren Präpubertät mit reichen Erntejahren zusammenfiel, ein erhöhtes Risiko, diabetesbedingten Erkrankungen zu erliegen.

Es war unglaublich. Ohne dass sie Einfluss darauf hatten nehmen können, war bei nachfolgenden Generationen von Söhnen und Enkeln die kardiovaskulare und endokrinologische Zukunft durch die zufälligen ökologischen Gegebenheiten einer längst vergangenen Zeit festgelegt worden. Einer Zeit noch vor ihrer Geburt.

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Ist es also möglich«, frage ich in dem Versuch, alles miteinander zu verknüpfen – Pinker und seine kulturellen Schiedsrichter, Boddy und seinen Unternehmens-Attila sowie den ganzen epigenetischen Kram –, »dass Psychopathen den Würfel haben rollen lassen und dass inzwischen immer mehr von uns ihn mit ihnen rollen lassen?«

Hare bestellt noch eine Runde Whisky.

»Nicht nur das«, sagt er. »Wenn die Epigenetik im Lauf der Zeit hinter den Kulissen damit anfängt, sich einzumischen, werden diese Würfel auch zunehmend gezinkt sein. Es besteht kein Zweifel daran, dass es Elemente der psychopathischen Persönlichkeit gibt, die sich ideal dazu eignen, an die Spitze zu gelangen. Und sobald sie dort angekommen sind, können sie natürlich bestimmen, wo es langgeht ... Denken Sie nur an das, was an der Wall Street passiert ist ... Das war eine Entwicklung von oben nach unten. Doch während diese Entwicklung Fuß fasst, befähigt sie diejenigen auf niedrigeren Ebenen des Managements, denen es am besten gelingt, mit ihr fertig zu werden, sich nach oben zu arbeiten ...

In den Sechzigerjahren gab es einen Schriftsteller namens Alan Harrington, der glaubte, der Psychopath sei die nächste Stufe der Evolution: der nächste Trick, den die natürliche Auslese auf Lager hat, während die Gesellschaft sich schneller verändert und der Zusammenhalt lockerer wird.124 Vielleicht hatte er recht. Im Moment lässt sich das überhaupt noch nicht sagen. Aber in den Genetiklabors wird zurzeit zweifellos an interessanten Dingen gearbeitet.

Habe ich Ihnen von dieser wissenschaftlichen Arbeit erzählt, die zeigt, dass Menschen mit einem hohen Testosteronspiegel und langen Allelen auf ihren Serotonin-Transportergenen eine verminderte Amygdalareaktion zeigen, wenn sie sich durch soziale Dominanz bedroht sehen?125

Da haben Sie Ihr potenzielles Psychopathen-Gen. Sie haben alles in einem: einen hohen Aggressions- und ein niedriges Angstlevel ...«

Gary Gilmore’s Eyes

Ich schaue auf meine Armbanduhr. Es ist kurz nach neun und die Bar füllt sich. Witzigerweise ist gerade ›Gary Gilmore’s Eyes‹ von den Adverts zu hören – ein Postpunk-Song aus den 1970er-Jahren, in dem der Sänger darüber nachsinnt, wie es wäre, durch Gary Gilmores Augen zu blicken.126 Eine interessante Frage – auf die auch jemand die Antwort kennt. Gilmore hatte darum gebeten, dass seine Augen nach seiner Hinrichtung zu Transplantationszwecken freigegeben würden. Wenige Stunden nach seinem Tod wurden seinem Wunsch gemäß zwei Menschen seine Hornhäute verpflanzt.

Gilmore gehörte zu den Superpsychopathen der Kriminalgeschichte, war eines dieser seltenen Exemplare der Spezies, bei denen alle Regler am Mischpult auf maximal gestellt sind. Im Winter 1977 wurde der ehemalige amerikanische Schuhverkäufer in der kleinen und ansonsten wenig bemerkenswerten Stadt Draper im Bundesstaat Utah hingerichtet. Im Juli des vorangegangenen Jahres hatte er aus Gründen, die ihm nicht ganz klar waren, an einer Tankstelle ein paar Meilen die Straße hoch den Tankwart erschossen und war anschließend mit seiner Freundin ins Kino gegangen. Am nächsten Tag schoss er dann als Zugabe einen Motel-Angestellten aus nächster Nähe in den Kopf.

Sechs Monate später hatte im Utah State Prison sein letztes Stündchen geschlagen – nach einer Henkersmahlzeit aus Hamburgern, Eiern und Kartoffeln. Dem Erschießungskommando gehörten fünf Personen an. Der Gefängnisdirektor zog die Lederstreifen um Gilmores Kopf und Brust fest. Und befestigte eine kreisförmige Stoff-Zielscheibe über seinem Herzen. Dann verließ er den Hinrichtungsraum und presste das Gesicht gegen die kühle, klare Glasscheibe des Beobachtungszimmers.

Gilmore konnte jetzt nur noch ein Wunder retten, eine Begnadigung in letzter Minute. Und damals gab es in Draper nicht so häufig Wunder oder Begnadigungen. Außerdem hatte Gilmore einige Monate zuvor seine Berufung zurückgenommen, weil er wirklich sterben wollte, wie er seinem Anwalt gesagt hatte.

Es war acht Uhr morgens, als das Erschießungskommando zu den Gewehren griff. Bevor der Gefängnisdirektor Gilmore (der Tradition entsprechend) eine schwarze Cordkapuze über den Kopf stülpte, fragte er ihn (ebenfalls der Tradition entsprechend), ob er noch etwas sagen wolle.

Gilmore starrte geradeaus, die Augen kälter als die eines weißen Hais.

»Bringen wir es hinter uns«, sagte er.

Als der Song zu Ende geht, wende ich mich etwas nachdenklich Hare zu. »Ich frage mich, wie es wäre, durch Gilmores Augen zu blicken«, sage ich. »Ich meine – in echt. Wenn jemand Sie in einen Psychopathen verwandeln könnte, würden Sie es zulassen?«

Er lacht. »Inzwischen vielleicht schon«, sagt er gedehnt. »In meinem Alter. Aber man müsste mir zuerst meine BMW-Schlüssel wegnehmen!«

Wir leeren unsere Gläser und gehen unserer Wege. Der Song hat mich auf einen Gedanken gebracht, und während ich durch die Straßen von Old Montreal ziehe, geht mir eine völlig verrückte Idee durch den Kopf. Was war mit dieser Studie von Ahmed Karim: derjenigen, in der er die Menschen zu besseren Lügnern gemacht hatte, indem er die transkranielle Magnetstimulation auf den Bereich ihres Gehirns, nämlich den anterioren präfrontalen Kortex, anwandte, der an der moralischen Entscheidungsfindung beteiligt ist?

Wenn man einen der Regler höher einstellen kann, wieso dann nicht noch mehrere andere?

Magnetische Persönlichkeit

Die transkranielle Magnetstimulation (TMS) wurde 1985 von Anthony Barker und seinen Kollegen an der University of Sheffield entwickelt.127 Doch die Ursprünge der Wissenschaft von der elektrischen Stimulation von Nerven und Muskeln liegen weit vor dieser Zeit. Schon in den 1780er-Jahren, also 200 Jahre vor Barker, entdeckten der italienische Anatom und Arzt Luigi Galvani und sein Landsmann Alessandro Volta mithilfe eines einfachen elektrischen Generators und eines Paars Froschschenkel, dass die Nerven keine Wasserleitungen waren, wie Descartes vermutet hatte, sondern elektrische Leiter, die Informationen durch das Nervensystem beförderten.

Seit damals hat die Forschung große Fortschritte erzielt. Während die ursprüngliche Anwendung der TMS durch Barker und sein Team eine einfache Demonstration der Weiterleitung von Nervenimpulsen vom Motorkortex zum Rückenmark beinhaltete, sieht die Sache heute ganz anders aus: TMS wird im Zusammenhang mit einer Vielzahl neurologischer und psychiatrischer Leiden, angefangen von Depression über Migräne und Schlaganfälle bis hin zu Parkinson umfassend genutzt, sowohl zu diagnostischen als auch zu therapeutischen Zwecken.

Die Grundprämisse der TMS lautet, dass das Gehirn mithilfe elektrischer Signale arbeitet. Und dass sich seine Arbeitsweise wie bei jedem derartigen System modifizieren lässt, indem man sein elektrisches Umfeld ändert. Die TMS-Standardausrüstung besteht aus einem leistungsstarken Elektromagneten, der am Schädel angebracht wird und in bestimmten, vorher festgelegten Abständen fortlaufend Magnetfeld-Pulse erzeugt, sowie aus einer von Kunststoff umgebenen Spule, die diese Magnetfeld-Pulse durch den Schädel hindurch zu ganz bestimmten Hirnregionen leitet, sodass der darunter liegende Kortex stimuliert wird.

Nun, eines wissen wir über Psychopathen: dass die Lichtschalter ihres Gehirns anders verkabelt sind als die Lichtschalter von uns Übrigen – und dass ein besonders stark beeinträchtigter Bereich die Amygdala ist, eine erdnussgroße Struktur mitten im Zentrum der Schaltplatte. Bei der Amygdala handelt es sich, wie wir an früherer Stelle gelernt haben, um den Emotions-Kontrollturm des Gehirns. Sie überwacht unseren emotionalen Luftraum und ist dafür verantwortlich, wie wir Dinge empfinden. Bei Psychopathen ist derjenige Teil des Luftraums, der der Angst entspricht, jedoch leer.

Im Rahmen der Lichtschalter-Analogie können wir uns die TMS als einen Helligkeitsregler vorstellen. Während wir Informationen verarbeiten, erzeugt unser Gehirn kleine elektrische Signale. Diese Signale werden nicht nur durch unsere Nervenzellen geleitet, um unsere Muskeln zu aktivieren, sie schlängeln sich auch wie flüchtige elektrische Datenschwärme tief durch unser Gehirn und erzeugen unsere Gedanken, Erinnerungen und Gefühle. TMS kann die Stärke dieser Signale verändern. Indem wir einen elektromagnetischen Strom durch genau festgelegte Bereiche des Kortex schicken, können wir diese Signale entweder verstärken oder abschwächen – diesen Datenschwärmen auf ihrem Weg helfen oder ihren Fortschritt behindern.

Wenn man die Signale abschwächt, die zur Amygdala und – wie in dem von Ahmed Karim und seinen Kollegen von der Universität Tübingen durchgeführten Experiment – zu dem Gehirnbereich geleitet werden, der an der moralischen Entscheidungsfindung beteiligt ist, dann ist man auf dem besten Weg, jemanden zum Psychopathen »umzustylen«. Tatsächlich haben Liane Young und ihr Team am MIT die Sache noch einen Schritt vorangetrieben und demonstriert, dass die Anwendung der TMS auf die rechte temporoparietale Übergangsregion nicht nur bedeutende Auswirkungen auf die Fähigkeit zu lügen, sondern auch auf die moralische Urteilskraft hat.128 Insbesondere, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob dem Handeln anderer Absicht zugrunde liegt.

Ich rufe meinen alten Kumpel Andy MacNab an. Er unternimmt gerade mit seiner Harley V-Rod Muscle einen einwöchigen Trip durch die Wüste von Nevada.

»Keine Helme!«, brüllt er.

»Hey, Andy«, sage ich. »Lust auf eine kleine Herausforderung, wenn du zurück bist?«

»Na klar! Worum geht’s denn?«

»Wie wär’s, wenn wir beide Seite an Seite im Labor liegen und unsere Kaltblütigkeit testen lassen würden? Und ich würde dich schlagen?«

Die Antwort ist ein irres Lachen.

»Gefällt mir«, sagt er. »Die Wette gilt! Aber es gibt da ein kleines Problem, Kev. Wie zum Teufel willst du das hinkriegen?«

»Ganz einfach«, sage ich.

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Andy MacNab war wohl der berühmteste britische Soldat der Streitkräfte Ihrer Majestät, bis Prince Harry 2005 in Eton seinen Poloschläger an den Nagel hängte. Während des Ersten Golfkriegs befehligte er Bravo Two Zero, einen achtköpfigen SAS-Stoßtrupp, der Informationen über Kommunikationskanäle zwischen Bagdad und dem Nordwesten des Iraks sammeln und entlang der irakischen Hauptversorgungsroute Abschussrampen für Scud-Raketen orten und zerstören sollte.

Doch schon bald hatten die Jungs wichtigere Dinge zu tun. Wenige Tage, nachdem man sie dort eingesetzt hatte, wurde der Stoßtrupp von einem Ziegenhirten, der seine Herde hütete, entdeckt. Und nahm in althergebrachter Manier die Beine in die Hand: 185 Meilen durch die Wüste in Richtung der syrischen Grenze.

Nur einer von ihnen schaffte es. Drei wurden getötet und die anderen vier, einschließlich Andy, an verschiedenen Punkten von Irakern aufgegriffen. Nur so viel zu ihren Kidnappern: Keiner von ihnen sollte je eine eigene Chat-Show haben ... oder in die Annalen der kosmetischen Chirurgie eingehen. Es herrscht allgemeine Einigkeit darüber, dass es bessere Wege gibt, jemanden zu beruhigen, als ihm eine Zigarette auf dem Nacken auszudrücken. Und bessere Methoden, ihm den Kiefer zu brechen und zu remodellieren, als mit dem Kolben eines AK-47. Dank fortgeschrittenerer Techniken zu Hause in Großbritannien gibt es jetzt in Andys Mund mehr Porzellan als in allen Badezimmern des Buckingham Palace zusammen.

Und er sollte es wissen. 1991 ging er dorthin, um sich bei der Königin die Distinguished Service Medal abzuholen.

Diese Verdienstmedaille war nur der Anfang. 1993 erzählte Andy in einem Buch mit dem Titel ›Die Männer von Bravo Two Zero‹ die Geschichte des Stoßtrupps in all ihren grauenvollen Einzelheiten – und schuf damit praktisch über Nacht das Genre und die Form der modernen militärischen Memoiren.129 Laut den Worten des befehlshabenden Offiziers der Special Air Services (SAS) wird die Geschichte von Bravo Two Zero »immer ein Teil der Regimentsgeschichte bleiben«.

Das war kein Scherz. Tatsächlich ist sie nun Teil einer breiteren kulturgeschichtlichen Entwicklung geworden – und Andy zu einem Markennamen.

Als ich mich vor mehreren Jahren bei einem Nachtflug nach Sydney über Afghanistan befand, entdeckte ich durch die Lücken in der Wolkendecke tief unten in der gefährlichen Dunkelheit zwischen den Bergen des Hindukusch winzige Lichtpunkte. Was zum Teufel ist das?, fragte ich mich. Die flackernden Lagerfeuer nomadischer Hirten? Die geheimen Verstecke einäugiger Taliban-Warlords?

Und prompt schaltete der Pilot die Sprechanlage ein: »Diejenigen von Ihnen, die auf der rechten Seite des Flugzeugs sitzen«, intonierte er, »sollten noch die Laptops der Jungs vom SAS erkennen, die ihre neuesten Bestseller raushauen.«

Die Sprechanlage wurde wieder ausgeschaltet. Und alle lachten. Andy hätte auch gelacht, wenn er mit im Flieger gewesen wäre. Aber ich glaube, wir flogen damals über seinen Kopf hinweg.

Eines der ersten Dinge, die einem bei Andy auffallen, und das sehr schnell, ist, dass er sich einen feuchten Kehricht um irgendetwas schert. Nichts ist ihm heilig. Und nichts bringt ihn auch nur im Geringsten aus der Fassung.

»Ich war ein paar Tage alt, als sie mich fanden«, erklärt er bei unserer ersten Begegnung am Bahnhof London Bridge. »Nur um die Ecke hier, auf den Stufen von Guy’s Hospital. Offenbar war ich in eine Harrods-Tüte eingewickelt.«

»Du machst wohl Witze«, sage ich. »Im Ernst?«

»Ja«, erwidert er. »Ungelogen.«

»Shit«, sage ich. »Unglaublich. Ich hab mir dich eher als TK-Maxx-Typ vorgestellt.«

»Du Mistkerl!«, brüllt er. »Der war gut. Gefällt mir.« Wir haben uns aus Anlass einer Radiosendung getroffen, die ich für die BBC mache. Die Sendung heißt »Extreme Persuasion« (Extreme Überredungskünste),130 und ich bin neugierig zu erfahren, ob sich bestimmte psychopathische Merkmale beim SAS möglicherweise als nützlich erweisen. Wie z. B., sich einen Dreck um irgendetwas zu scheren. Ich werde nicht enttäuscht. Falls Sie vorhaben, zum SAS zu gehen, verrate ich Ihnen etwas: Wenn Sie ein Problem mit Ihrer Herkunft haben, sollten Sie besser zu Hause bleiben.

»Mit als Erstes fallen dir dort die Sticheleien auf. Jeder zieht ständig über jeden her. Macht sich über ihn lustig. Und wie bei den meisten Sachen im Regiment gibt es dafür einen guten Grund.131 Wenn du gefangen genommen wirst, sollst du dich, wie man uns beibringt, völlig bedeckt halten. Du sollst so tun, als seist du müde und total neben der Spur. Denen, die dich verhören, den Eindruck vermitteln, dass du überhaupt nichts weißt. Dass du für sie kaum von Nutzen bist.

Wenn [die, die dich gefangen nehmen] nicht ganz dumm sind, fangen sie an, nach Schwachpunkten zu suchen. Sie halten nach der winzigsten Reaktion Ausschau – flüchtigen Mikro-Ausdrücken, winzigen Augenbewegungen –, die deinen wahren Geisteszustand verraten könnte. Und wenn sie etwas finden, glaub mir, Kumpel, dann war’s das. Das Spiel ist aus. Sagen wir mal so: Wenn du ein Problem mit deiner Schwanzgröße hast, ist es wahrscheinlich sehr unangenehm, in einem irakischen Verhörzimmer auf diesen Schwachpunkt gestoßen zu werden.

Im Regiment kennt man keine Gnade. Das Aufeinander-Rumhacken hat seinen Sinn. Es ist eine effiziente Art, die psychische Immunität zu stärken. Es härtet dich ab gegen den Mist, den sie dir an den Kopf werfen, wenn sie dich gefangen nehmen. Es ist die richtige Art von Boshaftigkeit, wenn du verstehst, was ich meine. Außerdem gibt es nichts Besseres, als jemanden so richtig schön zu verarschen, oder?«

Vermutlich nicht. Doch mentale Stärke ist nicht das einzige Merkmal, dass Soldaten von Spezialeinheiten mit Psychopathen gemein haben.

Da ist auch noch die Furchtlosigkeit.

Vor ein paar Jahren unternahm ich an einem wunderschönen Frühlingsmorgen aus mehr als dreieinhalbtausend Metern Höhe über dem Bondi Beach in Sydney meinen ersten Fallschirmsprung. Am Abend zuvor saß ich leicht mitgenommen in einer der Hafenbars der Stadt und schickte Andy eine SMS mit der Bitte um Rat in letzter Minute.

»Halt die Augen offen. Und kneif den Arsch zusammen«, lautete die Antwort.

Was ich dann auch tat. Mehr oder weniger. Doch dieses Kunststück bei Nacht in einem Kriegsgebiet über einem tobenden Ozean aus der zweifachen Höhe zu vollbringen, und das mit einer 100 kg schweren Ausrüstung, ist eine ganz andere Sache.

Und als würde das nicht reichen, muss man auch noch mit dem Verarschtwerden fertig werden. Selbst in einer Höhe von über 9000 Metern geht da die Post ab.

»Wir haben immer rumgeflachst«, erinnert Andy sich. »Rumgealbert. Wir haben zum Beispiel unsere Ausrüstung abgeworfen und dann probiert, ob wir sie einholen können. Oder wir haben einander auf dem Weg nach unten von hinten umklammert und geguckt, wer als Erster den Schwanz einzieht – wer als Erster ausschert und die Reißleine zieht. Wir hatten echt Spaß.«

Na, wenn du meinst, Andy.

Nichts mit Spaß zu tun hatte jedoch das Töten. Ich frage Andy, ob er je wegen irgendetwas Bedauern empfunden habe. Wegen der Menschen, denen er bei seinen zahlreichen Geheimmissionen überall auf der Welt das Leben genommen hatte.

»Nein«, antwortet er nüchtern und seine eisblauen Augen verraten nicht die geringste Spur von Gefühl. »Du fackelst da nicht lange. Wenn du dich in einer gefährlichen Situation befindest, musst du abdrücken, bevor der andere Typ es tut. Und wenn du abgedrückt hast, ziehst du weiter. So einfach ist das. Warum dastehen und darüber nachdenken, was du getan hast? Wenn du das machst, läufst du Gefahr, dass das Letzte, was dir durch den Kopf geht, eine Kugel aus einem M16 ist.

Das Motto des Regiments lautet: ›Wer wagt, gewinnt‹. Aber manchmal kann man es auch verkürzen auf ›Scheiß drauf!‹.«

Kaltblütigkeit

Wenn man die Sache so sieht, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass diese Art von pathologischer Gelassenheit, von gewissenloser Gemütsruhe in gewissen Situationen wohl wirklich nützlich wäre – dass sie manchmal tatsächlich als adaptiv aufgefasst werden könnte. Colin Rogers, einer von Andys Landsleuten und ein ehemaliges Mitglied der berühmten SAS-Spezialeinheit, die 1980 während der Operation Nimrod sanft an die Fenster der iranischen Botschaft in London klopfte, teilt die Ansichten seines alten Kumpels. Inmitten des Staubs, des Feuers und der Trümmer, die das Eindringen in ein Gebäude mithilfe einer Sprengladung nun einmal mit sich bringt, einen Terroristen zu töten, ist nichts, worüber Soldaten der Spezialeinheit lange nachdenken – besonders, wenn sie sich eine hochmoderne Heckler-&-Koch-Maschinenpistole vom Typ MP5 mit einer Feuerrate von 800 Schuss pro Minute über die Schulter geschlungen haben und der Fehlerspielraum oft nur Millimeter beträgt. Kommt man frei zum Schuss, nutzt man die Chance. Man konzentriert sich. Man bleibt ruhig. Und drückt auf den Abzug. Zögern ist keine Option.

Der Trick scheint darin zu bestehen, dass man feuerfest ist. Dass man nicht nur fähig ist, in der Hitze des Gefechts zu handeln, sondern auch noch ganz simpel im entscheidenden Moment. Da geht es nicht an erster Stelle darum, wie heiß es gerade ist.

»Du stehst unter Strom. Natürlich tust du das«, erklärt Colin mir in seiner Stammkneipe im East End, die eindeutig bessere Tage gesehen hat. »Aber hierauf hast du dich seit Jahren vorbereitet. Hast sechs, sieben Stunden am Tag trainiert. Es ist wie Autofahren. Keine Fahrt ist genau wie die andere. Aber mit den meisten Eventualitäten wirst du ganz gut fertig. Du reagierst irgendwann automatisch. Du nutzt dein Urteilsvermögen. Aber auch das ist ein Produkt des Trainings. Es ist schwer, die Sache zu beschreiben. Du musst es miterlebt haben. Es ist, als hätte man ein geschärftes Bewusstsein für alles, was um einen herum geschieht. Wie das Gegenteil davon, betrunken zu sein. Gleichzeitig befindest du dich aber auch irgendwie außerhalb der Situation. So als würdest du dir einen Film ansehen.«

Er hat recht. Was er sagt, gilt nicht nur, wenn es um die Erstürmung von Botschaften geht. Erinnern Sie sich an die Worte des Neurochirurgen im vorangehenden Kapitel? »Ein Rausch, der die Sinne schärft, statt sie abzustumpfen«, so hat er den Zustand vor einer schwierigen Operation beschrieben. Tatsächlich sind in jeder Art von Krise oft diejenigen am effektivsten, die ruhig bleiben – die fähig sind, auf die Erfordernisse des Augenblicks zu reagieren und die nötige Distanz zu wahren.

Dies verdeutlicht vielleicht ein Interview, das ich mit einem Ausbilder der US Special Forces zu der Frage durchführte, aus welchem Holz ein Soldat geschnitzt sein muss, der nach einem der mörderischsten physischen und psychischen Auswahlverfahren der Welt in die Elitetruppe der US-Marine, die Navy Seals, aufgenommen wird. Die Truppe, die Bin Laden getötet hat.

»Wir haben wirklich alles getan, um diesen Typen kleinzukriegen. Um ehrlich zu sein, wir haben ihn sogar noch ein bisschen mehr bearbeitet als andere. Es wurde für uns zu einer Art Herausforderung. Außerdem wussten wir tief im Innern, dass er das aushalten konnte. Er wurde mit elf Jahren zur Waise, schlüpfte aber durchs Netz – sorgte für seinen jüngeren Bruder und seine Schwester und schlug sich irgendwie durch. Mit Stehlen. Dealen. Und anderen krummen Sachen. Als er sechzehn war, hat er dann jemanden so zusammengeschlagen, dass der ins Koma fiel. Und wurde eingebuchtet.

Weißes Rauschen. Schlafentzug. Reizentzug. Wasser. Stresspositionen. Alles. Wir haben nichts ausgelassen. Schließlich hab ich ihm nach achtundvierzig Stunden die Augenbinde abgenommen, bin ganz nah an ihn rangegangen, das Gesicht nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, und habe gebrüllt: ›Gibt es irgendetwas, das du mir sagen möchtest?‹

Zu meiner Überraschung und ich muss sagen, Enttäuschung – wie gesagt, dieser Kerl war stahlhart, und zu diesem Zeitpunkt waren wir eigentlich bereit, ihn bestehen zu lassen – sagte er Ja. Es gab etwas, das er sagen wollte.

›Was denn?‹, fragte ich.

›Sie sollten weniger Knoblauch essen, Mann‹, erwiderte er.

In meinen fünfzehn Jahren als Ausbilder bin ich da zum ersten Mal unachtsam geworden. Für eine Sekunde, den Bruchteil einer Sekunde, habe ich gelächelt. Ich konnte einfach nicht anders. Ich bewunderte diesen Typen einfach. Und wissen Sie, was? Der Typ hat es gesehen, obwohl er sich in diesem widerwärtigen, beschissenen Zustand befand.

Er hat es gesehen!

Er rief mich wieder zu sich heran, und in seinem Blick war reine, ich weiß nicht, Missachtung – oder was auch immer – zu lesen.

›Das Spiel ist aus‹, flüsterte er mir ins Ohr. ›Sie sind durchgefallen.‹

Was? Eigentlich hätte ich das zu ihm sagen sollen! Da wurde uns klar, dass er zu denen gehörte, die nicht kleinzukriegen sind. Zu den Härtesten der Harten ...

Aber er war ein skrupelloses verdammtes Arschloch. Und falls er ein Gewissen HATTE, ich habe es nie zu sehen bekommen. Er war eiskalt – egal, ob er die Waffe in der Hand hielt oder ob sie auf ihn gerichtet war. Was in diesem Metier nicht immer das Schlechteste ist ...«

McNab im Labor

Wie versprochen taucht Andy an einem bitterkalten Dezembermorgen beim Centre for Brain Science der University of Essex auf. Beim Eingang wartet der Mann auf uns, von dem wir uns in den nächsten Stunden peinigen lassen werden. Dr. Nick Cooper ist einer der weltweit führenden Kapazitäten auf dem Gebiet der TMS. Und so, wie er an jenem Morgen aussieht, kann man glatt denken, dass er sie vor allem bei sich selbst angewendet hat.

Nick führt uns ins Labor, wo uns zwei Seite an Seite stehende Lederstühle mit hoher Rückenlehne auffallen. Daneben die größte Papiertuchrolle der Welt. Ich weiß, wozu die Papiertücher dienen: um das überschüssige Kontaktgel wegzuwischen, das es den EEG-Elektroden, die Nick gleich anbringen wird, ermöglicht, die Signale aus der Tiefe unserer Gehirne einzufangen. Andy hingegen ist auf seine Vorstellungskraft angewiesen.

»Verdammt«, sagt er und deutet auf die Rolle. »Wenn das die Größe der Klorolle ist, dann bin ich hier raus!«

Nick führt uns zu den Stühlen und schnallt uns fest. Er schließt uns an Herzfrequenz-Monitore, EEG-Aufzeichnungsgeräte und Geräte zur Messung der elektrodermalen Aktivität an. Als er damit fertig ist, sehen wir zwei aus, als seien wir in einem riesigen Kabelkasten der Telekom gefangen. Das Gel für die Elektroden fühlt sich kalt am Schädel an, doch Andy beklagt sich nicht. Er hat inzwischen herausgefunden, wozu die übergroße Klorolle dient.

Rund drei Meter von uns entfernt befindet sich an der Wand ein riesiger Videobildschirm. Nick betätigt einen Schalter und der Bildschirm erwacht zum Leben. Dann schlüpft er in die Weißkittel-Rolle. Atmosphärische Musik wabert durch den Raum. Sanft kräuseln sich vor unseren Augen die Wellen auf einem im Halbdunkel liegenden See.

»Ach du Scheiße«, sagt Andy. »Das ist ja wie ’n Werbespot für Inkontinenzbinden!«

»Okay«, sagt Nick. »Hört zu. Auf dem Bildschirm vor euch seht ihr gerade eine besinnliche, ruhige Szene, begleitet von leiser, entspannender Musik. Sinn der Sache ist, physiologische Basiswerte zu erhalten, um anschließend eure Erregungsgrade messen zu können.

Doch irgendwann innerhalb der nächsten sechzig Sekunden wird sich das Bild, das ihr jetzt seht, ändern. Dann werden Bilder ganz anderer Art auf dem Bildschirm erscheinen. Gewalttätige Bilder. Ekelerregende Bilder, die sehr anschaulich und verstörend sein werden.

Während ihr die Bilder betrachtet, werden Veränderungen eurer Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit und EEG-Aktivität überwacht und mit den derzeit aufgezeichneten Daten verglichen. Irgendwelche Fragen?«

Andy und ich schütteln den Kopf.

»Alles paletti?«

Wir nicken.

»Okay«, sagt Nick. »Dann wollen wir mal loslegen.«

Er verschwindet hinter uns und überlässt Andy und mich der Werbung für Inkontinenzbinden. Später zeigen die Ergebnisse, dass unsere physiologischen Basiswerte zu diesem Zeitpunkt, wo wir darauf warten, dass etwas geschieht, ziemlich ähnlich sind. Sowohl bei Andy als auch bei mir ist die Pulsfrequenz im Vergleich zu unserem normalen Ruhepuls beträchtlich erhöht.

Doch als Nick den Hebel betätigt oder was auch immer, um den Szenenwechsel herbeizuführen, wird irgendwo in Andys Hirn ein Übersteuerungsschalter umgelegt.

Und mit einem Mal tritt der eiskalte SAS-Krieger in Aktion. Als plastische Bilder von Verstümmelung, Zerstückelung, Folter und Hinrichtung auf dem Bildschirm auftauchen (in der Tat so plastische, dass Andy später zugibt, er habe das Blut geradezu »riechen« können: ein »ekelhaft süßlicher Geruch, den du niemals vergisst«), die von plärrenden Sirenen und weißem Rauschen statt von atmosphärischer Wellness-Musik begleitet sind, kehren sich seine physiologischen Messwerte um. Seine Pulsfrequenz verlangsamt sich. Seine Hautleitfähigkeit nimmt ab. Und seine EEG-Aktivität wird schnell sehr viel schwächer.

Als die Show vorbei ist, liegen bei Andy alle drei physiologischen Messwerte unter den Basiswerten.

So was hat Nick noch nie gesehen. »Es ist beinahe so, als habe er sich für die Herausforderung gerüstet«, sagt er. »Und als habe sein Gehirn, als er dann schließlich mit der Herausforderung konfrontiert wurde, plötzlich flüssigen Stickstoff in seine Venen injiziert; als habe es mit einem Mal alle ungezähmten Gefühlsregungen ausgeschaltet und sich in einen hypnotischen Zustand äußerster Konzentration begeben.«

Verblüfft schüttelt er den Kopf. »Wenn ich diese Messwerte nicht selbst aufgezeichnet hätte, würde ich wohl an ihrer Richtigkeit zweifeln«, fährt er fort. »Okay, ich hab vorher noch nie Angehörige einer Spezialeinheit getestet. Und eine leichte Abschwächung würde man wohl erwarten. Aber dieser Typ hatte die Situation vollkommen unter Kontrolle. Er hat sich so auf sie eingestellt, dass es den Anschein erweckte, als habe er völlig abgeschaltet.«

Die Daten waren so verrückt, dass man sich – so wie auch Bob Hare es getan hatte – wirklich fragte, wie sie zustande kamen.

Natürlich waren meine physiologischen Messwerte längst nicht so interessant. Sie hatten zwar, als ich auf den Beginn des Blutbads wartete, genau wie Andys um einiges über den Basiswerten gelegen. Aber dort hatte die Gemeinsamkeit dann auch aufgehört. Statt in der Hitze des Gefechts zu sinken, waren sie inmitten des Bluts und der Eingeweide in die Höhe geschnellt.

»Zumindest zeigt das Ganze, dass die Geräte funktionieren und dass du ein normales menschliches Wesen bist«, meint Nick.

Wir schauen zu Andy hinüber, der drüben bei den Monitoren mit ein paar von Nicks Doktoranden quasselt. Was die wohl von ihm halten? Sie haben gerade seine Daten analysiert – und das Elektrodengel hat seine Haare so zugerichtet, dass er aussieht wie Don King in einem Windkanal.

Ich hingegen kämpfe noch immer damit, mich von einigen der Bilder zu erholen. Mir ist übel. Und ich bin zittrig. Und ein bisschen wacklig auf den Beinen. Meine Werte mochten Nicks Worten zufolge vielleicht gezeigt haben, dass ich normal bin. Der Ausschlag der Nadeln mochte meine geistige Gesundheit bezeugt haben. Aber ich fühle mich keineswegs normal, als ich in der Ecke einer Arbeitsnische hocke, in der es piept und flimmert, und über die Daten nachsinne, die ein völlig entgeisterter Computer ausgeworfen hat.

Der Unterschied in den Profilen ist verwirrend. Während meine EEG-Messwerte fast so aussehen wie die Skyline von New York – eine Stadtlandschaft aus steil aufsteigenden, scharf umrissenen Wolkenkratzern –, erinnern Andys Werte an einen vornehmen Golfplatz ohne große Erhebungen auf einer dieser wunderschön angelegten Inseln mitten im Indischen Ozean. Gleichförmig. Und kompakt. Und wahnsinnig, unheimlich symmetrisch.

»Da fragt man sich, was normal tatsächlich bedeutet, oder?«, sage ich zu Nick.

Er zuckt mit den Schultern und drückt die Resettaste auf dem Computer.

»Vielleicht bist du ja gerade dabei, es herauszufinden«, sagt er.

Mach mich zum Psychopathen

Nachdem wir die Sache über die Bühne gebracht haben, macht Andy sich zu einem Hotel auf dem Land auf, wo ich ihn später zu einer Nachbesprechung treffen werde. Vorher muss ich die Tortur jedoch noch einmal über mich ergehen lassen, nämlich in Phase II des Experiments, in der bei mir ein »psychopathisches Umstyling« vorgenommen wird. Eine erneute Konfrontation mit Verstümmelung, Gemetzel und Blut. Nur dieses Mal buchstäblich mit einem anderen Kopf, und zwar dank derselben Behandlung, die Ahmed Karim und Liane Young den Probanden ihrer teuflischen Experimente zur moralischen Entscheidungsfindung angedeihen ließen: einer Dosis TMS.

»Die Wirkungen des Umstylings lassen doch wieder nach, oder?«, lacht Andy und streicht sich die Haare glatt. »Denn die im Hotel wollen bestimmt nicht zwei Psychopathen an ihrer Bar hocken haben.«

»Die Wirkungen der Behandlung sollten innerhalb einer halben Stunde abgeklungen sein«, erklärt Nick, während er mich zu einem speziell kalibrierten Zahnarztstuhl führt, der mit einer Kopfstütze, einer Kinnstütze und Gesichtsgurten ausgestattet ist. »Stell dir die TMS als einen elektromagnetischen Kamm und die Gehirnzellen – Neuronen – als Haare vor. Die TMS kämmt die Haare nur in eine bestimmte Richtung und kreiert damit vorübergehend eine neuronale Frisur. Doch wie bei jeder neuen Frisur: Wenn du sie nicht pflegst, wird die alte Frisur bald ganz von selbst wieder da sein.«

Andys Gesicht sagt alles. Wo zum Teufel sind wir hier? In einem Labor oder einem Friseursalon?

Nick bittet mich, in dem unheimlich wirkenden Stuhl Platz zu nehmen und tätschelt mir für meinen Geschmack ein bisschen zu beschwichtigend die Schulter. Als er mich schließlich festgeschnallt hat, sehe ich aus wie Hannibal Lecter bei Specsavers (dem größten Optiker-Einzelhandelsunternehmen Großbritanniens). Er bringt die TMS-Spulen, die dem Griff einer riesigen Schere gleichen, auf dem mittleren Teil meines Schädels an und schaltet die Maschine ein.

Sofort fühlt es sich, als hantiere tief in meinem Kopf ein dämlicher Homunkulus-Bergmann mit einem Abbauhammer herum. Ich würde nicht sagen, dass es wehtat, aber ich wünschte mir doch, dass er bald aufhörte – dass seine neuro-mineralogische Schicht in Kürze zu Ende sei.

»Das ist die elektromagnetische Induktion, die du an deinem Drillingsnerv spürst«, erklärt Nick. »Der gehört zu den Nerven, die für Empfindungen im Gesicht und für bestimmte motorische Funktionen wie Beißen, Kauen und Schlucken verantwortlich sind. Du spürst sie wahrscheinlich in den Backenzähnen, stimmt’s?«

»Richtig«, nicke ich.

»Ich versuche gerade, den Teil deines Motorkortex zu finden«, fährt er fort, »der für die Bewegung des kleinen Fingers an deiner rechten Hand verantwortlich ist. Sobald wir den lokalisiert haben, kann ich ihn als eine Art Basislager nutzen, wenn du so willst, von dem aus die Koordinaten der Gehirnregionen festgelegt werden können, an denen wir eigentlich interessiert sind. Deine Amygdala und den für die moralische Entscheidungsfindung verantwortlichen Bereich.«

»Na, dann beeil dich aber, verdammt noch mal«, murmele ich. »Denn wenn das hier noch lange so weitergeht, werde ich dich erwürgen.«

Nick lächelt.

»Verdammt«, sagt er. »Es scheint schon zu funktionieren.«

Tatsächlich spüre ich kaum zwanzig Sekunden später, so wie Nick es vorhergesagt hat, ein unfreiwilliges Zucken im kleinen Finger. Zuerst ganz schwach. Dann immer stärker. Schon bald spielt mein rechter kleiner Finger verrückt. Es ist das unangenehmste Gefühl, das man sich vorstellen kann – an einen Stuhl festgebunden in einem schwach beleuchteten Raum zu sitzen und zu wissen, dass man keine Kontrolle über seinen Körper hat. Es ist unheimlich. Erniedrigend. Verwirrend ... und stellt irgendwie die Sache mit dem freien Willen infrage. Ich hoffe nur, dass Nick nicht in der Stimmung ist, irgendeinen Scheiß zu machen. So wie er mit seinem Zauberstab herumwedelt, könnte er mich im Labor Radschlagen lassen.

»Okay«, sagt er. »Wir wissen jetzt, wo sich unsere Zielbereiche befinden. Also lass uns anfangen.«

Mein kleiner Finger hört auf, sich zu bewegen, als Nick seinen gespenstischen neurologischen Zauberstab im Kraftfeld über meinem Kopf neu ausrichtet. Eine Weile lang sitze ich dann einfach nur da, während mein dorsolateraler präfrontaler Kortex und die rechte temporoparietale Übergangsregion bearbeitet werden. Die TMS kann nicht weit genug ins Gehirn eindringen, um auf direktem Weg die Regionen zu erreichen, die für die Gefühle und die moralische Entscheidungsfindung verantwortlich sind. Doch indem sie für eine Dämpfung oder Aktivierung der Bereiche der Großhirnrinde sorgt, die mit diesen Regionen verbunden sind, kann sie die Wirkungen eines tiefgreifenderen Einflusses simulieren.

Es dauert nicht lange, bis ich eine Veränderung bemerke: einen schwer fassbaren, doch existenziellen Unterschied. Vor dem Experiment war ich neugierig gewesen, wie lange es wohl dauern würde, bis ich den Rausch spürte. Jetzt kannte ich die Antwort: etwa zehn bis 15 Minuten. Genauso viel Zeit, schätze ich, wie die meisten Menschen brauchen, um einen Schwips von einem Bier oder einem Glas Wein zu bekommen.

Die Wirkungen sind nicht ganz unähnlich. Eine unbekümmerte Zuversicht. Eine transzendentale Lockerung der Hemmungen. Die ersten Anzeichen einer subjektiven moralischen Arroganz. Die Erkenntnis, dass es, verdammt noch mal, ja doch keinen kümmert.

Es gibt jedoch eine bemerkenswerte Ausnahme. Einen offenkundigen und unverkennbaren Unterschied zwischen dem hier und den Wirkungen von Alkohol. Das Fehlen von Trägheit. Die Aufrechterhaltung – und ich würde sogar sagen, die Verstärkung – der Schärfe der Aufmerksamkeit. Ein Gefühl erhöhter, verbesserter Aufmerksamkeit. Mein Gewissen fühlt sich eindeutig so an, als habe man es mit moralischem Rohypnol geimpft; und meine Ängste scheinen mit einem halben Dutzend transkranieller magnetischer Jack Daniels ertränkt worden zu sein. Gleichzeitig fühlt es sich jedoch so an, als sei bei mir ein aufwändiger Frühjahrsputz vorgenommen worden, sodass alles viel heller und klarer erscheint. Als habe man meine Seele, oder wie immer man es nennen will, in einen spirituellen Geschirrspüler gesteckt. So also fühlt es sich an, ein Psychopath zu sein, denke ich. Durch Gary Gilmores Augen zu sehen. Durchs Leben zu gehen in dem Wissen, dass dich Schuld, Reue, Scham, Mitleid oder Angst – all diese vertrauten, alltäglichen Warnsignale, die normalerweise auf deinem psychologischen Armaturenbrett aufleuchten – nicht länger beunruhigen, egal, was du auch sagen oder tun magst.

Plötzlich habe ich einen Geistesblitz. Wir reden über Geschlecht. Wir reden über Schicht. Wir reden über Hautfarbe. Und Intelligenz. Und Glaube. Doch der grundlegendste Unterschied zwischen zwei Individuen ist sicherlich das Vorhandensein oder das Fehlen eines Gewissens. Das Gewissen ist es, das dich plagt, wenn sich alles andere gut anfühlt. Doch was ist, wenn es stahlhart ist? Was, wenn seine Schmerzgrenze jenseits von Gut und Böse liegt und es nicht mit der Wimper zuckt, wenn andere vor Qualen schreien?

Und was, ähm, noch wichtiger ist: Werden meine prothetischen psychopathischen Implantate mich noch kaltblütiger machen als Andy McNab?

Wieder auf diesem Stuhl festgeschnallt, muss ich dieselbe Horrorshow noch einmal über mich ergehen lassen. Dieses Mal ist es jedoch eine völlig andere Geschichte.

»Ich weiß, dass der Typ vor mir diese Bilder ekelerregend fand«, höre ich mich sagen. »Aber um ehrlich zu sein, fällt es mir dieses Mal schwer, ein Lächeln zu unterdrücken.«

Die Linien und Schnörkel bestätigen meine Beichte. Während der Grad meiner Erregung beim ersten Durchgang so groß war, dass es schon an ein Wunder grenzte, dass der hochmoderne EEG-Drucker nicht explodiert und in Flammen aufgegangen war, hat sich meine Hirnaktivität nach dem psychopathischen Umstyling erheblich verringert. Es sind vielleicht nicht ganz so sanfte Wellenlinien wie bei Andy. Doch da fehlt nicht mehr viel. Kein New Yorker Wolkenkratzer in Sicht.

Ähnlich sieht es mit der Herzfrequenz und der Leitfähigkeit der Haut aus. Was Letztere angeht, stelle ich Andys Wert sogar in den Schatten.

»Heißt das, es ist amtlich?«, frage ich Nick, als wir uns die Zahlen ansehen. »Kann ich zu Recht behaupten, dass ich kaltblütiger bin als Andy McNab?«

Er zuckt die Achseln. »Ich denke schon«, sagt er. »Im Moment jedenfalls. Aber du solltest diesen Zustand so gut wie möglich nutzen. Du hast noch eine Viertelstunde. Maximal.«

Ich schüttle den Kopf. Schon jetzt spüre ich, dass die Magie nachlässt. Dass der elektromagnetische Zauber seine Wirkung verliert. Ich fühle mich deutlich verheirateter als noch vor wenigen Augenblicken. Und ich bin wesentlich weniger geneigt, zu Nicks Forschungsassistentin zu gehen und sie auf einen Drink einzuladen. Stattdessen gehe ich mit Nick in die Studentenbar und stelle einen unglaublichen neuen persönlichen Rekord bei Gran Turismo[34] auf. Ich gebe die ganze Zeit Vollgas. Aber wieso auch nicht – es ist schließlich nur ein Spiel, oder?

»Im Moment würde ich nicht mit dir in einem richtigen Auto sitzen wollen«, sagt Nick. »Du bist definitiv noch ein bisschen aggressiv.«

Ich fühle mich großartig. Vielleicht nicht ganz so gut wie vorhin im Labor. Nicht ganz so ... ich weiß nicht ... »unangreifbar«. Aber zweifellos obenauf. Das Leben scheint voller Möglichkeiten zu stecken: meine psychischen Horizonte scheinen erweitert. Warum sollte ich am Wochenende nicht zum Junggesellenabschied meines Kumpels nach Glasgow abhauen, statt nach Dublin zu fahren, um meiner Frau dabei zu helfen, ihre Mutter in einem Pflegeheim unterzubringen? Warum nicht genau das Gegenteil von dem tun, was ich normalerweise tun würde – und Scheiß drauf, was die Leute denken? Ich meine, was kann schlimmstenfalls passieren? In einem Jahr, ja sogar in einer Woche würde alles vergessen sein.

Wer wagt, gewinnt, stimmt’s?

Ich schnappe mir ein paar Pfund von unserem Nachbartisch – die jemand dort als Trinkgeld hat liegen lassen, aber wen interessiert das schon? – und versuche mein Glück an ein paar anderen Maschinen. Ich schaffe es bis 64 000 Pfund bei »Wer wird Millionär«, stürze dann aber ab, weil ich mich weigere, den 50:50-Joker zu nehmen.

Man hätte es wirklich nicht besser inszenieren können. Ich bin mir sicher, dass ›American Psycho‹ nach LA verlegt wurde und drücke trotz Nicks Vorbehalten lässig auf den Knopf.

Aber der Film spielt in New York.

»Ich habe gedacht, du würdest wenigstens das hinkriegen«, lacht er.

Dann tritt eine Veränderung ein. Und das ziemlich schnell. Beim zweiten Mal ist ›Gran Turismo‹ eine Enttäuschung. Ich bin plötzlich vorsichtiger und komme als einer der letzen ins Ziel. Und nicht nur das, ich bemerke eine Überwachungskamera in der Ecke und denke an das Trinkgeld, das ich eben eingesteckt habe. Um kein Risiko einzugehen, zahle ich es zurück.

Nick schaut auf die Uhr. Ich weiß, was jetzt kommt – er braucht es mir nicht zu sagen.

»Noch immer kaltblütiger als McNab?«

Ich lächle und kippe mein Bier herunter. Aber so ist das nun mal mit Psychopathen. Sie bleiben nie für lange. Sobald die Party vorbei ist, ziehen sie weiter zur nächsten – ohne Rücksicht auf die Zukunft und noch weniger auf die Vergangenheit.

Und dieser Typ, der, wie ich annehme, zwanzig Minuten lang ich war, bildete da keine Ausnahme. Er hatte seinen Spaß gehabt. Und einen Drink umsonst bekommen. Doch nachdem das Experiment nun Geschichte war, machte er sich fröhlich auf den Weg aus der Stadt heraus.

Und würde bis zu dem Hotel auf dem Land hoffentlich eine ganze Weile brauchen.

Ich wollte einfach nicht, dass er später an der Hotelbar auftauchte, wo ich Andy treffen sollte. Die beiden würden sich entweder bestens verstehen. Oder überhaupt nicht.

Um ehrlich zu sein, ich wusste nicht, was mir mehr Angst machte.