Dreizehn
Nach dem Albtraum schlief Allie äußerst unruhig und erwachte vor dem Morgengrauen. Es war noch keine sieben Uhr, als sie hinunter in den Speisesaal ging und dem Küchenpersonal dabei zusah, wie es Warmhalteplatten und Kaffeespender auftrug. Als kurze Zeit später Rachel hereinkam, saß Allie immer noch da und starrte in die Ferne.
»Mann, du siehst vielleicht schlecht aus«, sagte Rachel und ließ ihre Bücher auf den Tisch fallen. »Lass uns reinhauen. Und dann erzählst du mir, was los ist.«
Jetzt saßen sie in dem immer noch weitgehend leeren Speisesaal, vor sich Tassen mit dampfendem Tee und bergeweise Rührei und Toast, auf die Allie gar keinen Appetit hatte, die sie aber trotzdem in sich hineinschlang. Rachels bloße Anwesenheit reichte aus, dass es ihr wieder besser ging. Sie hatte sie vermisst. Es gab so vieles, das sie ihr nicht erzählen konnte – Dinge, über die sie gern gesprochen hätte. Aber immerhin, beim Frühstück rumzualbern machte Spaß.
Fast wie in alten Zeiten.
»Ich sterbe vor Hunger«, verkündete Rachel. »Das Essen gestern Abend war mir irgendwie zu abgefahren, als dass ich’s hätte genießen können. Das war eher so was zum … Einrahmen und An-die-Wand-hängen. Mehr so moderne Kunst. Was machst du überhaupt so früh hier unten?«
»Konnte nicht schlafen«, sagte Allie und gähnte. »Ich bin gestern Abend laufen gewesen und hatte voll die Albträume danach. Ich hab vielleicht ein Zeug zusammengeträumt! Ich bin im Traum auch gelaufen, und dann hätte mich fast so ein Fuchs aufgefressen.« Sie trank einen wärmenden Schluck Tee.
»Ein Fuchs hat dich gefressen?« Rachel sah beeindruckt aus. »War’s schön blutig? Hat’s wehgetan?«
Allie musste daran denken, wie sie bibbernd und allein in ihrem Zimmer gestanden hatte. »Ich bin aufgewacht, als er angefangen hat, mein Gesicht aufzufressen.«
»M-mh, fressen.« Rachel schaufelte Rührei in sich hinein. Als Allie nicht lachte, sah sie sie fragend an. »Normalerweise fressen Füchse keine Menschen, weißt du. Sie fressen nie Menschen, sollte ich vielleicht betonen. Dein Traum-Ich war wahrscheinlich zu lecker, sodass dieser spezielle Traum-Fuchs ihm nicht widerstehen konnte. Das heißt doch nur, dass er dich gern hat. Zum Fressen gern.«
So trostlos ihr zumute war, Allie musste doch lächeln. »Er? Vielleicht war es ja eine Füchsin.«
»Lesbische Träume von Füchsen – du bist ja zu allem fähig! Mich würde interessieren, was Freud dazu gesagt hätte«, sagte Rachel.
»Ich hätte lieber einen Sextraum gehabt«, brummte Allie über ihrem Teller. Dann blickte sie auf und sah Rachel an. »Apropos Sex … Du und Lucas. Was läuft da eigentlich? Läuft da was? Da läuft doch was!«
Rachel wurde rot. Sie wurde tatsächlich rot.
Allie machte große Augen. »Da läuft was – ich seh’s dir doch am Gesicht an! Ich will alles wissen, aber sofort.«
Schüchtern sah Rachel zu ihr herüber. »Also, Lucas und ich … wir sind jetzt zusammen. Ganz offiziell.«
»Ich glaub’s nicht«, schrie Allie. Sie sprang auf und umarmte Rachel.
Vor Lachen ganz außer Atem, stieß Rachel sie fort. »Geh weg. Du zerquetschst meinen Toast.«
»O Rach, ich freu mich wahnsinnig für dich! Wann ist es passiert?«
»Letzten Samstag. Hast du nicht mitgekriegt, dass ich mich nach dem Abendessen nicht mehr hab blicken lassen?«, fragte Rachel. »Und am Sonntag war ich doch ganz aufgekratzt und albern. Widerlich. Ich hoffe, du hast es nicht bemerkt.«
Allies Wangen wurden heiß. Sie hatte es nicht bemerkt. Kein bisschen. Am Wochenende war sie einfach zu beschäftigt gewesen: Training in der Night School, rumhängen mit Carter und Zoe. Dass Rachel so aufgekratzt war, hatte sie nicht mitgekriegt, weil sie sie tagelang kaum gesehen hatte.
Letzten Samstag? Ewig her. Wieso hat sie es mir nicht sofort erzählt?
Unvorstellbar, dass Rachel nicht gleich in ihr Zimmer gestürmt und auf ihr Bett gehüpft war, um ihr alles haarklein zu erzählen.
Und während Rachel fröhlich über Mondlicht und endlose Küsse am rauschenden Bach plapperte, nickte Allie zwar und lächelte, dachte aber still: Die Night School treibt uns auseinander.
Obwohl sie mit Rachel beim Frühstück so herumgetrödelt hatte, kam Allie zu früh zum Geschichtsunterricht. Jo war auch schon da und winkte ihr durchs leere Klassenzimmer zu.
Während Allie sich setzte, musterte sie Jo kritisch. Ihr knabenhaft kurzes, blondes Haar ließ sie blass und irgendwie dünner aussehen. Vielleicht war sie ja auch einfach blass und dünner geworden.
»Hey! Schnell, bevor die anderen kommen«, flüsterte Jo. »Wen hast du gekriegt?«
»Wen ich gekriegt habe? Was meinst du?«
Jo schaute genervt und nervös drein. »Du weißt schon.«
»Ich weiß wirklich nicht …« Die Stimme blieb ihr weg, als sie begriff, was Jo meinte, und sie spürte, wie ihr die Angst in die Magengrube fuhr.
Allie starrte Jo an. »Woher weißt du …?«
»Ach, Allie«, kicherte Jo. »Ich habe meine Kontakte überall. Ich kenne alle. Also sag’s mir. Wen haben sie dir für die Befragung zugeteilt?«
Ihr Lachen wirkte zu schrill und ihre Antwort zu glatt. Allie versuchte, den Verdacht nicht hochkommen zulassen, der sich wie ein Eiszapfen in ihre Brust bohrte.
Das hier war Zelaznys Unterrichtsraum. Zelazny hasste sie. Jo wusste das. Wieso fragte sie etwas so Verbotenes an einem so gefährlichen Ort? Allie war entsetzt.
»Ich … Es ist nur … Ich kann es dir nicht sagen, Jo. Das weißt du doch.«
»Was? Meinst du das ernst?« Jo schien vor den Kopf gestoßen. »Als ob ich das weitererzählen würde!«
Allie musste an das Wort »Schulverweis« denken und schüttelte den Kopf.
»Jo … Ich kann nicht«, sagte sie.
Doch tief im Innern spürte sie, dass sie es Jo schlicht nicht sagen wollte. Sie traute ihr nicht. Hätte sie es ihr gesagt und Zelazny hätte davon erfahren …
»Schüler, die so wissbegierig sind, dass sie sogar zu früh zum Unterricht kommen – welch erfreulicher Anblick«, unterbrach Zelaznys frostige Stimme Allies Gedanken.
Wie von der Tarantel gestochen, drehten sich die Mädchen zur Tafel um. Ihr Geschichtslehrer stand in militärischer Haltung an seinem Pult, die Füße schulterbreit auseinander, die Hände lose an der Seite, wachsamer Blick.
Wie lang steht der schon so da?, fragte Allie sich.
Zum Glück war Jo nie um Worte verlegen. »Wir wollten vor dem Unterricht noch ein bisschen lernen, Mr Zelazny«, erwiderte sie und setzte ihr reizendstes Lächeln auf. »Wir dachten, Sie hätten bestimmt nichts dagegen.«
Bei allem Unmut, den Allie empfand: Jos Gewandtheit war bewundernswert.
»Nichts läge mir ferner, als Schülern einen Ort zum Lernen zu verweigern«, entgegnete Zelazny. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Er holte seine Bücher aus der Aktentasche und begann seinen Schreibtisch zu ordnen. »Fahren Sie nur fort mit dem Lernen. Und lassen Sie sich bitte nicht von mir abhalten.«
Das letzte Wort jedes Satzes betonte er so, als würde es scheußlich schmecken.
Jo und Allie wechselten noch einen vielsagenden Blick und versenkten sich dann in ihre Bücher. Kaum eine Minute später sprang Jo auf.
»Ich flitz geschwind runter und besorg mir noch was zu essen«, verkündete sie und warf Allie, schon auf dem Weg zur Tür, einen entschuldigenden Blick zu. »Bin gleich wieder da.«
»Wehe, Sie kommen zu spät zurück, dann gibt’s Arrest!«, rief Zelazny ihr hinterher und fügte fast schon panisch hinzu: »Und unterstehen Sie sich, das Essen in den Unterricht mitzubringen!«
Nachdem Jo sie verlassen hatte, las Allie den kurzen Aufsatz durch, der heute drankam. Zelaznys Anwesenheit nur wenige Meter entfernt war ihr dennoch die ganze Zeit bewusst. Beim Geräusch seines Atems verkrampften sich ihre Muskeln. Immer wieder las sie dieselbe Zeile. Doch sie sah nicht auf.
Als er sie plötzlich ansprach, wäre sie vor Schreck fast aufgesprungen.
»Möchten Sie mich vielleicht etwas fragen?«
Langsam schaute Allie auf und stellte fest, dass er sie eindringlich ansah.
»Wie … Wie bitte?«
»Ich sagte: Möchten Sie mich vielleicht etwas fragen?«
Es lag etwas Bedrohliches in der Art, wie er das sagte. Allie kriegte eine Gänsehaut.
Hat er was mitbekommen?
Heftig schüttelte sie den Kopf. »Nein … Sir.«
»Sind Sie sicher?« Er beugte sich vor, die Fingerspitzen auf die Tischplatte gestützt.
Aus Allies Wangen wich die Farbe, doch sie hielt sich aufrecht. Sie spürte, wie der Ärger in ihr aufstieg, aber vermutlich wollte Zelazny gerade das bezwecken.
Was ätzt den eigentlich so an? Er kann doch nur mitgekriegt haben, wie ich mich geweigert hab, über die Night School zu reden. Wieso benimmt er sich dann so fies, der Wichser?
Kühl und mit mehr Selbstvertrauen, als sie verspürte, antwortete sie: »Im Moment habe ich keine Fragen an Sie, Mr Zelazny. Danke.«
Sie schaute wieder in ihr Buch und tat so, als bemerkte sie sein scharfes Einatmen und das geräuschvolle Zuschlagen einer Schublade nicht.
Just als sie überlegte, ob sie nicht vielleicht doch aus dem Klassenzimmer flüchten sollte, kam Sylvain herein. »Mr Zelazny«, sprach er ihn ohne Begrüßung an, »ich muss unbedingt mit Ihnen über die …« In diesem Augenblick erst schien er Allie zu bemerken – und zugleich die Spannung im Raum; seine Stimme brach ab.
Verzweifelt flehte Allie ihn mit den Augen um Hilfe an. Als sich ihre Blicke trafen, schlug ihr Herz schneller.
Wie konnte jemand derart wasserblaue Augen haben?
»Ja, bitte?«, blaffte Zelazny ungeduldig.
Doch Sylvain dachte gar nicht daran, sich drängen zu lassen. »Also der Aufsatz, den Sie uns für morgen aufgegeben haben … Können Sie noch mal etwas genauer sagen, was Sie von uns wollen? Ich fand die Aufgabenstellung irgendwie ein bisschen schwammig.«
»Ich denke, sie war klar genug …«, erwiderte Zelazny. »Wo hab ich sie denn …«
Während er in dem Papierstapel auf seinem Pult kramte, erhaschte Sylvain erneut Allies Blick und zwinkerte ihr zu.
Den ganzen Tag wartete Allie darauf, dass sich derjenige, der sie befragen sollte, bei ihr meldete. Jedes Mal, wenn jemand ihren Namen rief oder ihr auf die Schulter tippte, erwartete sie im nächsten Moment, Fragen gestellt zu bekommen, die sie nicht beantworten konnte. Nachdem sie mit Carter auf schmerzlich geschäftsmäßige Art Zeit und Ort für seine Befragung ausgemacht hatte, erkundigte er sich, ob sie schon wisse, wer sie befragen würde. Sie antwortete mit einem hilflosen Schulterzucken, und er machte eine grimmige Miene.
»Langsam wird’s komisch, Allie«, sagte er. »Ich finde, du solltest Eloise oder Isabelle Bescheid sagen, was hier abgeht.«
Da hatte sie sich aber selbst schon eine ganze Reihe von Theorien zurechtgelegt. Dass Isabelle sie vielleicht angesichts dessen, was sie über ihre Familie wusste, ganz außen vor gelassen hatte. Oder sie höchstpersönlich befragen würde.
Wie auch immer, sie würde sowieso mit keinem anderen darüber reden außer mit Isabelle. Womit sie es allerdings kein bisschen eilig hatte.
Nach dem Zwischenfall im Klassenzimmer mied sie Jo; auch beim Abendessen achtete sie darauf, dass sie zwischen Lucas und Carter saß.
Beide in der Night School. Beide sicher.
Als Lucas plötzlich eine Partie Nachttennis vorschlug, sah sie ihn skeptisch an. »Ich bin ganz schön hintendran mit Hausaufgaben …«
Doch Jo übertönte sie einfach: »Au ja! Super Idee, definitiv. Ist ja schon ewig her. Wer ist dabei?«
Alle hoben die Hand, außer Allie und Carter.
»Ich kann nicht«, sagte Carter und zuckte die Schultern. »Ich bin mit Zelazny verabredet wegen eines Essays. No Chance.« Er warf Allie einen Blick zu. »Aber mach du doch mit. Es wird dir gefallen.«
»Ach ja, komm schon, Allie«, fiel Rachel ein. »Spiel doch mit. Macht total Spaß.«
Gegen die Begeisterung der anderen kam Allie nicht an, und so ging sie zwei Stunden später zusammen mit Rachel in die Kälte hinaus, auch wenn sie immer noch nicht recht überzeugt war.
»Es ist eiskalt. Wieso machen wir das?«, fragte Allie bibbernd, während sie aus einem Wandschrank ihre Ausrüstung nahmen.
»Nun mach dir nicht in die Hose.« Jo gab Lucas einen Schläger und eine Dose mit Bällen. »Wir machen das, weil’s geil ist.«
Schuldbewusst fragte Allie sich, ob Jo mitbekam, dass sie ihr aus dem Weg zu gehen versuchte. Auch jetzt standen drei andere zwischen ihnen.
»So isses, Allie.« Lucas warf ihr einen Tennisball zu, doch sie reagierte nicht schnell genug, und der Ball traf ihre Schulter und rollte über den Boden zurück zu ihm. »Hat nicht wer gesagt, du wärst so eine abgehärtete Sportlerin? Das kann doch nicht sein, dass es dir hier zu kalt ist.«
Sie seufzte genervt, und ihr Atem bildete eine deutlich sichtbare Wolke. »Ich hab nicht gesagt, dass wir’s auf gar keinen Fall tun sollen …« Ungeschickt schwang sie den Schläger.
Die anderen johlten, als sie merkten, dass sie überredet war, doch Rachel legte ihr loyal den Arm um die Schultern.
»Es ist kalt. Aber das macht es noch besser«, sagte sie. »Wart’s ab.« Sie drehte sich um und griff nach dem Netz, da fiel ihr noch etwas ein. »Ach, übrigens, ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, dass …«
»Spielen wir jetzt mal, oder stehen wir hier nur rum?« Katie Gilmores glasklare Stimme, die über den gefrorenen Rasen herüberschallte, kam ihr zuvor. Ihr langes, rotes Haar war zu einem glatten Pferdeschwanz zusammengebunden, ein Stirnband bedeckte ihre Ohren.
Allie fühlte sich verraten: »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, fragte sie Rachel vorwurfsvoll.
»Sie hat sich selbst eingeladen«, entschuldigte die sich achselzuckend und machte sich aus dem Staub. Allie starrte ihr hinterher.
»Sieh an, Allie. Sag bloß, du spielst auch mit?«, fragte Katie und warf ihr einen geringschätzigen Blick zu. »Wo hast du denn Tennis spielen gelernt? In Brixton?«
»Fick dich, Katie«, zischte Allie und folgte Rachel auf den Rasen. Katie heftete sich an ihre Fersen.
»Du brauchst jetzt gar nicht ordinär zu werden, obwohl – das scheint ja deine Spezialität zu sein.«
Allie taxierte sie. Katies Pferdeschwanz hüpfte auf und ab, und sie wirkte sehr fröhlich. Das Ganze machte ihr offensichtlich Spaß.
»Wieso läufst du mir nach, Katie? Wieso gehst du nicht Hausaufgaben machen und kümmerst dich um deinen eigenen Scheiß?«
Katie verzog die perfekten Lippen. »Oh, Allie, wie fürsorglich von dir. Weißt du, ich hab da so ein Gerücht gehört – vermutlich ist ja nichts dran –, dass du jetzt in der Night School bist. Stimmt das, oder was?«
Allie schüttelte den Kopf. »Ich bewundere deinen Optimismus. Denn falls du auch nur eine Sekunde geglaubt hast, ich würde das ausgerechnet mit dir diskutieren …«
»Es ist nur so«, unterbrach Katie sie, »ich bin doch etwas überrascht, dass du da mitmachst. Ich dachte, du findest das furchtbar – nach all dem, was im letzten Trimester passiert ist.«
Sie klang fast vernünftig – fast aufrichtig neugierig –, deshalb blieb Allie stehen und sah sie erstaunt an.
»Ich habe meine Gründe«, sagte sie. »Für mich war es die richtige Entscheidung.«
Katie hob die Braue, wie um zu sagen, dass sie gerade nicht fand, es sei die richtige Entscheidung gewesen, sagte aber nichts. Allie sah sich um – niemand achtete auf sie, und jetzt wollte sie es doch etwas genauer wissen.
»Wieso hast du selbst eigentlich nie bei der … du weißt schon mitgemacht? Dich würden sie doch bestimmt aufnehmen.«
»Weil ich schon reich genug bin und mich nicht gern schmutzig mache«, sagte Katie mit rätselhafter Miene und ging weiter. »Und jetzt lass uns endlich Tennis spielen.«
Es war ein sternenklarer Abend und noch kälter als in der Nacht davor. Der Wind hatte sich gelegt, doch die Luft war eisig. Allie bibberte, ihre dünne Jacke war nicht für diese Temperaturen gedacht. Die anderen waren viel dicker eingepackt. In Allies Koffer hatten sich weder Schal noch Handschuhe befunden, vermutlich waren ihre Eltern davon ausgegangen, die Schule würde sie stellen.
Als sie sich gerade alle auf einem ebenen Abschnitt der Rasenfläche am Waldsaum versammelt hatten, kam Sylvain anspaziert, einen gestreiften Schal lässig um den Hals geschlungen. »Braucht ihr noch Mitspieler?«
»Ganz bestimmt nicht«, witzelte Lucas und warf ihm einen Schläger zu. Sylvain fing ihn mühelos auf und schwang ihn ein paarmal lässig hin und her. Der spielt garantiert nicht zum ersten Mal Tennis, so, wie er den Schläger hält, dachte Allie.
Auch die anderen wirkten vertraut mit ihrer Ausrüstung. Katie hatte durchaus recht, was Allies Spielpraxis betraf – wenn sie scharf nachdachte, hatte sie zuletzt als Kind Tennis gespielt, an einem verregneten Nachmittag auf einem improvisierten Feld in irgendeiner Turnhalle.
Als sie das Netz aufbauten, gesellten sich noch andere Schüler dazu. Zoe, die plüschige weiße Ohrwärmer und passende Handschuhe trug, tauchte neben Allie auf. »Nachttennis auf Eis, da bin ich dabei«, sagte sie, ohne dass jemand sie eingeladen hätte.
»Ich kenn noch eine, die auch gern mitspielen würde«, sagte Sylvain. »Ich geh sie mal holen. Bin gleich wieder da.«
Allie stand da und sah zu, wie Lucas und Rachel das Netz ausrollten, es zwischen zwei Pfosten spannten und an eine Stromversorgung anschlossen, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Als sie damit fertig waren, betätigte Lucas einen Schalter. Auf der anderen Seite des neu entstandenen Tennisplatzes schwenkte Zoe ihren Schläger und schrie begeistert: »Wir haben Licht!«
Allie schnappte nach Luft und drehte sich einmal im Kreis, um den Platz auf sich wirken zu lassen. Das Netz war mit lauter feenhaften Lichtern besaitet und sah aus wie ein taubedecktes Spinnennetz in der Morgendämmerung. Die Bäume rings um den Platz waren ebenfalls mit verborgenen Gespinsten aus kleinen Lichterketten umwickelt, die das Geäst in kühles weißes Licht tauchten.
Unvermittelt leuchteten überall auch schlägerförmige Lichter auf. Allie untersuchte ihren Schläger und entdeckte am Ende des Griffs einen Schalter, mit dem sich das Licht anknipsen ließ. Jeder hatte eine andere Farbe. Der von Zoe war grün, der von Jo lila, der von Lucas rot.
Ihr eigener schimmerte blau, als sie den Schalter betätigte.
Plötzlich wurde auf der anderen Seite des Platzes eine orange leuchtende Kugel von einem roten Schläger geschlagen und kam durch die Dunkelheit angesaust. Die Spieler auf der anderen Seite waren völlig unsichtbar, und Schläger und Ball schienen sich wie von Geisterhand zu bewegen.
Entzückt lachte sie auf. »Das ist ja abgefahren!«
»Das«, entgegnete Jo, während sie Lucas’ Volley mit der geschmeidigen Bewegung einer trainierten Tennisspielerin retournierte, »ist Nachttennis!«
Rachel stupste Allie an. »Komm, wir machen uns warm.«
»Ich spiele nicht besonders gut Tennis«, gestand Allie widerstrebend.
Rachel zog sie lachend auf den Platz. »Das macht nichts, Allie. Ist ja keine Olympiaqualifikation. Bloß Tennis im Dunkeln, wo man sich den Arsch abfriert.«
Ein leuchtender Tennisball sauste so nah an ihren Köpfen vorbei, dass sie sich beide duckten.
»Mein Fehler!«, rief Zoe, doch Allie sah nur einen grünen Schläger entschuldigend winken.
»Siehst du?«, fragte Rachel. »Wir sind auch nicht besser.«
Allie wusste, dass das nicht stimmte.
Nachdem sie ein paarmal den Schläger geschwungen hatte, kam Sylvain zurück und blieb knapp außerhalb des Lichtscheins stehen. »Ihr kennt doch alle Nicole?«
Allie kniff die Augen zusammen, aber sie konnte nicht erkennen, wen Sylvain mitgebracht hatte.
»Na klar!«, rief Jo. »Bonsoir, Nicole.«
Aus Sylvains Richtung erklang ein melodisches Lachen, dann antwortete eine heisere Stimme mit französischem Akzent: »Bonsoir, Jo. Deine Vorhand ist ein Traum.«
»Danke vielmals!«, antwortete Jo und knallte den Ball mit voller Wucht zu Lucas, der ihn mit Leichtigkeit zurückspielte.
Sylvain und Nicole traten in den Lichtschein, den das Netz warf. Nicole war sehr klein, das dunkle Haar reichte ihr bis zur Taille. Sie trug einen cremefarbenen Kaschmirschal um den Hals sowie eine teuer aussehende weiße Wolljacke. Sylvains Hand ruhte auf ihrem Rücken, und sie lächelte mit vollen Lippen. Allie starrte die beiden mit offenem Mund an, als der Ball sie plötzlich so hart an der Schläfe traf, dass sie zu Boden ging.
Sofort waren alle bei ihr.
Lucas schwang sich übers Netz. »Alles in Ordnung mit dir, Allie? Tut mir echt leid. Ich dachte, du wärst bereit.«
Rachel hatte neben ihr gestanden, als der Ball sie traf. Jetzt hielt sie Allies Kopf im Schoß, während Zoe sich neben sie kniete und fragte: »Welcher Tag ist heute? Wie heißt der Premierminister?«
»Tut mir leid«, murmelte Allie. »Ich … glaub, ich bin eher überrascht als verletzt. Obwohl, einen kleinen Hirnschaden kann ich nicht ausschließen.«
Aus der Gruppe vernahm sie ein erleichtertes Aufatmen. Rachel lächelte sie an und drückte ihre Finger.
»Nur nicht einschlafen«, mahnte Zoe eindringlich.
Alle wandten sich ihr zu.
»Hab ich in einem Artikel gelesen«, erklärte sie. »Bei Gehirnerschütterung muss man wach bleiben.«
»Ich bin wach«, witzelte Allie matt, während Rachel und Lucas ihr halfen, aufzustehen. »Aber falls ich gleich beim Spielen einschlafe, ruft bitte den Krankenwagen.«
»Wird gemacht!«, rief Zoe und flitzte auf die andere Seite des Netzes. »Allie lebt, wir können weiterspielen!«
Rachel musterte Allie besorgt. »Geht es dir wirklich gut?«, fragte sie.
Allie war zwar noch ein bisschen benommen, dennoch nickte sie.
»Mir geht’s gut. Wie’s einem eben geht, wenn man gerade aus heiterem Himmel niedergestreckt wurde und einen Schädelbasisbruch erlitten hat.«
»Also eher nicht so gut wie sonst«, meinte Rachel.
»Stimmt«, gestand Allie. »Das nächste Spiel sollte ich wohl lieber aussetzen, denke ich.«
»Jemand muss bei Allie bleiben und aufpassen, dass sie wach bleibt und sich an den Namen des Premierministers erinnert!«, rief Zoe von der anderen Seite des Platzes.
»Was hast du denn die ganze Zeit mit dem Premierminister?«, fragte Lucas.
»Das soll man Leute, die sich den Kopf angeschlagen haben, fragen«, erklärte Zoe. »Also, zumindest im Kino, in amerikanischen Spielfilmen, wobei es da dann natürlich um den Präsidenten der USA geht. Bei einer Gehirnerschütterung werden die ganzen Politikernamen getilgt. Hier in England gibt es aber keinen Präsidenten, und wie die Queen heißt, kann man ja schlecht fragen, oder? Die ist doch einfach … die Queen.«
»Ich weiß noch, wie der Premierminister heißt«, sagte Allie, während sie sich auf das gefrorene Gras setzte. »Ihr könnt euch entspannen.«
»Ist das immer noch derselbe?«, fragte Nicole, die plötzlich direkt neben ihr stand. »Der mit dem komischen Gesicht?« Allie schreckte auf.
»Ja«, erwiderte Allie und drehte sich zu ihr. »Ist immer noch derselbe.«
»Ich finde ihn sympathisch«, sagte Nicole. »Er scheint kinderlieb zu sein. Und das ist erwiesenermaßen ein Beweis für Nettigkeit.«
Während sie sprach, musterte Allie sie unauffällig. Die ausdrucksstarken Augen wurden von dicken Wimpern eingerahmt, und ihr Körperbau war so fein wie der eines Rehkitzes.
»Ich setze auch erst mal aus.« Nicoles französischer Akzent war nicht so stark wie der von Sylvain; doch auch bei ihr schien er sich jedes Wort anzuverwandeln, bevor es die Lippen verließ. »Ich werde dir helfen, wach zu bleiben. Sylvain setzt sich auch zu uns, wenn er wiederkommt. Ich weiß nur gerade nicht, wo er hin ist.«
Just in diesem Moment tauchte Sylvain mit einer Flasche Wasser auf, die er Allie reichte, ehe er sich neben Nicole ins kalte Gras setzte.
»Wie geht es dir?«, fragte er und betrachtete besorgt Allies Gesicht.
Ihr Kopf fing auf einmal an zu pochen, doch wenn sie das jetzt erzählte, würden die anderen sie sofort auf die Krankenstation schicken, das war ihr klar. »Ganz okay … glaube ich. Ein bisschen schwummerig vielleicht. Aber das ist wahrscheinlich normal, wenn man grad von ’nem Ball am Kopf getroffen wurde, vermute ich mal«, sagte Allie.
Rachel, die sich auf dem Platz mit Jo und Lucas unterhalten hatte, gesellte sich zu ihnen. »Und, wie geht’s?«
»Ehrlich, Leute«, sagte Allie und hielt abwehrend die Hände hoch. »Mir geht’s prächtig. Außer vielleicht, dass ich müde bin und nicht mehr weiß, welcher Tag heute ist und wie der Premierminister heißt.«
»Auweia, ich ruf den Krankenwagen«, sagte Rachel. Der erste Ball des neuen Spiels flog leuchtend wie eine Sternschnuppe übers Netz.
Es war hinreißend, mit anzusehen, wie die herrenlosen Leuchtschläger durch die Dunkelheit schwangen und den sternengleichen Ball hin und her über das glitzernde Spinnwebnetz schmetterten. Ab und zu war der Ball unerreichbar, dann lachten oder stöhnten die unsichtbaren Spieler.
Doch so schön es war, es war auch bitterkalt. Und die Kälte kroch Allie langsam, aber sicher in die Knochen. Bibbernd zog sie ihre dünne Jeansjacke fester um ihren Körper. »Ist das kalt!«
»Du bräuchtest Handschuhe«, sagte Rachel mit kritischem Blick auf Allies Klamotten. »Und einen Schal. Und … eine warme Jacke.«
Wortlos löste Sylvain seinen Schal und reichte ihn über Nicole hinweg Allie. »Hier. Nimm den. Mir ist warm genug.«
Als Nicole mit einem zustimmenden Lächeln zu ihm aufschaute, fiel es Allie wie Schuppen von den Augen, dass die beiden zusammen sein mussten. Richtig zusammen. Das Pochen in ihrem Kopf wurde schlimmer, und sie überlegte kurz, ob sie sagen sollte, dass ihr wirklich nicht besonders kalt sei, dass sie den Schal eigentlich nicht brauche. Doch sie bibberte so sehr, dass sie ihn schließlich nahm und sich um Hals und Schultern schlang.
Eine Welle von Sylvains ganz eigenem Duft – Kaffee und Gewürz – hüllte sie ein, und unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie sie ihn zum ersten Mal geküsst und diesen Geruch eingeatmet hatte.
Sie fühlte sich benommen.
»Danke«, sagte sie, ohne Sylvain anzusehen. »Ich glaub, meine Eltern haben vergessen, mir meinen einzupacken.«
»Jetzt musst du dich näher zu mir setzen«, schnurrte Nicole Sylvain an. »Sonst erstarrst du zu Eis.«
Bereitwillig rückte er näher. Nicole saß nun zwischen seinen Beinen und lehnte sich gegen seinen Oberkörper. Er steckte die Hände in ihre Manteltaschen.
»Na bitte«, sagte sie. »Jetzt teile ich meine Körperwärme mit dir.«
Er antwortete auf Französisch, und sie lachte ihr klingendes, melodisches Lachen. Wie wenn Champagnergläser aneinanderstoßen.
Selbst der Schal konnte nicht verhindern, dass Allie nun mit den Zähnen zu klappern begann. Ihr war kälter, als ihr unter den gegebenen Umständen ratsam erschien. Die Kälte kam von innen.
Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Seit wann sind die beiden zusammen? Wieso weiß ich nichts davon? Und wieso macht mir das was aus? Vielleicht habe ich ja doch eine Gehirnerschütterung …
Der Schmerz in ihrem Kopf schien sich zu verschlimmern, und ihre Ohren klingelten.
Auf einmal beschloss Allie, dass sie für heute genug hatte von Kälte, Schmerzen und turtelnden Französinnen, doch als sie aufsprang, war ihr plötzlich, als würde der Boden unter ihren Füßen schwanken, und sie taumelte. Die anderen sahen sie überrascht an.
»Mir ist ’n bisschen komisch«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich denke, ich geh mal rein auf eine Tasse Tee und ’ne Hirnblutung.«
Sylvain machte ein besorgtes Gesicht. »Soll ich dich begleiten?«
Allie schüttelte den Kopf so heftig, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ihr war plötzlich speiübel. »Rachel …?« Sie sah zu der Stelle, wo ihre Freundin eben gesessen hatte, doch da stand Rachel auch schon neben ihr.
»Gehen wir«, sagte sie und hakte sich bei Allie unter. »Ich werde dafür sorgen, dass du wach bleibst, und währenddessen kannst du mir was über den Premierminister erzählen.«
Die Krankenschwester begrüßte Allie wie eine alte Freundin. »Na, was hast du denn diesmal angestellt?«
Wenigstens waren die Verletzungen vom letzten Sommer erinnerungswürdig gewesen.
Nachdem sie ihr in die Augen geleuchtet, den Blutdruck und die Temperatur gemessen hatte, meinte die Schwester, Allie bräuchte jetzt unbedingt etwas zu essen und eine Tasse starken Tee. Auch sie ermahnte sie, nicht einzuschlafen, und gab ihr etwas gegen die Kopfschmerzen, ehe sie sie in den Aufenthaltsraum schickte.
Später saßen Allie und Rachel in Decken eingewickelt auf einem tiefen Ledersofa in einer Ecke, tranken heißen, zimtigen Tee und aßen frische Plätzchen.
»Man sollte sich öfter mal einen überbraten lassen«, sagte Rachel aufgekratzt. »Wenn’s da jedes Mal was zu futtern gibt.«
»Jau, verletzt sein, bringt’s voll.« Die Tabletten zeigten Wirkung, und in Allies Kopf hämmerte es jetzt weniger. Während sie die Wärme genoss und sich langsam entspannte, überlegte sie, warum es so komisch gewesen war, Sylvain zusammen mit Nicole zu sehen. Allie hatte ihm die Sache vom Sommer verziehen. Sie glaubte ihm auch, dass es ihm aufrichtig leidtat. Gleichzeitig war sie davon überzeugt, dass sie ihm nie mehr so vertrauen könnte wie vorher.
Kann mir doch eigentlich völlig egal sein, mit wem er sich trifft.
Es war ihr aber nicht egal, und das passte ihr nicht.
Als ein paar Minuten später Carter reinkam, sprang sie schuldbewusst auf – und taumelte wieder.
»Langsam«, sagte er und half ihr sanft zurück aufs Sofa. »Du bist ja noch ganz schön wackelig auf den Beinen.«
»Mir geht’s gut«, versicherte sie ihm mit der Bestimmtheit eines Arztes. »Die Schwester hat gesagt, dass alles okay ist.«
»Du sollst dich eine Weile hinsetzen und ausruhen, hat sie gesagt. Und nicht einschlafen«, sagte Rachel. »Zoe wird ausrasten, wenn sie erfährt, dass sie damit voll richtig gelegen hat.« Zu Carter gewandt, fuhr sie fort: »Die Schwester glaubt nicht, dass Allie eine Gehirnerschütterung hat. Sie will nur kein Risiko eingehen. Aber wir sollen Allie in den nächsten Stunden im Auge behalten.«
Carter strich Allies Haare zurück und besah sich die blassrote Stelle an ihrer Schläfe. »Aber es geht dir gut?«
»Aye, aye. Keine bleibenden Hirnschäden«, gab Allie zurück und schmiegte sich an ihn.
»Blöd, dass ich nicht da war.« Seine Lippen streiften die Stelle, wo der Ball sie getroffen hatte. »Um dich wieder aufzusammeln.«
Bei der leichten Berührung erbebte Allie, und sie sah nach oben, direkt in seine Augen.
Rachel stand auf und streckte sich. »Irgendwie hab ich den Eindruck, dass meine medizinische Erfahrung hier nicht mehr gebraucht wird, wo du jetzt da bist, Carter. Ist das okay, wenn ich euch allein lasse?«
Carter zwinkerte ihr zu und lächelte. Allie liebte dieses Zwinkern. »Ich pass schon auf sie auf«, sagte er.
Als Rachel fort war, kuschelten Allie und Carter sich auf dem Sofa aneinander. Sie machte es sich in seiner Armbeuge gemütlich und erzählte, was vorgefallen war.
»Lucas hat ein richtig schlechtes Gewissen«, sagte Carter. »Ich hab vorhin mit ihm geredet. Als hätte er dich absichtlich abgeschossen. Er kann ja nichts dafür, aber wenn dir was Schlimmes passiert wäre, wär ich trotzdem wütend auf ihn.«
Er legte den Finger an ihr Kinn und hob ihren Kopf, bis sie ihm in die Augen schaute. Dann drückte er die Lippen auf ihre.
»Na, dir geht’s ja schon wieder besser, wie ich sehe«, ließ sich plötzlich die trockene Stimme der Krankenschwester vernehmen. Als hätten grobe Hände sie auseinandergezerrt, lösten Allie und Carter sich voneinander wie der Blitz.
»Äh, danke«, sagte Allie. »Ja.«
Amüsiert sah die Schwester auf ihre Uhr. »Denk dran, du musst noch eine Zeit lang wach bleiben. Noch eine Tasse Tee könnte auch nicht schaden.« Im Fortgehen fügte sie noch hinzu: »Und eine kalte Dusche.« Jedenfalls bildete Allie sich das ein.
Glucksend stand Carter auf. »Na, dann werd ich dir mal gleich frischen Tee holen.«
»Bitte nicht«, protestierte Allie. »Wenn ich noch einen Schluck trinke, schwappe ich über.«
Doch er war schon unterwegs. »Vielleicht will ich ja auch eine Tasse«, sagte er über die Schulter.
Während sie auf seine Rückkehr wartete, griff Allie sich eine Zeitschrift, die jemand auf einem der Tische liegen gelassen hatte. Sie begutachtete gerade eine Schauspielerin in einem sündhaft teuren Kleid, als ein Geräusch sie aufblicken ließ.
Sylvain lehnte am Türrahmen und sah sie an. In dem Sekundenbruchteil, als ihre Blicke sich trafen, entdeckte sie etwas, das sie überraschte. Etwas wie Trauer. Doch gleich verschwand der Eindruck wieder und wich der üblichen demonstrativen Ausdruckslosigkeit, die er so gern kultivierte.
»Du siehst schon wieder besser aus«, sagte er.
»Mir geht’s auch wirklich ganz gut.« Instinktiv hob sie die Hand an die Schläfe. »Danke.«
»Prima«, sagte er. »Nicole meinte, ich soll mal nach dem Rechten sehen.«
Allie ließ die Zeitschrift auf das Couchtischchen vor ihr fallen und tat so, als würde sie sich unwillkürlich strecken und gähnen.
»Sie sieht nett aus«, sagte sie dann. »Wie lang seid ihr zwei schon zusammen?«
»Wir kennen uns schon ewig«, sagte er unbeteiligt. »Wir sind uralte Freunde.«
»Ach so.«
Allie gab sich große Mühe, seinen Akzent nicht charmant zu finden. Sie sah auf, und ihre Blicke trafen sich kurz, doch sie schaute gleich wieder weg. Es fiel ihr schwer, sich auf etwas zu konzentrieren, während er dastand und sie ansah, als könnte er ihre Gedanken lesen.
Da fiel ihr ein, wie sie sich ablenken konnte. Sie setzte sich auf und kramte unter ihrer Jacke herum. »Hier, dein Schal. Danke, dass du ihn mir geliehen hast.«
Sylvain nahm den weichen Kaschmirschal in Empfang, doch anstatt zu gehen, setzte er sich ihr gegenüber in einen Sessel. »Ich muss noch was mit dir bereden. Unter vier Augen.« Er fummelte an dem Schal herum, und sie betrachtete seine langen, schlanken Finger mit den gepflegten, ovalen Nägeln; ganz anders als Carters kräftige Hände. »Ich muss dir was sagen. Ich hab es zu lange hinausgeschoben, weil ich fürchte, dass du es nicht gern hören wirst.«
Allie schauderte, und ihre Augen huschten zur Tür, durch die Carter jeden Moment reinkommen würde. Als sie wieder Sylvain ansah, musterte er sie interessiert. Es gefiel ihr nicht, dass sein Blick sie immer noch so aus dem Konzept bringen konnte.
»Worum geht’s?«
»Also … ich hab dich.« Seine elektrisch blauen Augen hielten ihrem Blick stand.
Sie wich zurück und warf erneut einen raschen Blick zur Tür. »Was meinst du damit: Du hast mich?«, flüsterte sie. »Inwiefern?«
Er beugte sich vor und senkte die Stimme.
»Ich hab dich zugeteilt gekriegt. Zum Befragen. Für die Night School.« Er streckte die offenen Hände aus. »Ich hab dich.«