Acht
»Nein!« Entsetzt wandte sich Allie dem Mädchen zu. »Alles, nur das nicht!«
»Na toll.« Zoe rollte mit den Augen. »Das fängt ja gut an. Wo doch das Vertrauen zwischen den Trainingspartnern so superwichtig ist.«
»Da bist du ja.« Carter kam mit Lucas herangeschlendert. Allie warf ihnen einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Ich glaub’s einfach nicht«. Ich kann unmöglich ihre Partnerin sein. Das … geht nicht«, sagte sie und sah Carter ratlos an.
Doch der streckte nur bedauernd die Hände von sich.
»Ich glaub echt, die mag mich nicht.« Die Hand in die Hüfte gestemmt, stand Zoe da, offenkundig wenig bekümmert.
Allie wechselte das Thema. »Ich dachte, ich hör nicht recht – von wegen, wir sollen uns gegenseitig aushorchen. Das ist ja wohl …«
»Genug gequatscht, Leute«, schnitt ihr Zelaznys Kettensägenstimme das Wort ab. »Eure Partner kennt ihr jetzt ja. Dann können wir auch mit dem Training anfangen. Ihr lauft zum Aufwärmen fünf Meilen um die Wette, die übliche Strecke. Danach wird Raj uns etwas in Selbstverteidigung drillen.«
Alle stürmten gleichzeitig zur Tür.
Allie schaute Carter verständnislos an: »Was heißt um die Wette?«
Carter packte sie an der Hand und zerrte sie mit sich, der Horde hinterher, die über den Gang zu einem Seitenausgang rannte. »Die Zeit wird gestoppt – und der Letzte kriegt ’ne Strafe. Beeil dich!«
»Was für ’ne Strafe?«, fragte Allie und rannte ihm hinterher.
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Lucas und spurtete an ihnen vorbei.
Draußen fiel ein leichter Regen, als die Schülergruppe mit Karacho in die Dunkelheit preschte, einen Pfad entlang, der an den Rand des Schulgeländes führte. Alle schienen zu wissen, wohin.
»Sollten wir uns nicht erst mal warm machen?«, fragte Allie, während Carter Tempo machte. »Nicht, dass wir uns alle einen Krampf holen. Außerdem sehe ich gar nicht, wo ich hinlaufe.«
Aus dem Dunkel tauchte Zoe neben ihnen auf.
»Quatscht die eigentlich immer so viel?«, fragte sie Carter und wandte sich dann Allie zu. »Quatschst du immer so viel?«
»Äh, nein … Was?«, stotterte Allie. Sie war so verdattert, dass sie über eine Wurzel stolperte und beinahe ins Gebüsch gefallen wäre, hätte Carter sie nicht in letzter Sekunde gepackt.
»Meine Güte.« Zoe sah ihrerseits perplex drein. »Was ist denn mit dir los?«
»Apropos nicht so viel quatschen«, keuchte Allie. »Wie wär’s, wenn du selber mal Ruhe gibst? Kurze!«
Sie beschleunigte ihren Schritt, um das Mädchen so weit wie möglich hinter sich zu lassen.
»Wenn ich du wäre, würde ich meine Energie nicht so schnell verschwenden«, rief Zoe ihr hinterher.
»Ruhe da vorne!« Zelaznys Stimme schien aus dem Nichts zu kommen, als er von hinten zu ihnen aufschloss. »Jeder, der ab jetzt redet, wird bestraft.«
»Ach, leck mich«, blaffte Allie, allerdings so leise, dass es niemand hören konnte.
Sie wusste natürlich, dass Zoe recht hatte. Fünf Meilen war eine Menge Holz, und sie war jetzt schon erschöpft – wenn sie sich nicht zurückhielt, würde sie nicht durchhalten. Aber den Triumph würde sie Zoe ganz bestimmt nicht gönnen.
Deshalb wartete sie noch eine halbe Meile und drosselte erst dann ihre Geschwindigkeit auf ein erträgliches Maß. Sie schüttelte die Schultern aus, um ihre Muskeln aufzulockern, die sich vor Nervosität völlig verspannt hatten. Und bald schon hatten ihre Schritte den regelmäßigen, hypnotischen Rhythmus der geübten Läuferin.
Die körperliche Anstrengung beruhigte sie, und je schneller ihr Herz schlug, desto mehr gab sie sich ihrem Laufrhythmus hin. Nun konnte sie endlich ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit widmen. Der Mond war zwar von Wolken verdeckt, doch ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, und sie nahm den Weg vor sich wahr und die Kiefern rechts und links des Weges, die sich im Wind wiegten.
Erst jetzt ging ihr auf, dass sie durch ihren Zwischenspurt nicht nur Zoe zurückgelassen hatte, sondern auch Carter und Lucas. Sie war völlig allein. Doch das machte ihr nichts aus – der Endorphinausstoß hatte eingesetzt, und sie rannte voller Selbstvertrauen und Anmut. Dass sie sich immer noch auf dem richtigen Weg befand, merkte sie daran, dass sie hin und wieder einen anderen Läufer überholte und allmählich hinter sich zurückließ.
Die Sache mit Zoe beschäftigte sie, obwohl sie sich inzwischen etwas beruhigt hatte. Und die Art und Weise, wie Raj Patel sich benommen hatte – eiskalt und knallhart. War das die Seite, vor der Rachel sie gewarnt hatte? Die Seite, die sie sich vorher nicht hatte vorstellen können?
Sie hatte wohl an die zwei Meilen hinter sich gebracht, als sie eine Stelle erreichte, wo der Wald so tief und der Weg so dunkel war, dass sie ihr Tempo reduzieren musste, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, zu stolpern. Die Dunkelheit hier war so tiefschwarz, dass Allie sich bildlich vorstellen konnte, wie sie auf ihr lastete. Sie verfiel in einen langsamen Trott. Unvermittelt nahm der Wind zu; das Geräusch Tausender im Gleichklang schwingender Bäume war wie ein Tosen – wie Wellen, die gegen einen Kieselstrand schlagen.
Plötzlich stieß irgendwo in der Ferne eine Füchsin einen Schrei aus, der Allie das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Bestimmt nur eine Füchsin. Eine flauschige, kleine Fähe.
Und nicht etwa ein Mädchen, das gerade ermordet wurde und um Hilfe schrie.
»Na, Fuxi-Buxi!«, rief sie zaghaft, um sich Mut zu machen.
Schon ziemlich zermürbt, legte sie einen Zahn zu, fand aber nicht wieder in ihren vorherigen natürlichen Laufrhythmus. Nervös schaute sie ständig über ihre Schulter – weil sie meinte, Schritte hinter sich zu hören. Und hoffte, ein anderer Läufer würde zu ihr aufschließen.
Irgendwann merkte sie, dass sie begonnen hatte, ihre Schritte zu zählen, und zwang sich, damit aufzuhören. Eine Panikattacke hier im Dunkeln, so ganz allein, das wäre gar nicht cool.
Nicht ausrasten, Allie. Krieg dich wieder ein. Nicht ausrasten, Allie …
Als sie sich gerade zum siebenunddreißigsten Mal ermahnt hatte, nicht auszurasten, sah sie wirklich jemanden zwischen den Bäumen stehen.
Sie war schon an ihm vorbei, als ihr Hirn endlich meldete, was ihre Augen gesehen hatten. Abrupt hielt sie an und drehte sich um. Keine Menschenseele. Vorsichtig lief sie den Weg zurück und spähte in die Dunkelheit – dort, wo der Mann im Anzug unter einem Baum gestanden und sie angestarrt hatte.
Aber sie war völlig allein.
Plötzlich knackte hinter ihr ein Zweig. Sie wirbelte herum – aber da war nichts. Nichts außer pechschwarzer Dunkelheit. Wieder fegte ein Windstoß mit Macht durch die Bäume, und sie redete sich ein, dass es dieses Brausen im Geäst gewesen sein musste, das sie gehört hatte.
Doch so richtig glaubte sie das selbst nicht. Und deshalb rannte sie los.
Rannte, so schnell sie konnte, ohne sich noch einmal umzudrehen. Irgendwo hinter ihr war jemand – das spürte sie. Und sie konnte sich vorstellen, wie dieser Jemand ihr folgte – seine Schritte im Rhythmus ihrer Schritte.
Direkt hinter ihr.
Der Atem brannte in ihrer Kehle, die Muskeln protestierten, doch sie rannte Hals über Kopf weiter, immer zwischen den Bäumen entlang. Erst als der Weg eine Biegung machte und der Wald sich so weit lichtete, dass sie vor sich in der Ferne andere Schüler laufen sehen konnte, war sie nervlich in der Lage, sich umzudrehen.
Da war niemand.
Vor dem Schulgebäude stand ein Schüler mit einer blassblau fluoreszierenden Stablampe, der die Läufer stumm ins Ziel winkte. Allie hielt sich die Seiten und schleppte sich nach drinnen, wo sie sich direkt zum Übungsraum Eins begab – und zu Raj Patel, der im hinteren Teil des Raums stand und sich mit Zelazny unterhielt.
»Ich hab. Im Wald. Einen Mann. Gesehen«, japste sie ohne jede Vorrede.
Sie krümmte sich vornüber, stemmte die Hände gegen die Knie und sah zu, wie ihr Schweiß auf den Boden tropfte. Für einen Moment schloss sie die Augen und versuchte, zu sich zu kommen.
»Was?« Zelaznys Stimme war rasiermesserscharf. »Was ist los, Sheridan? Raus mit der Sprache!«
»Sie hat gesagt, sie hätte im Wald einen Mann gesehen«, sagte Mr Patel ruhig. Fast etwas zu ruhig. Allie drehte sich zur Seite und sah ihm ins Gesicht. Er betrachtete sie aufmerksam. »Beschreib ihn, Allie.«
»Kurze Haare«, keuchte sie. »Hatte ’nen Anzug an.«
Mr Patel erstarrte, und sie wusste, dass sie etwas Wichtiges gesagt hatte.
»Hast du ihn erkannt?«, fragte er und machte dabei jemandem hinter ihr ein Zeichen. Allie schüttelte den Kopf, die Hände immer noch auf die Knie gestützt. »Zu dunkel. Nur kurz gesehen.«
Allmählich kam sie wieder zu Atem. Das Seitenstechen ließ ebenfalls nach. Die große Aufmerksamkeit, die er ihrer Beobachtung schenkte, machte sie nervös. Es war dunkel gewesen, und sie hatte einen Mordsschreck bekommen – was, wenn sie sich das alles nur eingebildet hatte? Möglich war es, aber sie wusste nicht, wie sie das sagen sollte, ohne dass es wie ein totaler Rückzieher klang und sie sich völlig blamierte.
Plötzlich standen neben ihr zwei muskelbepackte Männer in Laufklamotten und eine Frau, die ihre blonden Haare zu einem straffen Zopf geflochten hatte. Sie sahen Mr Patel erwartungsvoll an.
»Allie hat im Wald jemanden gesehen«, erklärte er ihnen, ohne sie vorzustellen. »Der Mann hatte einen Anzug an.«
Sie warfen einander vielsagende Blicke zu. Fragend betrachtete Patel Allie. »Wo genau war das?«
Sie beschrieb ihm den Ort, so gut sie konnte. Als sie fertig war, nickte er den beiden zu, und sie verschwanden so schnell aus dem Raum, wie sie gekommen waren.
»Sollte da jemand sein, werden die ihn finden.« Mit diesen Worten entließ Mr Patel sie. Allie wollte noch die Dunkelheit erwähnen und ihre Zweifel, doch Zelazny und Patel waren offenkundig erpicht darauf, ihre Unterhaltung fortzuführen. Weshalb sie zu Carter ging, der längst eingetroffen war, und sich neben ihn auf die Matte fallen ließ.
»Alles okay?«, fragte er und reichte ihr eine Flasche kaltes Wasser. Sein Gesicht war von der Anstrengung gerötet. Neben ihm streckten Lucas, Jules und ein Junge, den sie nicht kannte, in verschiedenen Stadien der Erschöpfung alle viere von sich.
Allie hielt sich die kühle Flasche an die Stirn und nickte. »Mir geht’s gut. Abgesehen davon, dass ich meine Beine nicht mehr spüre. Aber was soll’s. Ich meine, wer braucht schon Beine?«
»Worüber hast du mit Patel geredet?« Carter sah ihr prüfend in die Augen. »Sah ein bisschen heftig aus.« Als sie ihm von dem Mann im Wald erzählte, wurden seine Lippen schmal. Jules und Lucas rückten näher, um ebenfalls zuzuhören.
»Du hast ihn also gar nicht richtig gesehen?«, fragte Lucas.
Sie schüttelte den Kopf. »Es war stockdunkel. Ich hab ihn vielleicht eine Sekunde lang gesehen. Als ich noch mal hin bin, war er schon weg.«
»Und du bist dir sicher, dass du dir das nicht nur eingebildet hast?«, fragte Carter. »Bei dem, was du durchgemacht hast, kann man ja nur paranoid werden.«
Seine Frage weckte ihre eigenen Zweifel wieder. »Tausend Prozent sicher bin ich mir nicht«, brauste sie auf, weil sie sich irgendwie angegriffen fühlte. »Aber ich musste Raj erzählen, was ich gesehen hatte.«
»Carter will damit ja nicht sagen, dass du was falsch gemacht hast, Allie«, sagte Jules besänftigend. »Er versucht nur rauszufinden, wie viele Sorgen er sich machen muss.«
»Na, macht euch um mich mal keine Sorgen.« Allie wusste, das klang schnippisch, aber sie konnte es nicht ändern. Hätte jemand anders den gruseligen Anzugsheini im Wald gesehen, hätte sie jetzt dieses Gespräch nicht führen müssen. Alle hätten es einfach geglaubt. »Raj hat ein paar von seinen Spürhunden losgeschickt, um nach ihm zu suchen.« Sie mied Carters Blick. »Und schließlich sind wir ja alle wohlbehalten hier angekommen, oder?«
»Alles aufstehen«, rief Mr Patel in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Stöhnend erhoben sich die Schüler. »Schnappt euch euren Trainingspartner, wir üben jetzt ein paar grundlegende Selbstverteidigungstechniken!«
Carter schnellte hoch, doch Allie rührte sich nicht. »Der macht wohl Witze«, sagte sie.
Von der anderen Seite des Raums bellte Mr Patel: »Bisschen zackiger, Leute!«
Unter Ächzen stand Allie vorsichtig auf – jeder einzelne Muskel tat ihr weh.
»Bist wohl ’n bisschen außer Form«, erklang Zoes Piepsstimme direkt hinter ihr. Allie holte erst einmal tief Luft, bevor sie sich umdrehte. Zoe merkte man die Strapazen überhaupt nicht an. Zwar hing ihr der Pferdeschwanz schlapp im Nacken, und ein leichter Schweißfilm bedeckte ihr Gesicht, doch ansonsten sprühte sie vor Energie wie immer.
»Nein, bin ich nicht«, erwiderte Allie.
Zoe zuckte mit den Achseln, der Zweifel stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Bist du bereit?«
Nein, dachte Allie.
»Ja«, sagte sie knapp.
»Hast du das schon mal gemacht?«
Ehe Allie antworten konnte, sprach Mr Patel erneut. »Einer macht den Angreifer, der andere ist der Angegriffene.«
»Ich mach den Angreifer«, erbot sich Zoe.
»Das passt ja«, murmelte Allie.
»Der Angriff kommt von links«, rief Mr Patel und spazierte durch den Übungsraum, um die Vorbereitungen der Schüler zu begutachten. »Der Angegriffene versucht dann, den Angreifer zu Boden zu werfen und ihn unten zu halten.«
Das klang nicht gut in Allies Ohren. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Angreifer zu Boden warf. Andererseits: Zoe war klein. Wie schwer konnte das schon sein?
»Auf drei!«, rief Mr Patel. »Eins, zwei …«
Allie spannte die Schultern an und wappnete sich. Zoe trat aus ihrem Sichtfeld.
»Drei!«, rief Mr Patel.
Zwei Hände packten sie am Arm. Als Allie versuchte, sich zu befreien, drehte sich plötzlich der Raum im Kreis, und sie landete flach auf dem Rücken und betrachtete den kunstvoll verzierten Putz an der Decke. Zoes Fuß ruhte auf ihrem Unterleib.
»Das war ja ’n bisschen schwach!« Zoe hob den Fuß und machte einen Schritt zurück.
»Was war das denn gerade?«, stöhnte Allie.
»Ich hab dich auf die Matte gelegt«, stellte Zoe sachlich fest.
»Gut!«, sagte Mr Patel. »Und jetzt andersrum!«
Allie sah verwirrt zu Zoe auf. Die seufzte nur. »Jetzt versuchst du, mich anzugreifen!«
Allie rappelte sich auf. Einen Moment lang blickte sie verzweifelt im Raum umher, um zu sehen, was die anderen taten. Dabei streiften ihre Augen Sylvain, der sie besorgt ansah.
Konzentrier dich, Allie, schärfte sie sich ein.
Sie holte tief Luft und versuchte herauszufinden, was Zoe gemacht hatte, als sie sie gerade angegriffen hatte. Dann stürzte sie sich auf sie.
Wieder drehte sich der Raum im Kreis. Und wieder landete sie unsanft auf dem Boden.
»Was …?«, japste sie. Ihr Brustkorb fühlte sich lädiert an.
Die Hände in die Hüften gestützt, stand Zoe über ihr und betrachtete sie von oben, als wäre sie eine besonders kniffelige Matheaufgabe, deren Lösung ihr schleierhaft war.
»Wieso kannst du das nicht besser?«, fragte sie.
Auf einmal verschwand das fluoreszierende Deckenlicht. Mr Patel hatte sich zu ihnen gesellt.
»Schön, Zoe, gut gemacht.« Mr Patel beugte sich herunter, um Allie aufzuhelfen. »Aber wie wär’s, wenn du Allie jetzt mal was beibringst, statt ihr nur wehzutun?«
»Das kapier ich jetzt nicht«, sagte Zoe und neigte den Kopf zur Seite wie ein wachsames Rotkehlchen.
»Das ist Allies erste Stunde«, erklärte er geduldig. »Sie hat so was noch nie gemacht. Ich hab euch nicht zusammengespannt, damit du sie krankenhausreif schlägst, sondern damit du ihr was beibringst.« Er wandte sich Allie zu. »Zoe ist eine von den Besten in unserem Kurs – ein richtiges Naturtalent –, deshalb dachte ich, ihr wärt ein gutes Gespann. Aber sie hat noch nie jemanden unterrichtet.« Er wandte sich wieder Zoe zu und sagte: »Also hör auf, ihr wehzutun, und hilf ihr einfach, okay? Wenn Allie was lernt, profitierst du auch davon.«
»Okay«, sagte Zoe ohne jeden Groll. Sie sah Allie an. »Soll ich dir zeigen, wie du mich aufs Kreuz legst?«
»Unbedingt«, sagte Allie mit zusammengebissenen Zähnen. Mr Patel überließ die beiden sich selbst.
»Also, du legst deine Hände hierhin«, erklärte Zoe und platzierte Allies Hände an die richtige Stelle auf ihrem Arm. »Und dann machst du einfach …«
Aber es wurde schnell klar, dass Allie eben kein Naturtalent war. Obwohl sie sich größte Mühe gab, Zoe aufs Kreuz zu legen, schaffte sie es nur, sie ein bisschen herumzuzerren. Ein-oder zweimal half Zoe nach und ließ sich zu Boden fallen, um zu illustrieren, wie die Bewegung sein sollte, doch obwohl Zoe so klein und schmal war, gelang es Allie nicht, sie umzuwerfen.
Als sie sich umschaute, sah sie reihenweise Schüler, die die Übung nahezu perfekt ausführten. In einer Ecke des Raums warf Jules Carter scheinbar mühelos zu Boden. Er lachte, als sie ihm aufhalf und liebevoll seine Schulter tätschelte. Nur Allie war anscheinend unfähig, diese offenbar doch so einfache Bewegung auszuführen. Sie verkrampfte immer mehr. Ihr wurde eng in der Brust, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Aber schließlich ergriff die Panik Besitz von ihr, und sie begann zu hyperventilieren.
Zum Glück ertönte in diesem Moment Mr Patels Stimme und machte der Tortur ein Ende. »Okay, Leute. Das reicht.« Er stellte sich wieder in die Mitte des Raums. »Für die meisten von euch war das noch recht einfach. Morgen wird es schwerer. Wer mit der heutigen Übung schon Probleme hatte, der sollte lieber noch üben. Denn das war erst der Anfang.«
Allie hielt die Augen auf den Boden gerichtet. Sie war die Einzige, die es nicht gekonnt hatte. Die Botschaft hatte nur ihr gegolten.
Während die anderen den Übungsraum verließen, blieb Allie zurück, zerschrammt und entmutigt, und hoffte nur, sich unbemerkt verdrücken zu können. Plötzlich stand Mr Patel neben ihr. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören.
»Wenn du noch etwas Nachhilfe brauchst, komm morgen früh noch mal her«, sagte er leise. »Ich glaube, Zoe wird eine gute Partnerin für dich sein. Aber manchmal dauert es eben, bis man in so einer Partnerschaft zueinanderfindet. Ihr werdet beide voneinander lernen.«
Allie verkniff sich einen Kommentar und nickte nur. Sie traute sich nicht zu sprechen, weil sie Angst hatte, gleich in Tränen auszubrechen.
Aber die werden mich nicht weinen sehen.
Von der anderen Seite des Raums sah Carter besorgt zu ihr herüber – das machte die Sache nur noch schlimmer.
Sie drehte sich um und rannte davon, bevor er ihr Gesicht sehen und erkennen konnte, wie mies es ihr ging. Blindlings stolperte sie den Gang entlang und die Treppe ins Erdgeschoss hoch. Sie wusste nicht genau, wohin sie wollte und ob ihr jemand folgte. Nur, dass sie jetzt weder mit Carter reden wollte noch mit Mr Patel.
Oder sonst irgendjemandem.
Das Ganze war einfach nur peinlich.
Sie schob die Hintertür auf und flitzte hinaus ins Freie.
Einhundertzwölf, einhundertdreizehn, einhundertvierzehn Schritte.
Nach einer Minute protestierte ihre erschöpfte Muskulatur aber derart vehement, dass sie nur noch Schritttempo lief. Die Nacht war kühl – der Regen hatte aufgehört, und es klarte auf. Der zunehmende Mond überzog die Landschaft mit Silberstaub.
Zwischen den Bäumen sah sie etwas Weißes aufleuchten. Zunächst verschlug es ihr den Atem, doch dann erinnerte sie sich:
Die Grotte.
Sie hatte den kleinen Pavillon völlig vergessen, wo sie sich am Abend der Feuersbrunst mit Jules versteckt hatte, doch nun machte sie sich auf zu dem hinter einer Baumreihe verborgenen Bauwerk.
Das mit einer Kuppel überdachte, weiße Gebäude war von schmalen Säulen umstanden. In deren Mitte befand sich eine Statue, auf die Mondlicht fiel – ein Mädchen im seidenen Gewand, die Arme über dem Kopf, einen Schleier durch die Finger gleiten lassend, auf ewig tanzend.
Allie setzte sich auf die kalte Marmorstufe neben die nackten Füße der Statue und legte den Kopf auf die Knie. Doch nun, da sie weinen wollte, kamen keine Tränen. Sie fühlte sich leer.
Vielleicht bin ich einfach nicht dafür gemacht, dachte sie unglücklich. Vielleicht bin ich einfach nicht gut genug für die Night School.
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein würde, in der Night School mit Pauken und Trompeten zu scheitern. Was würde Jules denken? Oder Lucas? Würden sie noch mit ihr befreundet sein wollen, wenn sie wussten, was für ein Loser sie war?
Jo wurde rausgeschmissen, überlegte sie. Und das hat auch nicht ihr ganzes Leben zerstört.
Aber bei Jo lag die Sache anders. Sie verkehrte in denselben Kreisen wie Lucas, Katie und Jules. Ihre Familie war einflussreich. Man würde sie immer mögen. Allie hingegen war eine Außenseiterin. Ihre Eltern waren Niemande. Sie würde die anderen nie zufällig beim Skifahren in der Schweiz treffen oder beim Shoppen auf der Bond Street oder der Fifth Avenue.
Weil sie nie dorthinkommen würde.
Abgesehen davon, dass ich Lucindas Enkelin bin. Schon bei dem Gedanken schwirrte ihr der Kopf. Vielleicht sollte ich doch …
»Allie.«
Die französisch gefärbte Stimme war unverkennbar. Allie blickte auf. Am Fuß der Treppe stand Sylvain; die Dunkelheit ließ seine Miene undurchdringlich erscheinen.
»Hey.« Allie senkte den Kopf wieder. »Na, bisschen Elend gucken? Ich hab gehört, die neuen Night-Schooler sollen nicht so der Bringer sein.«
Er setzte sich neben sie auf die Treppe. »Ich wollte nur schauen, ob es dir gut geht.«
»Tja.« Allie richtete sich auf. »Ich bin zwar der totale Loser. Aber sonst geht’s mir prima. Also … schwirr ab. Hier gibt’s nichts zu sehen.«
»Ich hab alles mitbekommen.« Er sah sie mit seinen strahlend blauen Augen an; ihre Wangen röteten sich, und sie wandte sich ab.
Sie zuckte mit den Achseln, um zu zeigen, wie gleichgültig ihr das alles war. »War es wenigstens unterhaltsam?«, fragte sie.
»Nein«, sagte er. »Deshalb bin ich nicht hier. Ich weiß, was schiefgegangen ist. Ich kann dir helfen.«
»Ich weiß auch, was schiefgegangen ist.« Sie wich seinem Blick aus. »Mir gelingt nicht mal die simpelste Bewegung. Das war ziemlich offensichtlich. Ich hab einfach … versagt.«
Er ignorierte ihren Anfall von Selbstmitleid. »Zoe ist sehr gut, aber sie ist noch jung. Sie hat noch nie jemandem etwas beigebracht. Sie hat dir zwar gezeigt, wie man’s macht, aber dabei ein paar wichtige Kleinigkeiten ausgelassen. Deine Hände waren zum Beispiel immer an der richtigen Stelle, aber die Fußstellung war jedes Mal falsch. Und wenn du nicht richtig stehst, kann es nicht funktionieren. Ich kann’s dir beibringen. Wenn du mich lässt.«
Sie musterte ihn aus dem Augenwinkel. Nichts deutete darauf hin, dass er sich über sie lustig machte. Er sprach mit fester und ruhiger Stimme. Und seine Art hatte irgendwie etwas Tröstliches. Vielleicht konnte er ihr ja tatsächlich helfen. Noch so eine Albtraum-Trainingsstunde wie gerade eben würde sie nicht durchstehen.
Während sie noch zögerte, nagte ein anderer Gedanke hartnäckig an ihr.
Carter würde das gar nicht gefallen.
Aber Carter war nicht hier. Und sie brauchte unbedingt etwas Übung.
»Na gut«, sagte sie. »Wir können’s versuchen. Aber ich warne dich: Ich bin ’ne totale Niete.«
Sylvains Lächeln strahlte Zuversicht aus. »Ich verspreche dir, du schaffst das.«
Er führte sie auf eine nahe gelegene Lichtung, wo ausreichend Kiefernnadeln auf dem Boden lagen, um eine federnde Matte abzugeben.
Nachdem er ein paar Steine und herabgefallene Äste aus dem Weg geräumt hatte, wandte er sich zu ihr.
»So, und jetzt stell dich so hin, als ob du mich angreifen würdest«, sagte er.
Allie ging in den Hockstand und versuchte, entschlossen dreinzusehen – die Arme seitlich abgewinkelt, die Hände zu Fäusten geballt. Sylvains Augen blitzen amüsiert, und er hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
»Okay, so wird das nichts. Du bist doch eine Läuferin – das heißt, deine Kraft liegt in den Beinen. Also stell dich mal grade hin.«
Er nahm sich ein paar Minuten Zeit, ihr zu erklären, was die richtige Körperhaltung war: Beine gerade, aber in den Knien leicht nachgeben, Arme locker an der Seite, Füße schulterbreit auseinander. Trotzdem, irgendetwas stimmte immer noch nicht.
»Dreh mal die Füße so«, sagte Sylvain und machte es vor. Als Allie versuchte, es ihm nachzumachen, schüttelte er den Kopf. »Nein, so ist es nicht ganz richtig.«
Er ging neben ihr in die Hocke und griff nach ihrem Bein. Seine Nähe machte Allie nervös, und sie hatte einen Kloß im Hals.
Obwohl Sylvain das unmöglich gemerkt haben konnte, hielt er in seiner Bewegung inne. Mit ausgestreckten Armen sah er zu ihr hoch, seine blauen Augen glitzerten im Mondlicht.
»Darf ich?«, fragte er.
Allies Magen verkrampfte sich.
»Ja«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Sie räusperte sich und sah zu, wie er vorsichtig ihren Knöchel in die Hand nahm und ihren Fuß neu ausrichtete. Sie spürte die Wärme seiner Hände auf ihrer Haut.
Falls er ihre Nervosität bemerkte, verriet er es nicht. Als sie in Position gegangen war, zeigte er ihr, wie sie ihn packen sollte. Wieder fragte er, bevor er sie anfasste. Diesmal freilich kam ihr »Ja« etwas entschlossener.
Er presste seinen Körper leicht gegen ihren, legte eine ihrer Hände auf seine Schulter, die andere auf seinen Ellbogen und brachte behutsam ihre Finger in Position. Sie stand stocksteif da, seine sanfte Berührung verursachte ihr überall Gänsehaut.
Ich versuche, ihn mit Gewalt zu Boden zu werfen. Dagegen kann Carter doch schwerlich was haben, oder?
Sylvain trat einen Schritt zurück und machte ihr vor, wie sie das Gewicht verlagern sollte, wenn sie die Bewegung ausführte. Nachdem sie das ein paarmal geübt hatte, beschlossen sie, es einmal ernsthaft zu versuchen.
»Okay, also … Ich renn jetzt auf dich zu«, sagte er. »Mach einfach genau das, was du gerade geübt hast, dann wird das perfekt hinhauen.«
»Ich bin bereit«, sagte sie. Ihre Zuversicht war etwas aufgesetzt.
Ich werd’s vermasseln. Ich werd’s vermasseln. Ich werd’s …
Sylvain lief auf sie zu, und ihre Gedanken hörten auf, sich im Kreis zu drehen. Sie packte ihn am Arm und verlagerte ihr Gewicht, so, wie er es ihr beigebracht hatte.
Er landete auf dem Rücken, zu ihren Füßen.
Sie ließ einen kleinen Freudenschrei los und wartete darauf, dass er sie über den grünen Klee lobte. Aber er sagte nichts. Genauer gesagt: Er bewegte sich nicht. Mit geschlossenen Augen lag er reglos da.
»Sylvain?« In einem Anfall von Panik ging sie neben ihm in die Knie. Sie konnte nicht erkennen, ob er noch atmete. »Sylvain? Alles okay? Hab ich dich jetzt umgebracht, oder was?«
Dann bemerkte sie, dass er sich vor Lachen kaum halten konnte. Unvermittelt öffnete er seine blauen Augen. »Wusst ich’s doch, dass du das kannst«, sagte er und sprang auf.
Allie schnappte nach Luft. »Mach das nicht noch mal!«
Doch Sylvains Lachen war ansteckend, und so sprang sie ebenfalls auf und rief: »Ich hab’s geschafft! Ich hab’s geschafft!« Sie entfernte sich tanzend von der Lichtung und warf sich in Siegerpose, indem sie wie ein Bodybuilder ihre Hände über dem Kopf verschränkte.
Bis sie abrupt vor Sylvain stehen blieb. »Warte mal, Sylvain. Hast du mich da gerade verarscht? Also, so richtig verarscht? Oder hab ich das bloß geträumt?«
»Wovon redest du?« Er tat überrascht. »Ich hab einen sehr guten Sinn für Humor.«
»Ah ja.« Allie hob zweifelnd eine Braue.
»Okay – und jetzt mal ganz im Ernst.« Er griff nach ihrer Hand und führte sie zurück auf die Lichtung. Sie fühlte sich überrumpelt von der plötzlichen Berührung, zuckte aber nicht zurück. »Das hast du gut gemacht. Ein paar Sachen würde ich noch etwas anders angehen, aber das war schon recht gut.«
»Dann bring’s mir bei.« Sie war selbst erstaunt von der Entschlossenheit in ihrer Stimme. »Ich möchte alles lernen.«
Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er verstand, wie sie sich fühlte. Doch er sagte nur: »Gut, dann fangen wir mal an mit einem Angriff von rechts. Da musst du nur ein bisschen anders stehen.«
Während der nächsten halben Stunde zeigte er ihr, wie man auf Angriffe aus den unterschiedlichsten Richtungen reagiert – und sich ohne Vorwarnung in die richtige Position dreht. Wie man sich wehrt. Am Schluss schwitzten sie beide, trotz der kühlen Nachtluft.
Er brachte ihr gerade bei, wie man aus einem Schwitzkasten entkommt, und hatte die Arme von hinten um sie gelegt, während ihre Hände auf seinem Handgelenk ruhten, als Carter ins Mondlicht trat und sie ungläubig anstarrte.
»Allie? Was soll …? Was geht hier ab?«