Vignette

Drei

»Schön, dass du wieder da bist!« Isabelle trat aus dem imposanten viktorianischen Klinkerbau, der die Cimmeria Academy beherbergte. Leichten Schrittes kam sie die alte Steintreppe hinunter und legte den Arm um Allies Schultern. »Ich bin so froh, dich heil wiederzusehen«, sagte die Rektorin.

»Ja, zum Glück ist noch alles dran«, erwiderte Allie mit einem Lächeln.

Nach der Londoner Rettungsaktion hatte Allie ein paar Tage Zuflucht bei Familie Patel genommen. Die meiste Zeit hatte sie am Swimmingpool herumgehangen. Und sie war das erste Mal geritten. Während Mrs Patel Allie ständig bemutterte und bekochte und stets um Allies Sicherheit besorgt war, folgte Rachels jüngere Schwester Minal den beiden auf Schritt und Tritt – sie wollte bei allem dabei sein, was die beiden taten. Die Patels waren genau die Art von Familie, nach der sich Allie immer gesehnt hatte. So, wie ihre Familie beinahe einmal gewesen war. Es war eine bittersüße Erinnerung.

Rachels Vater und Isabelle waren dann zu dem Schluss gekommen, dass Allie in Cimmeria sicherer aufgehoben war. Und so hatte Mr Patel die Mädchen ins Internat zurückgebracht, obwohl die Schule erst in zehn Tagen beginnen sollte.

Da war sie also nun.

Für Allie sah die Schule noch genauso aus wie im Sommer – massiv und furchteinflößend, mit ihrem Schieferdach, den unzähligen gotischen Türmchen und den Kreuzblumen, die sich wie schwarze Messer in den Himmel bohrten. Die symmetrisch angeordneten, überwölbten Fenster schienen zu beobachten, wie die beiden Mädchen ihre Taschen aus dem Auto wuchteten.

Die Rektorin hatte ihre hellbraunen Haare mit einer Haarspange straff nach hinten frisiert. Sie trug ein weißes Cimmeria-Poloshirt und Jeans. Allie konnte sich nicht erinnern, Isabelle je zuvor in Jeans gesehen zu haben.

»Danke, dass du mir Mr P zur Rettung geschickt hast«, sagte Allie zu Isabelle. »Ich weiß nicht, was ohne ihn passiert wäre.«

»Du hast meine Anweisungen perfekt befolgt«, erwiderte die Rektorin. Sogar an einem wolkigen Tag wie heute schienen ihre goldbraunen Augen zu leuchten. »Du warst sehr tapfer. Ich kann gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin.«

Allie errötete und betrachtete verlegen ihre Füße.

Taktvoll lenkte Isabelle die Aufmerksamkeit auf Allies Begleiter. »Rachel, meine Vorzeigeschülerin, Gott sei Dank bist du wieder da! Eloise wird auch heilfroh sein. Die Bibliothek braucht dich. Hallo, Raj!« Sie schüttelte Rachels Vater die Hand und hob eine Braue. »Oder sollte ich Mr P sagen?«

»Tu dir keinen Zwang an.« Er lächelte schief. »Ich hab da ja wenig mitzureden.«

»Vielen, vielen Dank, dass du uns Allie wohlbehalten zurückgebracht hast.«

Mr Patels Lächeln erstarb. »Wir hatten Allie die ganze Zeit im Blick – und trotzdem hätten die sie beinahe geschnappt«, sagte er mit ernster Miene. »Ich habe ja am Telefon schon gesagt, wir untersuchen gerade, wie das passieren konnte.«

Ein Schatten huschte über Isabelles Gesicht. »Wo wir gerade dabei sind, ich müsste noch etwas mit dir besprechen«, sagte sie. »Kannst du kurz bei mir im Büro vorbeischauen, bevor du fährst?«

Dann wandte sie sich dem Gepäckhaufen neben dem Auto zu. »Da sind doch bestimmt hauptsächlich deine Bücher drin, oder?«, sagte sie zu Rachel. »Du kannst sie ruhig in den Ferien hierlassen. Wir schmeißen sie schon nicht weg.«

Grinsend warf sich Rachel eine von den Taschen über die Schulter. »Ach, du kennst mich doch, Isabelle …«

»Allerdings. Na, dann kommt mal rein. Wir haben immer noch alle Hände voll zu tun mit der Renovierung, da muss jeder mit anpacken, darum sind wir mehr auf uns gestellt als sonst.«

Isabelle schnappte sich ebenfalls eine Tasche und marschierte zur Tür. Die anderen luden sich das restliche Gepäck auf und folgten ihr durch das stattliche Eingangsportal. Das große Bleiglasfenster über ihren Köpfen blieb heute matt – die Sonne hatte sich hinter einer Wolkendecke versteckt. Allie fiel auf, dass der Wandteppich fehlte, der normalerweise neben der Tür hing, doch rasch musste sie feststellen, dass sich noch viel mehr verändert hatte, seit sie die Schule das letzte Mal gesehen hatte – an dem Abend, als sie beinahe abgebrannt wäre.

»Carter, Sylvain und Jo sind schon da«, hallte Isabelles Stimme durch den kühlen Raum. »Jules und Lucas werden im Laufe der nächsten Tage noch zu uns stoßen und ein paar von den jüngeren Schülern auch, aber ansonsten werden wir bis Schulanfang mehr oder weniger unter uns sein.«

Den Holzboden des breiten Hauptflurs bedeckte nun ein Teppich aus schmutzigen Stoffplanen. Die Ölgemälde, die sonst über der glänzenden Eichenvertäfelung hingen, waren alle verschwunden.

Bestürzt ließ Allie ihren Blick umherschweifen.

Mit einem Mal fiel ihr auf, wie schrill Isabelles Stimme klang. Sie merkte, welche Mühe es die Rektorin kostete, ihre Anspannung hinter einer Fassade aus fröhlichem Geplauder zu verbergen.

»Wegen der Brandschäden müssen wir einzelne Klassen-und Schlafräume verlagern«, sagte Isabelle. »In zehn Tagen, wenn die restlichen Schüler eintrudeln, müssen wir fertig sein. Da wird euch, fürchte ich, gar nichts anderes übrig bleiben, als euch freiwillig zum Arbeitseinsatz zu melden.«

Strammen Schrittes führte Isabelle sie die breite Treppe nach oben. Der Kristallkronleuchter über ihren Köpfen war in Schutzfolie gehüllt. Allie hatte Mühe, den Anschluss zu halten. Irgendwo im Hintergrund wurde gehämmert. Arbeiter riefen knappe Befehle, etwas wurde über den Boden geschleift.

Dass gewisse Reparaturarbeiten unvermeidlich waren, war Allie klar gewesen. Aber dass sie die Schule derart … nackt vorfinden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Ohne die Kunstgegenstände und die vielen kleinen Details, durch die sie wie ein Märchenschloss angemutet hatte, wirkte sie ziemlich angeschlagen. Behutsam ließ Allie ihre Finger über das glatt polierte Eichengeländer gleiten, wie um es zu trösten.

Oben angekommen, gelangten sie über eine weitere Treppe in einen Flur und von dort abermals zu einer Treppe. Der bis dahin eher schwache Rauchgeruch wurde nun regelrecht beißend. Allie zuckte zusammen. Sie erinnerte sich an den Moment, als sie ihren Bruder Christopher dabei erwischt hatte, wie er mit einer Fackel in der Hand versucht hatte, die Schule in Brand zu setzen.

Als hätte sie diese Reaktion erwartet, eilte sogleich Isabelle herbei, legte den Arm um Allies Schultern und geleitete sie den Flur entlang.

»Dein Zimmer hat einen Wasserschaden, und es wurde durch den Rauch stark beschädigt. Deswegen haben wir dich woandershin verlegt.« Sie bugsierte Allie an ihrem ehemaligen Zimmer vorbei zur Tür mit der Nummer 371. »Deine Sachen sind schon alle hier.«

»Hey, das ist ja direkt neben meinem!«, rief Rachel und stieß die Tür zu Zimmer 372 auf. »Hallo, mein lieber rechteckiger persönlicher Freiraum, wie hab ich dich vermisst«, hörte Allie sie sagen.

Isabelle öffnete die Tür zu Allies Zimmer. »Ich dachte, du fühlst dich vielleicht wohler, wenn du neben Rachel wohnst.«

Der schlicht eingerichtete Raum verströmte den klebrig-sauberen Chemiegeruch frischer Farbe. Allie blieb in der Tür stehen, während Isabelle sich an dem Bogenfenster zu schaffen machte und es aufstieß, um das wässrig-graue Licht hereinzulassen.

In den beiden hohen Regalen standen bereits Allies Bücher. Das Bett war mit einer flauschigen, weißen Daunendecke bezogen, und über dem Fußbrett hing ordentlich zusammengefaltet eine dunkelblaue Wolldecke – genau wie in ihrem früheren Zimmer. Alles sah aus wie vorher.

Isabelle war schon wieder auf dem Weg nach draußen, als sie an der Tür stehen blieb, die Hand auf der Klinke.

»Deine Eltern haben ein paar von deinen Sachen geschickt, sie sind in deinem Garderobenschrank.« Sie öffnete die Zimmertür. »Komm doch in mein Büro, wenn du dich eingerichtet hast. Wir sollten uns mal unterhalten.«

 

Als die Tür ins Schloss fiel, machte Allies Herz vor Freude einen Sprung. Sie war wieder da, wo sie hingehörte.

Wie anders war diese Rückkehr doch im Vergleich zu letztem Sommer, als sie zum ersten Mal hierhergekommen war. Damals hatte Cimmeria einschüchternd und abscheulich auf sie gewirkt. Die meisten Schüler hatten sie behandelt wie jemanden, der uneingeladen in eine exklusive Feierlichkeit platzt. Ihre Eltern waren damals so wütend auf sie gewesen – sie war kurz zuvor wegen Graffiti-Sprayens festgenommen worden –, dass sie ihr nichts über die Schule erzählt hatten. Sie hatten sie einfach hingefahren und dort abgesetzt. Als Jules, die makellose blonde Vertrauensschülerin, sie am ersten Tag herumgeführt hatte, war Allie sich wie ein Trottel vorgekommen. Erst da hatte sie von den seltsamen Regeln auf Cimmeria erfahren – elektronische Geräte waren verboten, niemand durfte das Schulgelände verlassen – und von der elitären Gruppe namens Night School, die sich abends, wenn alle anderen schon schliefen, heimlich traf und irgendwelche komischen Übungen abhielt, bei denen die anderen Schüler nicht einmal zusehen durften.

Doch jetzt, keine zwei Monate später, fühlte sie sich wie zu Hause hier.

Allie öffnete den Kleiderschrank, nahm den kleinen Koffer heraus, den ihre Eltern ihr geschickt hatten, und zog den Reißverschluss auf. Sie hatte ziemlich genaue Angaben gemacht, was in dem Koffer sein sollte: etliche Bücher, ihre sämtlichen Schulhefte, ein paar Wechselklamotten sowie …

Sie lächelte.

Da sind sie ja. Gleich obendrauf.

Ihre roten, knielangen Dr. Martens.

Mit einer Hand strich sie über das abgewetzte dunkelrote Leder, mit der anderen griff sie nach dem Brief, den ihre Mutter beigelegt hatte.

»Ich weiß zwar nicht, wozu du die brauchst …«, begann er.

»Ich weiß, dass du das nicht weißt, Mama«, gluckste Allie mehr amüsiert als verärgert und überflog den Rest des Briefs, der die nächtlichen Londoner Ereignisse mit keinem Wort erwähnte. Auch stand nichts über Isabelle oder Nathaniel darin. Nichts, das irgendwie von Belang war.

Manchmal kam es Allie so vor, als ob man sie rein zufällig aus ihrer 08/15-Welt herausgehoben und mitten in das Leben eines anderen verpflanzt hätte. Ein Leben, in dem es ständig »jeder gegen jeden« hieß. Im Augenblick stand sie in der Schusslinie, hatte aber keine Idee, wer sie im Visier hatte. Doch sie lernte allmählich, wem sie vertrauen konnte.

Rasch leerte sie den Koffer aus und stopfte die Kleider in die Schubladen. Doch selbst das dauerte ihr irgendwie zu lange, und so rannte sie aus dem Zimmer, obwohl der Koffer noch geöffnet auf dem Fußboden lag.

Ungeduldig klopfte sie an der Nachbartür und betrat, ohne eine Antwort abzuwarten, das Zimmer. Umgeben von Büchern, saß Rachel im Schneidersitz auf dem Fußboden, über einen Text gebeugt.

»Auspacken können wir später immer noch«, sagte Allie und hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Hast du Lust, in die Bibliothek zu gehen?«

»Du meinst, ob ich Lust habe nachzuschauen, wo Carter steckt?« Mit einem nachsichtigen Lächeln klappte Rachel ihr Buch zu und rappelte sich auf. »Na klar.«

 

Im Erdgeschoss war ordentlich was los. Aus dem Klassenzimmerflügel drang Gehämmere, und man sah Arbeiter den beschädigten Putz herausreißen. Rußgeschwärzte Holzpaneele lehnten an der Wand und warteten auf ihren Abtransport. Daneben wurde gerade ein angekokelter Schreibtisch entsorgt. Arbeiter kamen und gingen und verbreiteten emsige Betriebsamkeit. Baugerüste türmten sich vor den Wänden und bildeten ein silbernes Gitter.

Am anderen Ende des Gangs sah es besser aus. Der Speisesaal war unversehrt, und der Aufenthaltsraum sah aus wie vor dem Brand.

Der Rittersaal war zwar in gutem Zustand, aber so voller Möbel, dass sie sich nur mit Mühe hineinquetschen konnten. Offensichtlich wurden hier die Möbel aus den Räumen gelagert, die gerade renoviert wurden.

Rachel schlüpfte vorsichtig an den Beinen eines Stuhls vorbei, der umgekippt unter einem Schreibtisch lag. »Ich hab mich schon gefragt, wo sie die ganzen Möbel hingetan haben …«

Sie hatte den Satz noch nicht vollendet, da flog die Tür auf, und Sylvain stürzte herein. Er schleppte einen großen, schweren, zusammengerollten Orientteppich und war so darauf konzentriert, seine sperrige Fracht durch die Tür zu bugsieren, dass er die beiden zuerst gar nicht bemerkte. Doch dann sah er auf, und seine strahlend blauen Augen begegneten denen von Allie. Sylvain war so perplex, dass er das Gleichgewicht verlor, und der Teppich gefährlich ins Schlingern geriet. Allie und Rachel duckten sich weg, während Sylvain versuchte, die Kontrolle über den Teppich wiederzuerlangen, und ihn schließlich mit einem staubig-dumpfen Knall zu Boden plumpsen ließ.

In der anschließenden Stille bemerkte Allie, dass ihm die dunklen, welligen Haare in die Stirn fielen und seine sonnengebräunte Haut vor Anstrengung glänzte.

Wieso fällt mir das auf?

Sie zuckte beinahe zusammen, als Rachel sprach.

»Hi, Sylvain. Wir wollten dich nicht erschrecken.«

»Hallo, Rachel. Schön, dass du wieder da bist.«

Als sie seine vertraute Stimme mit dem eleganten französischen Akzent hörte, wurde Allie von Gefühlen übermannt, für die sie keinen Begriff hatte. Als hätte sie sich bewegt – und das hatte sie ganz bestimmt nicht –, drehte er sich zu ihr um.

»Hallo, Allie«, sagte er leise.

»Hey, Sylvain.« Sie schluckte nervös. »Ich … ich … äh … Wie geht’s dir?«

»Es geht mir gut.«

Sein merkwürdig förmlicher Tonfall ließ ihn kultivierter klingen, als man es bei einem Siebzehnjährigen vermutet hätte. Damals, als sie sich kennengelernt hatten, hatte ein Wort von ihm genügt, und Allie war dahingeschmolzen.

Aber das ist lange her.

»Und wie geht es dir?«, fragte er. Während sie sich verlegen weiterunterhielten, wich Rachel Richtung Tür zurück.

»Ich geh nur mal schnell …«, sagte sie vage und lief hinaus. Als sie weg war, versuchte Allie, Sylvains zurückhaltende Miene zu deuten.

»Mir geht’s … ganz gut«, sagte sie, doch es schnürte ihr die Kehle zu, und sie musste heftig schlucken. »Ich hatte einfach … nie die Gelegenheit. Dir zu danken, meine ich. Nach dem Brand.« Sie machte einen Schritt auf Sylvain zu und griff nach seinem Arm. »Du hast mir das Leben gerettet, Sylvain.«

Als sie ihn berührte, gab es einen elektrischen Funken, der ihnen beiden einen Schreck einjagte. Allie schrie auf und riss sich los. Dabei stolperte sie über den zusammengerollten Teppich. Sylvain packte ihren Arm, um sie vor einem Sturz zu bewahren, ließ dann aber schnell los und trat einen Schritt zurück.

So hatte sich Allie ihre Begegnung ganz bestimmt nicht vorgestellt. Cool wollte sie ihm entgegentreten – und nicht wie ein Tollpatsch über Teppiche stürzen und ihm einen elektrischen Schlag versetzen – mit ihrer Haut!

Ihre Wangen röteten sich. »Tut mir leid. Ich muss … dann mal los …« Sie ignorierte Sylvains enttäuschten Gesichtsausdruck und verließ fluchtartig den Raum.

Als sie um die Ecke gebogen war und sich in Sicherheit fühlte, blieb sie stehen, lehnte sich gegen die Wand und presste die Augen zu.

Das ging ja wohl voll in die Hose.

Während sie die Szene immer wieder vor ihrem geistigen Auge abspielte, schlug sie rhythmisch den Hinterkopf gegen die Wand.

»Hi, Sylvain«, murmelte sie dabei sarkastisch. »Ich bin ein Volltrottel. Und du?«

Seufzend richtete sie sich auf und trat wieder in den Flur, wo sie geradewegs Carter über den Weg lief.

Lachend schloss er sie in die Arme und hob sie hoch. »Hey, es ging das üble Gerücht um, du seist wieder da«, sagte er, als er sie wieder absetzte.

Sie lehnte sich zurück, um ihn anzuschauen. Sein Hemd war mit Farbspritzern übersät, und seine Frisur war im Eimer. Seine Stirn zierte ein weißer Farbstreifen. Süß, dachte sie. Er fasste sie fest an der Taille. Nach ihrem peinlichen Zusammentreffen mit Sylvain war allein die Tatsache, bei Carter zu sein, wie Balsam für Allies Seele.

»Schlechte Nachrichten verbreiten sich wie der Wind«, sagte sie und reckte ihm ihre Lippen entgegen.

Der Kuss löste eine wohlige Wärme in ihrem ganzen Körper aus. Sie öffnete die Lippen und umschlang seine Schultern noch fester, als er mit den Händen über ihren Rücken strich.

Nach einer Weile legte er seine Stirn an ihre und flüsterte: »Mein Gott, was hab ich dich vermisst.«

Sie lächelte ihn mit den Augen an. »Ich dich auch.«

»Du siehst gut aus«, sagte er und richtete sich auf. »Geht’s dir auch gut? Als Isabelle mir erzählt hat, was in London passiert ist, war ich …« Er vollendete den Satz nicht, doch in seinem Kiefer arbeitete es. »Na ja, als sie’s mir erzählt hat, wussten wir schon, dass du in Sicherheit warst, aber … Es geht dir doch wirklich gut, oder?«

»Ja, ja, alles okay«, sagte Allie. »Rachels Dad hat mich rausgehauen. Er ist der reinste … Rockstar.«

»Ja. Muss ein echter Kerl sein«, sagte Carter lächelnd. »Selbst Zelazny redet über ihn, als wäre er Batman.«

Bei der Erwähnung ihres verhassten Lehrers verzog Allie das Gesicht.

Carter wedelte scherzend mit dem Zeigefinger. »Ihr zwei müsst lernen, miteinander klarzukommen, Allie. Der Mann ist ziemlich wichtig.«

»Ich weiß ja, ich weiß«, murmelte sie. »Aber es liegt nicht an mir – er hat mich zuerst gehasst. Ich hasse ihn nur zurück.«

Carter lachte. »Das ist ja wohl die beknackteste Ausrede, die ich je gehört habe.«

Sie konnte es gar nicht glauben, dass sie endlich wieder hier war – und sich wie eh und je mit Carter zoffte. In einem plötzlichen Anfall von Glück quetschte sie seine Hand. »Ich hab dich echt vermisst, weißt du das?«

 

Carter zerrte sie in eine Nische hinter der Haupttreppe und küsste sie abermals, nur diesmal etwas leidenschaftlicher. Mit den Lippen beschrieb er eine Linie von ihrer Wange zum Nacken. Sie bekam eine Gänsehaut, und als sie ihre Finger in seine sehnigen Schultermuskeln bohrte, stöhnte er lustvoll auf und küsste sie.

 

»Ach, Carter, da bist du ja.«

Carter wirbelte herum, als er Isabelles Stimme hörte. Allie versuchte, ihre Haare zu glätten und eine Unschuldsmiene aufzusetzen, doch der abgebrühte Blick der Rektorin verriet ihr, dass man Isabelle nichts vormachen konnte.

»Eloise sucht schon nach dir. Und sie würde sich bestimmt freuen, wenn du, Allie, ihr auch zur Hand gehen würdest«, sagte die Rektorin. »Sofern du dafür Zeit hast, natürlich.«

Ihr schroffer Ton ließ Allie das Blut in die Wangen schießen. Carter hingegen konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken, das verrieten seine zuckenden Schultern.

»Ich weiß echt nicht, was daran so lustig ist«, erwiderte Allie steif. Worauf Carter erst recht lachen musste und sie sanft in Richtung Bibliothek zog.

»Jetzt hab dich nicht so, Al. Du weißt doch, Isabelle ist in Ordnung. Sie wird uns schon nicht wegen dem bisschen Geknutsche einen Arrest aufbrummen.« Als Allie weiterschmollte, kitzelte er sie, bis sie sich lachend entwand.

»Ist ja gut, ist ja gut«, kicherte sie und versuchte, seinen Händen zu entkommen.

Doch sobald sie sich der Tür zur Bibliothek näherten, verflog Allies gute Laune. Sie ließ Carters Hand los und verlangsamte ihre Schritte, bis sie schließlich stehen blieb.

Carter drehte sich zu ihr um und sah sie besorgt aus dunklen Augen an.

»Warst du seit dem Brand überhaupt schon mal wieder hier?«

Allie schüttelte stumm den Kopf, den Blick fest auf die Tür gerichtet.

»Und du willst jetzt da reingehen?«

Sie schüttelte abermals den Kopf. »Nein. Ganz und gar nicht.«

Er griff nach ihrer Hand.

»Das musst du auch nicht«, sagte er sanft. »Lass dir einfach noch ein bisschen Zeit.«

Sie nickte, ohne den Blick von der Tür zu wenden, die sich bedrohlich vor ihr aufzutun schien.

»Ich weiß«, sagte sie. »Aber je länger ich damit warte, desto schwerer wird es werden.« Ihre Augen flackerten unruhig und sahen immer wieder zur Tür.

»Ich muss da durch. Ich meine, ich kann doch nicht einfach nicht in die Bibliothek gehen, nur weil ich Angst habe. Schließlich wird hier das ganze … Wissen aufbewahrt.«

Carter ließ sich durch ihren müden Scherz nicht täuschen und hielt weiter fest ihre Hand.

»Tja, dann. Denk dran: immer weiteratmen, okay?«

Allie nickte, die Augen immer noch auf die schwere Eichentür gerichtet. Sie wusste ja, dass es nur eine ganz normale Tür war, mit einem ganz normalen Raum dahinter. Aber es war eben der Raum, in dem sie beinahe ums Leben gekommen wäre.

Während Carter nach der Türklinke griff, studierte er ihren Gesichtsausdruck.

»Bist du so weit?«

Ihr pochte das Herz in den Ohren. Sie nickte.

Die Tür schwang auf.

»Ach du Schreck«, flüsterte sie und schlug sich die Hand vor den Mund.

Der vordere Teil des einst wunderschönen Raums war beinahe komplett zerstört. Von dem hohen, alten Bibliothekarsschreibtisch, der vorne an der Tür gestanden hatte, war nur noch ein verkohltes Quadrat auf dem Boden übrig geblieben. Auch die hohen Bücherregale hatte es reihenweise erwischt, und ein Teil der Holzvertäfelung aus dem 18. Jahrhundert mit ihren aufwendigen Schnitzarbeiten war nur noch Asche. Beißender Rauchgeruch lag in der Luft.

»Sieht schlimm aus, ich weiß«, sagte Carter. »Aber glaub mir, es war noch schlimmer.«

Ein plötzlicher Anflug von Traurigkeit überraschte Allie. Vor dem Brand war dies einer ihrer Lieblingsorte in Cimmeria gewesen. Stets überfüllt mit Schülern, die in tiefen Ledersesseln saßen, die Füße auf dem weichen Orientteppich, und die im Schein der grün beschirmten Lampen ihre Bücher lasen. Alles futsch. Die Möbel waren entfernt worden, und der nackte, versengte Boden wirkte kalt und verlassen.

»Alles hin«, wisperte sie.

»Als ich es das erste Mal gesehen habe, hab ich genauso reagiert«, sagte Eloise Derleth mitfühlend. Sie hatte die langen, schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, und ihre Klamotten – weißes T-Shirt und Jeans – waren genauso mit Farbe bekleckert wie die von Carter. Sogar auf ihrem Brillengestell klebte Farbe.

»Hallo, Allie«, sagte sie. »Schön, dass du wieder da bist.«

»Eloise! Ich fasse es nicht!«, sagte Allie und wandte sich der jungen Bibliothekarin zu. Ihre Stimme bebte. »Deine schöne Bibliothek!«

Eloise blickte mit stoischer Miene umher. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. In gewisser Weise hatten wir sogar Glück.«

Sie lief dorthin, wo früher ihr Schreibtisch gewesen war. »Die Aufzeichnungen, die wir hier aufbewahrt haben, sind alle verloren. Das ist insofern tragisch, als sie über ein Jahrhundert zurückreichten. Aber die etwas älteren Aufzeichnungen lagern im Speicher, denen ist nichts passiert.«

Eloise deutete auf eine Brandstelle, wo früher die Bücherregale bis unter die Decke gereicht hatten. »Hier standen die Neuerscheinungen, die hatten den geringsten Wert. Die alten griechischen, lateinischen und anderen antiquarischen Bücher standen auf der anderen Seite und haben fast alle den Brand überlebt. Ein paar von ihnen haben Wasser-oder Rauchschäden. Aber wir haben eine der besten Restauratorenfirmen weltweit engagiert, und die tun, was sie können, um die Bücher zu retten. Du siehst also«, fügte sie mit finster entschlossenem Lächeln hinzu, »es hätte schlimmer kommen können.«

Allie sah ringsum nur Zerstörung, aber sie hielt den Mund. Sie ahnte, dass der Brand Eloise das Herz gebrochen haben musste.

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Das kriegen wir schon wieder hin. Wie kann ich dir helfen?«