Vier
»Ich komm da nicht richtig ran.« Allie deutete auf eine rauchgeschwärzte Stelle der Bibliothekswand, die außerhalb der Reichweite ihrer Scheuerbürste lag. »Selbst wenn ich mich auf die Zehen stelle.«
Bob Ellison blickte über den Rand seiner Nickelbrille. »Mach einfach so hoch, wie du kannst. Den oberen Teil der Wand und die Decken erledigen später die Leute mit den Leitern.«
Mr Ellison war normalerweise für die Grünanlagen der Schule verantwortlich. Nun organisierte und beaufsichtigte er die Renovierungsarbeiten. Er hatte Allie dafür eingeteilt, die Wände in der Bibliothek zu schrubben, damit dort anschließend gestrichen werden konnte. Sie trug unförmige gelbe Gummihandschuhe, die ihr bis zum Ellbogen reichten, und tauchte immer wieder eine Bürste von der Größe eines Ziegelsteins in den Wassereimer vor ihr, bis eine schmutzige Brühe von der Wand auf die Abdeckplane rann.
»Mit iPod würde das mehr Spaß machen«, grummelte sie. Auf Cimmeria war sämtliche moderne Technologie verboten – man durfte weder Computer noch Handys haben, selbst Fernseher gab es im Internat nicht.
»Glaubst du wirklich?«
Allie fuhr herum, als sie die vertraute Stimme hörte. Vor ihr stand ein schlankes Mädchen mit kurzem Haar und lächelte sie schüchtern an, was eigentlich gar nicht ihre Art war.
»Jo!« Allie ließ die Bürste in ihren Wassereimer plumpsen, dass es nur so spritzte, und stürzte auf sie zu. »Bin ich froh, dich wiederzusehen.«
Vorsichtig abwartend, erwiderte Jo ihren Blick. »Ich war mir nicht sicher, ob du dich freust.«
Jos Zusammenbruch am Ende des Sommertrimesters hatte Allies ohnehin wackelige Welt vollends ins Wanken gebracht. Und es war Jos Freund Gabe gewesen, der Ruth umgebracht hatte, damals auf dem Sommerball. Jo hatte bei der ganzen Sache keine gute Figur abgegeben und Gabe selbst dann noch gedeckt, als sie wusste, dass weitere Menschenleben in Gefahr waren.
Doch Allie war selbst schon dreimal in Polizeigewahrsam gelandet. Sie kannte sich aus mit falschen Entscheidungen. »Natürlich freu ich mich.« Als sie Eimer und Bürste zu Jos Füßen bemerkte, wechselte sie rasch das Thema. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Ereignisse des letzten Trimesters aufzuarbeiten. »Bist du auch in der Eimer-Brigade?« Jo nickte.
»Dann bist jetzt du mein iPod. Mr Ellison«, Allie wandte sich an den Schulgärtner, der mit seinem Klemmbrett beschäftigt war, »darf Jo mit mir zusammenarbeiten?«
»Solange ihr genauso viel arbeitet, wie ihr quatscht, meinetwegen.« Der schroffe Ton wurde durch seinen amüsierten Blick relativiert. Allie strahlte bis über beide Ohren.
»Ist das eine Brühe. Krass.« Jo setzte ihren Eimer ein paar Meter entfernt von Allies ab. »Seit wann bist du hier?«
»Seit ’ner Stunde. Wir haben uns kurz umgeschaut und …« Allie wedelte mit ihrer Bürste.
Jo streifte sich die Gummihandschuhe über. »Du bist mit Rachel gekommen?«
»Ja – sie ist hinten bei Eloise und den Restauratoren und geht mit ihnen die Bücher durch.« Allie schrubbte in lockeren Kreisbewegungen über die Wand. »Ich glaub, sie hat den besseren Job.«
»Aber echt«, sagte Jo. »Hey – ich hab gehört, was in London passiert ist. Alles okay bei dir?«
»Klar. Da braucht es schon mehr als vier rasende Mucki-Macker mit Anzug, um mich fertigzumachen«, witzelte Allie.
»Genau so reden die Leute über dich.« Jo lächelte, doch gleich darauf war ihre Miene wieder ernst. Sie senkte die Stimme und fragte: »Aber Gabe war nicht dabei, oder?«
Entsetzt ließ Allie ihre Bürste fallen und sah Jo an.
»Bestimmt nicht, ehrlich! Diese Typen waren älter – vielleicht so in ihren Zwanzigern oder noch älter. Gabe war garantiert nicht dabei. Ich hab die noch nie vorher gesehen.«
»Gut.« Jo widmete sich wieder dem Schrubben und nickte beifällig, so als wäre das genau ihre Hoffnung gewesen. »Ich kann einfach den Gedanken nicht ertragen …« Ihre Stimme brach, und sie begann noch heftiger zu bürsten, mit abgewandtem Kopf, sodass Allie ihr Gesicht nicht sehen konnte.
Gedankenverloren schrubbte Allie an ihrem Teil der Wand. Sie überlegte, was sie sagen sollte. »Hast du … nach dieser Nacht je noch mal was von ihm gehört?«
Jo schüttelte heftig den Kopf.
Sie sah so traurig aus, dass es Allie fast das Herz zerriss.
Sie fragte: »Alles okay?«
Jo hörte auf zu bürsten, doch es dauerte einen Moment, ehe sie antwortete.
»Ich weiß nicht.« Sie sprach langsam. »Als ihr alle abgereist seid und wir hier nur noch ganz wenige waren und um mich herum alles abgefackelt war – das war schon übel. Ich hab mich einfach« – ihre Stimme war nun so leise, dass Allie sie kaum verstehen konnte – »verantwortlich gefühlt, weißt du? Als hätte ich das Ganze aufhalten können.«
Ehe Allie recht wusste, wie sie darauf antworten sollte, fuhr Jo auch schon fort – aber ihre Stimme hatte sich verändert. Sie sprach jetzt schneller, als würde sie etwas Auswendiggelerntes wiederholen.
»Aber Isabelle und Eloise waren total toll, und jetzt gehe ich zu dieser Therapeutin. Das hilft mir enorm. Die Leute sagen mir immer wieder, dass ich nicht der schlimmste Mensch aller Zeiten bin – trotzdem komme ich mir irgendwie … ich weiß auch nicht … na ja, eben wie der schlimmste Mensch aller Zeiten vor.«
Ihr Lachen war so brüchig wie dünnes Eis. In diesem Moment wollte Allie ihr vergeben. Schließlich war es nicht sie gewesen, die Ruth getötet hatte. Aber sie hatte auch keinen Alarm geschlagen, als sie herausfand, was Gabe getan hatte. Nicht mal, als er Allie nach dem Leben trachtete.
Und da wird’s dann schon ein bisschen komisch, dachte sie.
Doch wie Jo sie so mit ihren erwartungsvollen kristallblauen Augen anschaute … Bevor alles aus dem Ruder lief, war sie Allies beste Freundin gewesen. Und sie war ja auch kein schlechter Mensch – eigentlich. Sie war einfach nur … Wie hatte sich Rachel letzten Sommer ausgedrückt? Nicht die Allerstabilste.
Allie wägte ihre Worte sorgfältig. »Hör mal, Jo. Gabe war das, nicht du. Gabe ist der Mörder, nicht du. Gabe ist der schlimmste Mensch aller Zeiten, nicht du. Okay?«
Die Erleichterung in Jos Gesicht war Allies Lohn. Wäre sie sich bloß sicher gewesen, dass sie es auch so meinte.
»Hilfe«, stöhnte Jo. »Ich glaub, ich bin ins Koma gefallen.«
Es war sieben Uhr. Die Wände der Bibliothek waren sauber geschrubbt, und Allies Nacken und Schultern schmerzten allein schon bei dem Gedanken, einen Arm heben zu müssen. Sie saß auf der Abdeckplane neben Jo und nahm einen ordentlichen Schluck aus ihrer lauwarmen Wasserflasche.
»Tun dir auch die Arme so weh?«, fragte Allie und rieb sich die Schultern.
»Und wie.«
»Dann bist du nicht im Koma.« Vorsichtig streckte Allie ihre Beine aus. »Mein Gott, worauf hab ich mich da bloß eingelassen? Bei Rachel gibt es einen Swimmingpool und Pferde. Pferde, Jo! Wenn ich dageblieben wäre, könnte ich mich jetzt im Pool treiben lassen und weiche Pferdeschnauzen streicheln.«
»Hier.« Jo reckte ihr das Gesicht entgegen. »Meine Nase ist weich. Kannste streicheln.«
Müde streichelte Allie ihre Nase. »Wow. Das ist ja wie bei Rachel. Und wo ist der Pool?«
»Gibt’s nicht.«
»Ätzend.«
»Voll.«
»Wollt ihr hier nur am Boden liegen und rumjammern? Oder kommt ihr vielleicht mit zum Abendessen?« Allie sah auf. Vor ihnen stand Carter und sah skeptisch auf sie herab.
»Jo liegt im Koma«, klärte Allie ihn auf. »Die braucht nichts mehr zu essen.«
»Warte. Hast du essen gesagt? Ich glaub, ich bin doch wach.« Jo rappelte sich auf.
»Mein Gott«, sagte Allie. »Ein Wunder!«
»Du machst das doch erst einen Tag, Sheridan.« Carter zog sie hoch. »Du kannst unmöglich jetzt schon müde sein.«
»Alles tut weh«, sagte sie. »Schultern, Arme, Rücken.«
»Beine, Füße, Kopf«, sprang Jo ihr bei.
»Knöchel, Schienbein. Nenn mir irgendeinen Körperteil – er tut weh.«
Carter wirkte wenig beeindruckt.
»Etwas zu essen ist gut gegen den Schmerz.« Er lenkte ihre Schritte Richtung Speisesaal.
»Ein weiser Mann«, sagte Allie zu Jo.
»O ja«, erwiderte diese.
Die meisten Schüler waren noch nicht aus den Ferien zurück, weshalb nur ein paar Tische eingedeckt waren. An einem davon saß Eloise mit dem Biolehrer Jerry Cole und ein paar anderen. Am Tisch daneben saß Sylvain, allein.
Allie wurde flau im Magen. Daran hatte sie nicht gedacht: dass sie mit Carter und Sylvain an einem Tisch würde sitzen müssen.
Das wird bestimmt gruselig.
Doch Jo rettete die Situation, indem sie sich auf den Stuhl neben Sylvain fallen ließ. »Hilf mir, Sylvain«, sagte sie mitleidheischend. »Mir tut alles weh.«
»Was ist passiert?«, fragte Rachel, die gleich nach ihnen hereinkam und sich den Stuhl neben Allie nahm. »Wieso tut Jo alles weh?«
»Wir haben uns ins Koma gearbeitet«, erklärte Allie.
»Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Ich war ja immer eine Leseratte, aber warum diese Schule derart viele Bücher hat …?« Rachel stöhnte und streckte sich. »Ich meine, wie viel von diesem Wissen werden wir wirklich brauchen?«
»Können wir nicht wieder zu euch nach Hause zurück?«, fragte Allie. »Da war’s irgendwie netter.«
»Mann, ihr seid vielleicht Heulsusen«, warf Carter entnervt ein. »Ich hab hier den ganzen Tag Möbel gerückt, während ihr bloß Wände abgewaschen und ’n paar Bücher aufgehoben habt.«
»Schon gut«, sagten die Mädchen im Chor.
Wie auf ein Stichwort öffneten sich die Türen am anderen Ende des Speisesaals, und die Bediensteten trugen das Essen auf. Jeder Tisch bekam eine dampfende Schüssel mit Pasta.
»Na toll«, murmelte Carter sarkastisch. »Schon wieder Nudeln.«
»Supi.« Jos Miene hellte sich auf. »Sind das die mit Käse?«
»Wieso schon wieder?«, fragte Allie.
»Das gab’s jetzt fast jeden Tag.« Carter senkte die Stimme, weil gerade eine Servierkraft vorbeikam. »Die Köche sind zu sehr mit Reparaturarbeiten beschäftigt, um groß was anderes zu kochen.«
»Habt ihr schon das Neueste von Lisa gehört?«, wechselte Jo das Thema. Die Schüsseln mit dem Essen wurden am Tisch herumgereicht, und ein leises Stimmengewirr erfüllte den Raum.
»Was ist mit der?«, fragte Allie und bediente sich.
»Sie kommt nicht wieder zurück.«
Mit einem Knall ließ Allie den Servierlöffel fallen.
»Was?«, fragte der ganze Tisch unisono. Dann redeten alle durcheinander. »Wieso denn nicht?«, »Was ist denn passiert?«, »Alles okay mit ihr?«
Jo hob die Hand, um Ruhe zu gebieten. »Haben ihre Eltern so entschieden, nach all dem, was im letzten Trimester passiert ist.« Sie zuckte die Achseln. »Sie würde gern zurückkommen, aber ihre Alten erlauben’s nicht. Sie muss auf irgendein Internat in der Schweiz.«
Fassungsloses Schweigen.
»Na ja, so ganz verdenken kann ich’s ihnen nicht«, stellte Rachel nüchtern fest. »Bestimmt ist sie nicht die Einzige, die nicht zurückkommt.«
»Vielleicht darf sie ja nächstes Jahr wieder nach Cimmeria – schließlich ist das dann unser letztes Jahr«, warf Jo ein.
»Du meinst, wenn dieses Trimester niemand umkommt?«, fragte Rachel ironisch.
»So ungefähr«, erwiderte Jo.
Allie hob ihr Wasserglas. »Auf Lisa. Und darauf, dass niemand umkommt.«
Die anderen hoben ebenfalls ihre Gläser.
»Auf Lisa«, sagten sie im Chor.
»Und dass keiner stirbt«, sagte Jo.
Gegen Ende der Mahlzeit, als gerade niemand hinschaute, versuchte Carter, Allie mit einer Kopfbewegung Richtung Tür ein Zeichen zu geben. Etwas in seinem Blick ließ die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen.
Aber sie hatten den Speisesaal noch nicht zur Hälfte durchquert, als Isabelle sie abfing. »Ach, Allie. Gut, dass ich dich treffe. Ich hab schon nach dir gesucht. Wollen wir unser Gespräch jetzt führen?«
Allie konnte gerade noch einen frustrierten Blick mit Carter tauschen, dann eilte sie Isabelle hinterher.
Isabelles Büro befand sich gleich hinter der Haupttreppe. Die Tür fügte sich so perfekt in die polierte Eichenvertäfelung, dass sie kaum zu entdecken war, wenn man nicht wusste, dass es sie gab. Allie ließ sich in einen der beiden Ledersessel fallen, die vor Isabelles Schreibtisch standen, und Isabelle stellte den Wasserkocher in der Ecke an. Während die Rektorin Tee machte, bemerkte Allie, dass es in dem sonst recht eleganten Büro ziemlich unaufgeräumt aussah. Überall stapelten sich die Papiere, die Schubladen des Aktenschranks standen zum Teil offen, und auf einer Tasche, die geöffnet auf einem Stuhl stand, lag ein achtlos hingeworfener Strickpullover.
Allie runzelte die Stirn und fragte sich, ob mit Isabelle alles in Ordnung war, doch ehe sie wusste, was sie sagen sollte, hatte ihr die Rektorin schon einen dampfenden Becher Tee in die Hand gedrückt und sich in den Sessel neben ihr gesetzt. Aus der Nähe sah Allie die dunklen Ringe unter ihren goldbraunen Augen – Isabelle wirkte schmaler als sonst. Doch ihr Auftreten hatte immer noch die gleiche beruhigende Wirkung. Wie sie die hochgeschobene Brille vom Kopf nahm und neben sich auf den Tisch legte …
Allie rechnete damit, dass sie zunächst auf die Ereignisse neulich Nacht in London zu sprechen kommen würde – sie hatten bereits kurz am Telefon darüber gesprochen, doch bestimmt würde Isabelle ihr noch mehr zu sagen haben. Insofern traf sie Isabelles Gesprächseröffnung völlig unerwartet.
»Ja, dann erzähl doch mal. Hattest du zu Hause Gelegenheit, mit deiner Mutter über Lucinda zu reden?«, fragte Isabelle. Es klang forsch, beinahe geschäftsmäßig.
»Ja«, erwiderte Allie und sah sie neugierig an. »Und jetzt weiß ich Bescheid.«
Sie versuchte, sich voll auf Isabelle zu konzentrieren, doch ihre Gedanken schweiften ab zu jenem Tag letzte Woche, als sie sich endlich mit ihrer Mutter zusammengesetzt und eine Erklärung verlangt hatte.
Für alles.
»Isabelle sagt, es wäre an der Zeit, dass du mir von Lucinda erzählst.« Während sie redete, studierte Allie nervös das Gesicht ihrer Mutter. Sie sah traurig aus. »Und ich finde, sie hat recht. Lucinda … Das ist meine Großmutter, oder?«
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Allie, ihre Mutter würde sie anlügen – und das hätte sie ihr niemals verziehen. Doch die Schrecksekunde ging vorüber, und ihre Mutter ließ die Schultern hängen.
»Ich wusste, dass du es irgendwann herausfinden würdest«, sagte sie. »Ja, Lucinda ist meine Mutter – deine Großmutter.«
Da sie mit dieser Antwort gerechnet hatte, hätte Allie eigentlich darauf vorbereitet sein müssen. Trotzdem war ihr, als würde ihr die Luft abgeschnitten. Ihr Leben lang hatte sie gedacht, ihre Großeltern seien tot.
Dabei lebt meine Großmutter noch.
Sie lehnte sich zurück und starrte ihre Mutter an, als hätte sie sie noch nie gesehen. »Aber warum? Warum in aller Welt hast du mich angelogen? Ich hätte sie doch kennenlernen können …« Allie sprach nicht zu Ende.
»Ich weiß, dass du mir nicht glauben wirst«, sagte ihre Mutter sanft, »aber ich habe das alles nur getan, um dich zu schützen. Damit dir nichts passiert.«
»Aber du hast mich in dem Glauben gelassen, sie sei tot. Mein ganzes Leben lang.« Zutiefst gekränkt und ungläubig starrte Allie sie an. »Wie konntest du das tun?«
Ihre Mutter holte tief Luft. »Es ist … Es war furchtbar, das zu tun. Und es tut mir auch sehr leid. Aber ich wusste einfach nicht, was ich sonst hätte machen sollen. Vielleicht hätte ich dir einfach die Wahrheit erzählen sollen. Aber ich hatte Angst, dass du dann darauf bestehen würdest, sie kennenzulernen. Und das hätte alles kaputt gemacht.«
Allie war perplex. »Wieso hätte der Umstand, dass ich weiß, wer meine Großmutter ist, alles kaputt gemacht?«
»Weil sie dich dann gehabt hätte«, sagte ihre Mutter, ohne zu zögern. »Und ich hätte dich verloren.«
»Was?« Sarkasmus lag in ihrer Stimme. »Hätte sie mich entführt, oder was?«
Doch ihre Mutter ließ sich nicht beirren. »Du verstehst das nicht, Alyson. Du bist ihr nie begegnet. Lucinda ist eine mächtige und gefährliche Person. Sie kriegt immer, was sie will – so ist sie einfach. Nichts und niemand hält sie auf. Ich …« Sie hielt inne und dachte kurz nach. Dann fuhr sie mit leiser Stimme fort. »Als ich so alt war wie du, war ich ganz anders als sie. Sie ist sehr auf Kontrolle aus und hat mein Leben bis ins kleinste Detail reglementiert. Was ich anzog, wen ich kennenlernte, wo ich hinging, was ich lernte – all das hat sie entschieden. Zuerst hab ich das noch akzeptiert, aber je älter ich wurde, desto mehr hab ich dagegen rebelliert. Ich wollte nicht so sein wie sie. Ich wollte nicht reich und unglücklich sein. Ich wollte nicht ihr Leben haben. Ich wollte ich selbst sein. Meine eigenen Entscheidungen treffen.« Sie sah Allie prüfend an. »Ich denke, wenn das jemand verstehen können sollte, dann du.«
Und das tat Allie auch. Dennoch ergab das alles keinen Sinn. »Na gut. Wenn sie so drauf war, dann war es vielleicht richtig, vor ihr wegzulaufen. Aber mich anzulügen, war bestimmt nicht richtig. Ich muss meine eigenen Entscheidungen treffen. Genau wie du.«
Ein bitteres Lächeln kräuselte die Lippen ihrer Mutter. »Genau dasselbe hat Isabelle auch gesagt.«
Was Allie daran erinnerte, dass sie noch andere Fragen hatte. »Du bist doch mit Isabelle befreundet, oder? Ihr seid zusammen in Cimmeria zur Schule gegangen, oder? Das hast du mir auch alles nicht erzählt.«
Die Wangen ihrer Mutter röteten sich, doch sie hielt Allies Blick stand. »Ich hab dich im Glauben gelassen, dass ich weder Isabelle noch Cimmeria kenne. Und ich hatte meine Gründe dafür.« Sie schwieg, dann fügte sie hinzu: »Außerdem war ich sauer auf dich.«
Obwohl es ihr wehtat zu wissen, dass ihre Mutter ihr gegenüber Rachegefühle hegte, ließ Allie sich nichts anmerken. Sie musste noch mehr wissen. »Wer ist diese Lucinda?«, fragte sie. »Irgendwie hält jeder sie für ein total hohes Tier. Also wer ist sie? Die Queen? Gott?«
Das ironische Lächeln, das sie zur Antwort erhielt, gefiel ihr nicht.
»Nicht ganz«, sagte sie. »Aber fast.«
»Was soll das heißen?«
Ihre Mutter antwortete mit Bedacht. »Ihr Nachname lautet Meldrum.«
Diesmal konnte Allie nicht mehr so tun, als wäre sie nicht geschockt. »Nie. Im. Leben.«
»Lucinda Meldrum ist meine Großmutter«, sagte Allie also, und Isabelle machte eine leichte Kopfbewegung, wie um diese Information zu bestätigen.
Die Worte kamen ihr immer noch schwer über die Lippen. Wie konnte das sein? Lucinda Meldrum war die berühmteste britische Politikerin. Die erste Frau, die Finanzministerin geworden war und die nun an der Spitze der Weltbank stand. Sie beriet Präsidenten, Regierungschefs und Könige. Selbst Rachel war beeindruckt gewesen, als Allie es ihr erzählt hatte.
»Danke, dass du meiner Mutter gesagt hast, dass sie’s mir sagen soll. Ich weiß nicht, ob sie es sonst erzählt hätte, und für mich war es sehr wichtig, die Wahrheit zu kennen.«
»Es war an der Zeit, dass du’s erfährst«, erwiderte die Rektorin. »Höchste Zeit.« Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. »Aber bevor wir weiter darüber sprechen, möchte ich mich mit dir noch ein bisschen über den Vorfall in London unterhalten und dir erklären, wie es weitergeht.«
Nach außen zeigte Allie keine Reaktion, doch ihr Herz begann vor Aufregung schneller zu klopfen.
»Wie du inzwischen sicher weißt«, fuhr Isabelle fort, »hätte neulich in London jemand da sein sollen, der euer Haus beobachtet – wenn du zu Hause warst, war immer jemand da.«
Allie nickte.
»Aber der Wachposten ist kurz nach 23 Uhr gegangen, nachdem er einen panischen Anruf von seiner Frau bekommen hatte, dass sein Kind ernsthaft erkrankt sei. Er hat Raj angerufen, um ihn zu warnen – er hat sogar mit Raj gesprochen, der seine Abwesenheit auch noch persönlich abgesegnet hat.«
An dieser Stelle stockte Isabelle, und Allie spürte, wie sie an den Armen eine Gänsehaut bekam. Noch ehe die Rektorin fortfuhr, wusste Allie schon, wie es weiterging.
»Nur dass Raj diesen Anruf nie erhalten hat. Er hat überhaupt nicht mit dem Mann gesprochen. Und die Frau des Wachmanns hat ihren Mann gar nicht angerufen. Und dem Kind fehlte auch nichts.«
»Nathaniel«, hauchte Allie.
Isabelle nickte. »Der Einzelverbindungsnachweis stützt die Geschichte des Wachmanns – er hat Raj tatsächlich angerufen, und das Telefonat dauerte mehrere Minuten. Bloß, dass der Anruf umgeleitet wurde.«
Erinnerungen an jene Nacht kamen hoch – die lauten Schritte, die sie verfolgten –, und Allie hätte am liebsten irgendwo gegengehauen.
»Aber wieso?« Zornig setzte sie ihren Becher ab; der Tee schwappte gefährlich. »Wieso tut er das, Isabelle? Ich versteh das nicht. Was ist an mir so wichtig?«
Isabelle lehnte sich zurück und schloss für einige Zeit die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben.
»Nathaniels Obsession hat eine lange Vorgeschichte«, sagte sie. »Wenn ich versuchen würde, dir die zu erklären, säßen wir morgen früh noch hier. Aber zumindest so viel solltest du wissen: Er ist eigentlich nicht hinter dir her. Sondern – hinter mir.«
»Hinter dir?« Allie wurde lauter. »Das verstehe ich nicht.«
Isabelle rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Es würde wirklich zu lange dauern, dir die ganze Geschichte zu erzählen, aber ich will mal so viel sagen: Er und ich haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie es in dieser Welt zugehen sollte. Doch weil ich Lucindas Ohr habe, ist mein Einfluss größer. Nicht, dass sie das täte, was ich ihr sage, aber sie hört mir wenigstens zu.« Nachdenklich nahm sie einen Schluck Tee. »Und genau das versucht Nathaniel zu ändern.«
Mit zerfurchter Stirn saß Allie da und versuchte, die einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen. »Tut mir leid. Ich versteh’s trotzdem nicht. Um was genau geht es ihm?«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Nathaniels Besessenheit ist eine Form von Wahnsinn. Dass man das nicht versteht, ist logisch.« Isabelle lächelte traurig. »Ihm geht es nicht um Cimmeria. Das ist nur ein Sprungbrett, verstehst du? Worum es ihm geht, das ist die größere Organisation, von der Cimmeria und die Night School nur Teile sind. Lucinda steht dieser Organisation vor. Und ich bin ihre engste Beraterin.« Sie betrachtete Allie, als wollte sie sicherstellen, dass diese die Wichtigkeit ihrer Aussage begriff. »Wir sind eine mächtige Organisation … Und er will die ganze Macht.«
Allie sah sie verständnislos an. »Wie will er denn nur durch Cimmeria die ganze Organisation an sich reißen?«
»Das ist schwer zu erklären. Aber mit Cimmeria hat alles angefangen, dieses Internat ist – wenn man so will – das Herzstück der ganzen Gruppe. Der Cimmeria-Aufsichtsrat schmeißt nicht nur hier den Laden. Er schmeißt den ganzen Laden.« Sie machte eine ausholende Bewegung mit den Armen. »Nathaniels Plan ist deshalb, erst mich und dann Lucinda loszuwerden. Er glaubt, dass der Aufsichtsrat dann ihn mit der Leitung betraut. Ein absoluter Wahnsinnsplan, aber er glaubt fest daran, dass es funktionieren wird. Er versucht schon seit einiger Zeit, uns das Wasser abzugraben – es so aussehen zu lassen, als ob ich nicht mal eine Schule in den Griff kriege, geschweige denn …«
Es schnürte ihr die Kehle zu, und sie vollendete den Satz nicht.
»Na ja«, sagte sie schließlich. »Jetzt hast du so eine ungefähre Vorstellung.« Sie streckte die Hand aus und rückte einen Stapel Papier am Rand ihres Schreibtischs gerade. »Du bist ein Bauer auf seinem Spielbrett. Und ich bin der Turm, der die Dame verteidigt.«
»Lucinda«, murmelte Allie.
»Und weil das so ist, müssen wir alle aufeinander aufpassen«, sagte Isabelle, nun etwas energischer. »Wir wissen inzwischen eine ganze Menge darüber, wie Nathaniels Organisation funktioniert. Leider ist das, was wir wissen, auch ziemlich beunruhigend. Er hat sehr gute Leute, die für ihn arbeiten. Und er macht vor nichts halt.«
Allie kam ein Gedanke. Sie legte den Kopf schief.
»Aber Lucinda wird ihn doch wohl stoppen können, oder? Wenn du ihr erzählst, was passiert ist und dass ich in Gefahr bin … Sie würde doch bestimmt nicht wollen, dass mir etwas Schlimmes zustößt, und uns helfen?«
»Lucinda weiß, was vor sich geht«, erwiderte Isabelle vorsichtig. »Aber sie ist nicht bereit, sich zum jetzigen Zeitpunkt einzumischen.«
»Wie bitte?« Allie schrie nun beinahe. »Wieso nicht?«
»Ich weiß, du würdest gerne alles wissen, aber …«
Die Rektorin warf ihr einen warnenden Blick zu. »Bitte glaub mir, wenn ich dir sage, die Lage ist kompliziert. Wir müssen uns selber schützen und nicht auf Rettung von Lucinda oder sonst jemandem warten. Deshalb habe ich Raj und seine Firma angeheuert, damit sie die Schule schützen. Er weiß mehr über Nathaniel als alle anderen. Außer mir vielleicht.«
Die letzten Worte sagte sie so leise, dass Allie sie kaum hören konnte. Reglos saß sie da und starrte auf ihre Hände. In ihrem Kopf rotierte es. Wieder einmal lag ihre Sicherheit in den Händen anderer Leute. Und wieder einmal war sie machtlos.
Doch als sie aufsah, blickte Isabelle sie prüfend an, als wüsste sie genau, was Allie dachte.
»Und dir kommt dabei auch eine Aufgabe zu, Allie.« Ihre Stimme klang jetzt sanfter. »An diesem Abend in London, da hast du in einer Drucksituation enorme Nervenstärke bewiesen. Du warst flink und erfinderisch und hast meine Anweisungen genauestens befolgt – und das in einer Situation, in der die wenigsten Leute dazu in der Lage gewesen wären. Aus diesem Grund, und weil deine Noten im Lauf des Sommertrimesters deutlich besser geworden sind, habe ich dich im Rahmen eines beschleunigten Ausbildungsverfahrens zur Aufnahme in die Night School empfohlen.«
Allie war so aufgeregt, dass sie zu atmen vergaß.
»Ich … ich …«, stammelte sie.
Isabelle fuhr nahtlos fort. »Der Schwerpunkt der Ausbildung wird im kommenden Trimester auf dem Thema Selbstverteidigung liegen, und du wirst dabei eng mit Leuten zusammenarbeiten, die hervorragende Fähigkeiten auf diesem Gebiet haben.« Sie griff nach Allies Hand. Die Intensität ihres Blicks war beinahe beängstigend. »Was dir in London passiert ist, darf nie wieder passieren.«