New York hält den weltweiten Rekord im Energieverbrauch und ist zugleich einer der wichtigsten Müllproduzenten der Erde. Es verfügt über die größte Dichte an verlegten Kabeln plus Mobilfunkantennen und hat den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Schlaftabletten. Therapeuten lieben «the city that never sleeps». Eine Rekordzahl von Analytikern kümmert sich um Klienten. Die Stadt muss also auch die weltweit größte Ansammlung von Neurotikern sein – oder solchen, die sich dafür halten. Mit New York ist gewöhnlich Manhattan gemeint, also der Wald von Wolkenkratzern auf der zentralen Landzunge zwischen Hudson und East River. Von der Südspitze bis zum Central Park sind es zehn Kilometer. Breite: ungefähr drei Kilometer. Das ist es schon, was mit New York gemeint ist. Besucher aus europäischen Großstädten sind oft enttäuscht, weil die Stadt in Filmen, Fernsehserien und auf Bildern eindrucksvoller rüberkommt als live. Berlinern erscheint Manhattan wie eine geblähte Variante von Kreuzberg plus Mitte. Später eingemeindete Stadtteile wie Queens oder die befriedete Bronx sind tatsächlich nicht interessanter als Chemnitz oder Remscheid. Allenfalls Brooklyn ist der Erwähnung wert. Dorthin führt eine Brücke, von deren Ende man die Skyline ablichten kann. Überdies ist Brooklyn zum Zufluchtsort aller geworden, die glaubten, sie würden in New York als Künstler entdeckt. Und all jener, die sich Kinder leisten. Denn die Stadt ist teuer. Sehr teuer. Für Besucher ebenso wie für die Bewohner.
Was man auslassen kann
Nach New York fährt man, um anderen zu erzählen, dass man dort war. Vielleicht noch, um zu checken, ob es wirklich so aussieht wie in den Filmen, also wie bei Woody Allen oder in Sex and the City. Ja, sieht einigermaßen so aus. Beweisfotos machen. Und das war’s auch schon. Was nun bis zum Abflug? Herumwandern? Bisschen shoppen bei den berühmten Adressen, wo man schlechte Qualität zu Höchstpreisen ergattern kann? Ins Museum? Ein Käffchen trinken für fünf Dollar? Oder einfach hin und her gehen? Immerhin ist die Stadt übersichtlich gegliedert: Downtown heißt das südliche Drittel. Darüber folgt Midtown. Links und rechts des Central Parks befindet man sich in Uptown. Schluss. Nördlich des Parks, schon nicht mehr richtig Manhattan, liegt das veredelte Harlem. Die U-Bahn fährt unablässig rauf und runter. Busse gibt’s auch. Wer viel Zeit rumkriegen muss, geht einfach zu Fuß. Hier sind die meistgehypten Ziele.
Downtown. Manhattan hat ein Straßengitter mit Nummerierung für Dummies («Ich kann zählen»). Lediglich auf der Südspitze, dem Ursprung, geht es unnummeriert und krautig zu. Hier gibt es sogar noch ein paar krumme Straßen. Und hier liegt der Financial District, in dem die Leute sich am meisten anstrengen, Selbstbewusstsein vorzutäuschen. Vor allem in der Wall Street. Wer dort die Bronzeskulptur eines Bullen berührt, wird reich oder, wie indianische Heiler behaupten, bekommt Krebs. Einfach ausprobieren. Ganz nah: Ground Zero, auch World Trade Center Site genannt. Fünf neue Kratzer sollen aus der Baustelle wachsen. Vorerst gibt es nur ein provisorisches 9/11-Museum, das niemand sehen will, und fliegende Händler, die Brand-, Rauch- und Einsturzfotos anbieten. Östlich der ehemals berüchtigten Straße namens Bowery liegt die Lower East Side. Hier finden sich Reste jener Zeiten, in denen Manhattan noch nicht das Zentrum der Reichen war. Gute Fotos sind möglich von Feuerleitern und hundertjährigen Klimaanlagen. China Town nebenan bleibt ein matter Abglanz der gleichnamigen Variante in San Francisco, und wiederum zwei Straßen weiter verdämmert Little Italy, das zum letzten Mal populär war, als Der Pate in den Kinos lief. Muss vor vierzig Jahren gewesen sein. Touristen mit Reiseführern in der Hand wandern herum und äußern «Aha», «Ach so» und «Das war das». Genau. Auch das benachbarte Quartier namens SoHo (South of Houston Street) ist längst kein Künstlerviertel mehr. Geblieben sind einige einschläfernde Galerien. Nun nur noch Greenwich Village, ein ehemals szeniges, jetzt vor allem teures Viertel mit ansehnlichen Häusern und elf Bäumen. Und das war Downtown. Super!
Midtown. Nördlich der 14. Straße beginnt Midtown. Das sind zwölf Quadratkilometer extrem wichtiger Konzernzentralen plus teure Läden und Musikantenstadl. Broadway und Times Square dienen nur dem Foto zum Wegbeamen: Seht ihr, ich bin da! Außer großflächiger Reklame ist da nicht viel zu erleben. Abends gibt es sogenanntes Entertainment. Doch, ja. Wer schwungvolle Musik mag, wie sie auch in Altenheimen gern gehört wird, ist hier richtig. Muss man sich das Rockefeller Center ansehen? Einen Komplex von zwanzig Hochhäusern? Bestimmt nicht. In der Mitte gibt es einen Springbrunnen, aber hallo, im Winter eine Schlittschuhbahn. Wer sich auf die Aussichtsplattform im 70. Stock des General Electric Building liften lässt, kann behaupten, die Aussicht sei toller als vom Empire State Building. Schwer überprüfbar, macht aber einen fachkundigen Eindruck. Empire State muss nur sein, wenn man erzählen will, man sei King-Kong-mäßig oben gewesen. Durchschnittlich zehntausend Leute pro Tag wollen hoch und runtergucken.
Architekturfreunde bevorzugen das Chrysler Building. Superman soll mal um die Spitze geflogen sein. Kommt auch eher selten vor. Im Trump Tower vergreist ganz oben der Typ, der sich immer scheiden lässt. Und im UN-Gebäude am East River wird alle zwei Monate der Frieden durchgesetzt. Wer schon immer nichts von Kunst verstehen wollte, begibt sich ins Museum of Modern Art. Selbst wer klug reingeht, kommt doof wieder raus. Nun noch ein paar Fotos, gut postiert unter den Straßenschildern von Fifth Avenue, Madison Avenue und Park Avenue. Und das war’s.
Uptown. Eigentlich sind Downtown und Midtown schon das, was man unter New York versteht. Fehlt allenfalls noch der Central Park, ehemals von Vergewaltigern bevorzugt, jetzt auch für Läufer, Kutschen, Zoobesucher, Bootsfahrer und Basketballer geöffnet. Ein Stadtpark eben. Am östlichen Rand das Metropolitan Museum. Drinnen viel Kunst, von Erben statt Steuer gespendet – oft unter der Bedingung, dass die Sammlung zusammenblieb. Man wandert also weniger durch die Epochen als vielmehr von Hobbyraum zu Hobbyraum. Hier ein Impressionist neben einer Indianermaske, drei Räume weiter einer neben javanesischen Schattenfiguren. Optimal für Leute, die gern suchen. Vom Guggenheim Museum dreihundert Meter weiter bleibt überhaupt nur der Bau in Erinnerung. Unter einer Glaskuppel führt eine spiralförmige Rampe nach oben. Schöner Blick in die weite Rotunde. Stört kaum, dass an der Wand und in Nebenräumen Bilder hängen. Weiter nach Norden folgt Harlem, wo bis vor vierzig Jahren schwarze Musik gemacht wurde. Jetzt hat Bill Clinton da sein Büro für Praktikantinnen.
So wird man lästige Mitreisende los
Leute loszuwerden ist gar nicht so einfach. Manhattan ist zu übersichtlich. Und obwohl die Bewohner durchblicken lassen, dass sie keine weiteren Touristen benötigen, sind sie verblüffend hilfsbereit. Man kann nicht sagen: «Onkel Patrick, jetzt pass mal auf, wir treffen uns um eins da, wo im Dezember immer der größte Weihnachtsbaum der Welt steht, ich weiß im Augenblick nicht mehr genau, wie das heißt, frag dich einfach durch», und dann hoffen, dass er nie hinfindet. Er wird pünktlich da sein, geführt von einem riesigen Schwarzen, um den er zu Hause einen großen Bogen gemacht hätte. Wir brauchen größere Irrwege.
Die Freiheitsstatue. Wir sagen: «Die Freiheitsstatue musst du von nahem gesehen haben! Egal, wie man dazu steht – sie ist das Symbol des amerikanischen Traums!» Wir können nicht mitkommen, denn wir werden so leicht seekrank. Und zur Statue kommt man nur mit der Fähre. Die legt von der Südspitze ab. «Bis später im Hotel!» Den Tag haben wir frei. Die Wartezeit auf die Fähre beträgt zwei bis drei Stunden. In dieser Zeit besteht für unseren Onkel Gelegenheit zu Gesprächen mit den Souvenirhändlern, die die Schlange abgrasen. Nach der Überfahrt hängt er auf der sturzlangweiligen Insel herum. Auch dort warten Schlangen von Leuten, die alle wieder wegwollen. Die Statue hat von nahem allenfalls schattenspendende Wirkung. Wenn der Onkel sich mobil beschwert, raten wir ihm zur Staten Island Ferry, einer Pendlerfähre, von deren Reling er einen exzellenten Blick auf Skyline und Miss Liberty hat. «Das machen alle.» Leider braucht die Fähre recht lange bis nach Staten Island und fährt auch keineswegs gleich zurück. Mit etwas Glück sehen wir den Onkel übermorgen zum Frühstück.
Kaufhäuser. Die redselige Frau Ebermann hat sich an uns gehängt? Oder die schon ziemlich lange alleinstehende Susanne? «Ihr zwei müsst einfach in die berühmten Kaufhäuser. Ihr habt beide einen sicheren Geschmack. Euch ist es zuzutrauen, ihr findet die Schnäppchen! Wir sind schon gespannt!» Die berühmten Kaufhäuser heißen Macy’s, Bloomingdale’s und Saks Fifth Avenue. «Die liegen alle nicht weit auseinander und machen zufällig jetzt gerade Sale!» Ein bisschen wandern müssen unsere beiden dahin schon. Es wird sie hoffentlich nicht stören, dass sie in den vollgemüllten Stockwerken ausschließlich auf Touristen treffen. Die meisten schleppen sich entnervt ins Restaurant auf dem Dach. Denn die große Zeit der Kaufhäuser ging auch in New York schon in den Achtzigern zu Ende. Seither ist immer Sale. Für den permanenten Ausverkauf wird extra Ramsch produziert mit Schildern, die total enorme Riesenrabatte versprechen. Lediglich bei Möbeln und Teppichen, meinen Kenner, kann man noch echte Schnäppchen machen. Moment mal! Ja, warum nicht? Klingt optimal für unsere Reisenden!
All Loop Tour. Für unsere neugierigen Lästigen haben wir eine düstere Botschaft: Wir planen für den anbrechenden Tag einen zehnstündigen Fußmarsch. «Wir möchten mal versuchen, die ganze Halbinsel zu umrunden.» Unsere Lieblinge stöhnen auf und erklären, warum sie uns das nicht zutrauen. Sie brauchen ja nicht mitzukommen. Mitfühlend setzen wir sie in einen Sightseeing-Bus der Gray Line. Die haben einen Uptown Loop im Programm und einen Downtown Loop. Wir raten unseren Freunden aber dringend zur All Loop Tour, damit sie auch mal nach Brooklyn kommen. «Ihr könnt überall aussteigen, wo es euch gefällt, und jederzeit dort oder woanders wieder zusteigen! Vielleicht seht ihr uns ja am Ufer entlanghumpeln!» Unwahrscheinlich. Denn wir setzen uns in ein Gartenrestaurant im Central Park. Weil wir einfach mal einen Tag ausspannen wollen. «Ihr hattet recht», erzählen wir am nächsten Tag unseren gestauchten Busfahrern. «Wir mussten früh aufgeben.»
Typisch New York
Sozialneid. Seit unter Obama die Gelddruckmaschine angeworfen wurde, ist der Dollar abwärtsgetrudelt und der Umtauschkurs günstig. Trotzdem ist New York überraschend teuer. Hier muss man Geld haben oder wegziehen. Der dreißig Jahre alte Science-Fiction-Klassiker Die Klapperschlange prophezeite Manhattan eine Zukunft als düsteres, eingezäuntes Gangsterghetto. Anfang der achtziger Jahre schien die Entwicklung in so eine Richtung zu laufen. Doch in den Neunzigern wurden rigorose Anti-Kriminalitätsprogramme aufgelegt, die zum Gegenteil geführt haben. Manhattan ist eine saubere Stadt geworden. Eine Stadt, in der sich Reiche wohlfühlen. Womit verdienen diese Leute eigentlich so viel Geld, dass sie ganze Stockwerke in feinen Häusern besitzen? Unten steht ein Wachmann und winkt bei Bedarf die Limo herbei, die extrem gedehnte mit den undurchsichtigen Fenstern. Robert De Niro zog in den Achtzigern ins Absturzviertel Tribeca (etwas nördlich von Ground Zero). Seither haben sich die Immobilienpreise dort verzehnfacht, und die Noblen sind unter sich. Mit ein paar Abstrichen gilt das für ganz Manhattan. Die Gegend rund um den South Street Seaport, ehemals verrufen, ist ein Sahnestück geworden, in dem Großmütter mit offenen Handtaschen spazieren gehen können. Die Gangster müssen irgendwo anders rumhängen. Auch die Kreativen sind ausgewandert. Musiker, Maler, Freaks, von denen Manhattan früher voll war, können sich nur noch Besuche leisten. Grollen sie? In Maßen. Sozialneid ist nichts Amerikanisches. Aber wer aus dem alten Europa kommt, kann diese energetisierende Regung bei sich aufkeimen spüren.
Hubschrauberflug. Wo Touristen sind, gibt es Nepp. Wer mit Kindern auf einen Spielplatz im Central Park gerät, kann gar nicht so schnell nachzahlen, wie die Kleinen kostenpflichtige Karussells, mehrstöckige Rutschen, Eisbuden und Abenteuerkrimskrams plus Fun-Foto ausprobieren. Ein bleibend erfolgreicher Nepp sind die Helicopter Flights. Sie starten Downtown direkt am Hudson. Wartezeit zwei bis drei Stunden, wenn man nicht gebucht hat. Geht aber übers Internet: Zeitfenster reservieren, Antwort abwarten, Kreditkarte ist schon mal belastet mit siebzig Euro pro Person, wunderbar, dann nochmal anrufen und Flug bestätigen. Security Checks wie am Flughafen, keine Taschen an Bord. Für einen professionellen Fotografen lächeln. Und an Bord des betagten Helis die Fensterplätze links erobern. Wollen alle. Flugdauer ungefähr zehn Minuten. Keine eigenen Kameras bitte. Der Pilot leiert seine Infozeilen herunter. Und so sieht Manhattan von oben aus. Aha, tatsächlich so wie im Web. Eine Runde. Und Landung. Das Foto «Porträt mit Hubschrauber» ist inzwischen fertig, kostet nur dreißig Dollar. Als Datei fünfzig. Google Earth ist natürlich billiger und sicherer, klar. Aber da fehlt der Thrill, der hier mitfliegt. Bei dem ungeregelten Kleinflugverkehr überm Hudson geschieht es ja immer wieder, zum letzten Mal 2009, dass ein Heli mit einem Privatflugzeug zusammenstößt. So ein Kitzel fehlt bei Google Earth. Und für Kitzel muss man zahlen.
Unverdauliche Landesspezialitäten
Es gibt keine unverdaulichen Speisen in New York. Alles ist verdaulich. Sogar dermaßen leicht verdaulich, dass es überhaupt nicht verdaut zu werden braucht. Es bleibt einfach liegen in den unendlichen Schlingen der Eingeweide. Pancakes, Donuts, Bagles, Muffins, Pizza, Hot Dogs, Finger Food, Sandwiches, Wraps, Burger. Das klumpt einfach zusammen. Wer sich nur eine Woche in New York aufhält, kann getrost ein Zimmer ohne Klo buchen, es sei denn, er muss kotzen. Wer mal pinkeln muss, begibt sich in den Apple Store in der Prince Street in SoHo. Da kann auch gleich kostenlos Wasser nachgefüllt werden. Alle Reisenden schrauben ihre Ansprüche an Verpflegung in New York radikal herunter. Sie schlagen sich mit trübsinnigen Happy Hours und pampigen Buffets durch. Sie gehen, weil es der Führer empfiehlt, zu Katz’s Delicatessen, wo Harry und Sally flirteten, und begreifen allerspätestens hier, dass Delikatessen oder Deli überhaupt nichts mit delikat oder auch nur wohlschmeckend zu tun haben. Im Gegenteil. Wer gut essen will, nur ein einziges Mal, muss sehr viel Geld ausgeben und sehr viel Zeit mitbringen. Feinschmecker freuen sich auf zu Hause.
Das reicht für das Expertengespräch
Der Autor Max Frisch lebte Anfang der achtziger Jahre in New York und äußerte: «Ich hasse es, ich liebe es, ich hasse es, ich liebe es.» Diese Äußerung macht sich auch heute noch gut im Gespräch und lässt Sensibilität ahnen, wenngleich sie nicht mehr ganz zutrifft. Ständig hin und her gerissen ist man in Manhattan nicht mehr. Die Spannungen sind viel geringer geworden, die Amplitude ist flacher. Das hängt mit dem Thema zusammen, das zum Stirnrunzeln und besorgten Abwägen bestens geeignet ist: Gentrifizierung. Nein, wir kommen gerade aus New York, also: Gentrification. «Ein sehr bedenklicher Prozess!», reicht als Anschubformel für eine lebhafte Diskussion. Die Aufwertung ehemals brüchiger Gebiete ist problematisch. Nein: hochproblematisch! Wir können beitragen: «Die einkommensschwächeren Schichten werden verdrängt, ist ja auch in unseren Städten im Gange; wohin das führt, kann man in New York sehen.» Hoffentlich müssen wir nicht ins Detail gehen. Aber normalerweise befinden sich Leute in der Runde, die New York noch aus der aufregenden Zeit kennen, aus der Frisch-Epoche, als es in Downtown und in der Upper West Side noch jede Menge schäbige Viertel gab. Das war die knisternde Zeit. Auch die Zeit des Drogenhandels und der Beschaffungskriminalität. Die Mordrate ist jetzt auf einen beschämenden Tiefpunkt gesunken, wie es ihn zuletzt Anfang der biederen sechziger Jahre gab: nur sechs Morde pro hunderttausend Einwohner. Das ist weniger als auf den idyllischen Seychellen. «Kann da noch Kunst gedeihen?», fragen wir in die Runde. «Ist das noch ein kreatives Umfeld? Lohnt sich da überhaupt noch die Reise?»
Das meinen Kenner
«New York ist nie hinausgekommen über ein Konglomerat von Kleinstädten.»
– Alistair Cooke, Autor
«Ich liebe das alte Jork an der Elbe mit seinen Obstbäumen und Fachwerkhäusern.»
– Elisabeth Flickenschildt, Schauspielerin
«Fuck me, fuck you, fuck this whole city and everyone in it.»
– Spike Lee, Regisseur
San Francisco lebt von einem einzigen Hit», beklagte die Sängerin Courtney Love. Ihr Hit ist es nicht. Die Hippie-Hymne «San Francisco (be sure to wear some flowers in your hair)» wurde gerade komponiert, als Courtney geboren wurde. Seither ist es nicht nur der meistgespielte Song über eine Stadt, sondern laut Bürgermeister Gavin Newsom auch «die dauerhafteste kostenlose Werbung, die es je für eine Stadt gegeben hat». Und falsch ist diese Werbung obendrein.
Das relaxte Laid-Back-Gefühl, das die foggy city vor vierzig Jahren auszeichnete, hat sich längst verflüchtigt. Die Stadt liegt immer noch hübsch auf Hügeln überm kalten Pazifik, und der Nebel deckt die Slums an den meisten Tagen wohltuend zu. Doch die einst massenhaft eingewanderten Hippies und Beatniks und hoffnungsvollen Musiker und spirituellen Optimisten sind, wenn nicht gestorben, so doch krank und alt geworden. Arm waren sie natürlich von Anfang an, nur fiel das zu Beginn nicht so auf.
Jetzt wankt eine Menge ranziger Greise und Lumpenfrauen durch die Stadt, speziell in den abgehalfterten Vierteln nahe dem ehemals coolen Bezirk Haight Ashbury. Obdachlose, Dreck und Drogenkriminalität gehören hier schon länger zu den auffallendsten Erscheinungen, der Geruch von Urin und Fäkalien zu den häufigsten Aromen – obgleich immer ein kühler Wind weht. Natürlich wird immer noch Marihuana geraucht, doch den Top-Platz nimmt San Francisco bei den Alkoholikern ein. Das muss den Besucher nicht stören, nein, überhaupt nicht, ist aber so auffallend, dass es doch stört. Bereits bei Kurztrips. Und die genügen, wenn sie überhaupt sein müssen.
Was muss man besonders meiden? Natürlich die berühmten Straßen. Auf jeden Fall zwei: diejenige über die Golden Gate Bridge und die Lombard Street. Lombard ist die krummste Straße und die meistgefilmte. Hier will jeder mal am Steuer gesessen haben. Deshalb winden sich zu jeder Tageszeit Schlangen von Leihwagen im Stop and go durch die steilen Serpentinen. Wenn es zu Unfällen kommt – was verblüffend häufig der Fall ist, weil wieder jemand versuchte, eine Filmszene nachzuahmen –, dann ist für einen Tag Schluss. Solche Tage (immerhin 127 im vergangenen Jahr) sind die schönsten im Leben der Anwohner.
Ebenso gestockt voll ist es beim Ferry Building und am Fisherman’s Wharf. Früher als alle anderen Hafenstädte begann San Francisco mit der Veredelung seiner trübsinnigen Wasserseiten. Seither wird an den Kais über Lautsprecher und von Straßenmusikern am laufenden Band «Sitting on the dock of the bay» intoniert. Und seither wird aus Chile importierter Fisch aufgetaut und als fangfrisch an die Touristen verbraten. Für diesen Nepp muss man sich auch noch anstellen, denn alle Busse kommen gleichzeitig und werden sofort durch nachrückende ersetzt, allerdings nur zwischen sieben Uhr morgens und zehn Uhr abends. Mitbringsel: Golden Gate auf Sammeltellern, T-Shirts und chinesische Armbanduhren sowie I-was-a-prisoner-of-Alcatraz-T-Shirts.
Alcatraz ist die ehemalige Gefängnisinsel in Sichtweite. Sie kann per Boot erreicht und besichtigt werden. Man sieht Zellen und die Fotos von Insassen und, am wichtigsten, kann sich hinter Gitterstäben fotografieren lassen. Eine weitere beliebte Folter ist Chinatown. «Eine richtige Reise muss quälend sein», schrieb der ortsansässige Autor Gary Snyder. Und da ist Chinatown mit seinen stinkenden Fischsuppen und vergammelnden Austern die erste Wahl. Dass ein Film von Roman Polanski den Bezirk im Titel führte, hat den Umsatz der Salmonellen-Take-outs enorm gesteigert, bis heute, obgleich nur eine einzige Szene des Films hier gedreht werden musste.
Wer einen Leihwagen hat, kurvt gewöhnlich noch die Küstenstraße (Pacific Coast Highway) entlang nach Norden, bis allen Mitfahrern schlecht ist. Bald wird klar, dass die Parkenden an den Aussichtspunkten nicht fotografieren, sondern kotzen. Die Möwen mögen das. Es gibt noch ein Getty-Museum, das man in Kauf nimmt nach dem Motto: «Wenn wir schon mal hier sind». Und eingemeindete Städtchen der Bay Area wie das slummige Oakland und das von Ökogreisen besiedelte Berkeley.
Als ruhigster Platz gilt der Golden Gate Park. Hier gibt es ein japanisches Teehaus und eine holländische Windmühle. Hier meditieren die Bewohner von San Francisco und sehnen sich nach anderen Orten.
Niemand kommt wegen Los Angeles nach Los Angeles», deklamierte der Saufpoet Charles Bukowski. «Ich bin wegen der Pferderennen gekommen.» Das ist ein überzeugender Grund. Andere Reisende kommen wegen Disneyland. Das ist natürlich auch ein toller Grund, besonders für Leute, die gern Schlange stehen und nach einer Stunde den Punkt erreichen wollen: «Von hier aus nur noch zwei Stunden Wartezeit.» Wenn sie dann ganz nah am realen Einstieg sind, beinahe schon im befahrbaren Wasserfall oder im Space Shuttle, dann hat sich gewöhnlich ein technischer Fehler eingeschlichen, und es werden Gutscheine ausgegeben zum Wiederkommen an einem anderen Tag.
Das ist schon mal nicht schlecht. Noch besser aber, wenn man schon in Los Angeles ist (für absolut coole Insider-Kenner: L. A.), ist Hollywood. Hollywood soll mal was mit Filmgeschäft zu tun gehabt haben, und zwar noch bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Damals soll es nicht nur Kinos in diesem Stadtteil gegeben haben, die gibt es auch jetzt noch, sondern auch Filmstudios. Ein oder zwei davon haben als Museen überlebt.
Aber Filme werden in Hollywood schon lange nicht mehr gedreht, noch nicht mal produziert. Die Produktionsgesellschaften sind international und kratzen für jedes Projekt neue Geldgeber zusammen, die in London, New York, Bombay, Shanghai oder Acapulco sitzen. Aber bestimmt nicht in Hollywood. Kulissen sind ebenfalls überflüssig geworden. Statt großer Hallen sind nur noch große Speicherplätze auf den Computern nötig. Und was noch real gedreht werden muss, kann überall auf der Welt gedreht werden, und das wird es auch, nur eben nicht in Hollywood.
Dennoch schreibt die Yellow Press in Mitteleuropa beharrlich von Hollywood-Stars und Hollywood-Skandalen. Man weiß genau, was gemeint ist, bis man den Ort selbst zu sehen bekommt. Dann wird klar: Hier ist kein Star. Hier spielt sich auch kein Skandal ab, außer dass mal ein Betrunkener gegen einen Laternenpfahl rennt.
Die Hauptstraße des Bezirks, der Hollywood Boulevard, beginnt in verwarzten Randbezirken jenseits des Freeway und verliert sich sieben Kilometer später in hügeligen Wohngegenden, immer parallel zum noch trübsinnigeren Sunset Boulevard. Ziemlich genau in der Mitte, bei der U-Bahn-Station Hollywood/Vine, erstreckt sich in beide Richtungen und auf beiden Straßenseiten, mittlerweile sogar in zwei Querstraßen, der letzte berühmte Rest der Filmstadt Hollywood: der Walk of Fame.
Hier besitzen längst vergessene oder nie bekannte Schauspieler, Sänger, Fernsehansager und Radiosprecher einen metallenen Stern mit Namen in den Bodenplatten. Ein Faltblatt erklärt alphabetisch und mit Karte, wo welcher Stern glänzt, wo etwa Humphrey Bogart oder Katharine Hepburn zu finden sind. Nicht real natürlich, nur als eingelassener Stern.
Eigentlich ist kein Missverständnis möglich. Aber es kommt immer wieder vor, dass unkundige Besucher, in der Regel aus Mexiko, bei Nacht versuchen, die Granitplatten anzuheben, um die darunter befindlichen Gräber auszurauben. Das ist technisch und muskulär eine bewundernswerte Leistung, nur befinden sich eben keine Gräber darunter. Gleichwohl sind bei diesen archäologischen Bemühungen erstaunlich viele Knochen geborgen worden. Wenn es noch Detektive gäbe in Hollywood, käme man hier womöglich düsteren Rätseln auf die Spur. Aber es gibt sie nicht mehr, die Detektive, und auch nicht die Rätsel. Es gibt eigentlich gar nichts hier außer ein paar Fressbuden und den Weg zum Flughafen.