»Hört sich an, als hätte jemand eine Party. Ist es ein Junge oder ein Mädchen, Herr Kameramann?«

»Ein Junge. Ja, und jetzt kommen andere Leute heraus, als hätten sie sich versteckt. Sie rufen etwas, sie rufen >Happy Birthday!<.«

»Das ist großartig, Web, ein kleiner Junge feiert eine Geburtstagsparty. Wie sieht er aus?«

»Er hat dunkles Haar. Er bläst all die Kerzen auf dem Kuchen aus. Jeder singt Happy Birthday.«

»Hört dieser Junge auch einen Daddy singen? Wie sieht's mit Daddy aus, Herr Kameramann?«

»Ich sehe ihn. Ich sehe ihn.« Webs Gesicht wurde rot, und sein Atem beschleunigte sich. Claire beobachtete seine körperlichen Signale ganz genau. Sie würde Web keinem körperlichen oder psychischen Risiko aussetzen. So weit würde sie nicht gehen.

»Wie sieht er aus?«

»Er ist groß, sehr groß. Größer als alle anderen dort. Ein Riese.«

»Und was passiert zwischen dem Jungen und seinem riesigen Daddy, Herr Kameramann?«

»Der Junge rennt zu ihm. Und der Mann nimmt ihn hoch auf seine Schultern, als würde er überhaupt nichts wiegen.«

»Oh, also ein starker Daddy.«

»Er küsst den Jungen, sie tanzen im Zimmer umher und singen irgendein Lied.«

»Hören Sie genau zu, Herr Kameramann, stellen Sie die Lautstärke am Mikrofon lauter. Können Sie irgendetwas verstehen?«

Zunächst schüttelte Web den Kopf, dann nickte er. »Eyes, shining eyes.«

Claire durchforstete ihre Erinnerungen, und dann fiel es ihr ein: Harry Sullivan, der Ire. »Irish eyes. Irish eyes are smiling?«

»Genau! Aber nein, er hat seinen eigenen Text zu dem Lied erfunden, und er ist witzig, alle lachen. Und jetzt gibt der Mann dem Jungen etwas.«

»Ein Geschenk? Ist es ein Geburtstagsgeschenk?«

Webs Gesicht verzerrte sich, und er beugte sich vor. Claire schaute besorgt drein und beugte sich ebenfalls nach vorn. »Entspannen Sie sich, Herr Kameramann. Es ist nur ein Film, den Sie da sehen, mehr nicht. Nur ein Film. Was sehen Sie?«

»Ich sehe Männer. Männer sind ins Haus gekommen.«

»Was für Männer, wie sehen sie aus?«

»Sie sind in braun, sie sind braun angezogen und tragen Cowboyhüte. Sie haben Pistolen.«

Claires Herz setzte einen Schlag lang aus. Sollte sie abbrechen? Sie betrachtete Web genau. Er schien sich zu beruhigen. »Was tun die Männer jetzt, Herr Kameramann? Was wollen sie?«

»Sie nehmen ihn mit, sie nehmen den Mann mit. Er ruft. Er schreit, alle schreien. Die Cowboys legen glänzende Dinger um die Hände des Mannes. Die Mutter schreit, sie hat sich den kleinen Jungen gegriffen.«

Web schützte seine Ohren mit den Händen und schaukelte so stark vor und zurück, dass er fast den Sessel umwarf. »Sie rufen, sie rufen. Der kleine Junge ruft >Daddy, Daddy!« Web schrie jetzt auch.

Ach du Scheiße, dachte Claire. Glänzende Dinger um seine Hände. Die Polizei war genau an Webs sechstem Geburtstag erschienen, um Harry Sullivan festzunehmen. Gütiger Gott!

Claire sah zurück zu Web. »Okay, Herr Kameramann«, sagte sie mit ihrem weichsten, tröstendsten Tonfall. »Entspannen Sie sich einfach, wir gehen woanders hin. Nehmen Sie Ihre Kamera und stellen Sie sie erst mal ab, bis wir wissen, wohin wir gehen wollen. Okay, Ihre Kamera wird jetzt dunkel, entspannter Herr

Kameramann. Sie sehen nichts. Sie sind entspannt und sehen überhaupt nichts. Alle sind fort. Niemand schreit mehr. Alles vorbei. Alles ist dunkel.«

Web beruhigte sich langsam, nahm die Hände herunter und lehnte sich wieder zurück. Claire setzte sich ebenfalls zurück und versuchte, sich zu entspannen. Sie hatte bereits einige intensive Hypnosesitzungen durchgemacht und überraschende Dinge aus der Vergangenheit der Patienten zu Tage gefördert aber jede Sitzung war neu und immer wieder aufwühlend. Sollte sie fortfahren? Einen Moment war sie unschlüssig, aber dann gab sie sich einen Ruck. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie Web nie wieder in Hypnose würde versetzen können.

»Okay, Herr Kameramann, wir machen weiter.« Sie warf einen Blick auf die Notizen, die sie aus einer Akte unter einem der Sofakissen gezogen hatte. Sie hatte gewartet, bis Web unter Hypnose stand, bevor sie sie hervorholte. Aufgrund der vorangegangenen Sitzungen wusste sie, dass der Gebrauch von Akten ihn verunsicherte. Das war nichts Ungewöhnliches, denn wer wollte schon sein Leben auf Papier festgehalten sehen, damit jeder es genau überprüfen konnte? Und sie erinnerte sich, wie sie sich gefühlt hatte, als John Winters die gleiche Taktik bei ihr angewandt hatte.

Auf die Blätter waren Daten gekritzelt, die sie Webs Akte und den vorangegangenen Gesprächen entnommen hatte. »Wir gehen jetzt weiter zu...« Sie zögerte. Konnte er damit fertig werden? Konnte sie damit fertig werden? Sie fasste einen Entschluss und nannte Web das Datum, mit dem sie weitermachen würden. Es war der Tag, an dem sein Stiefvater gestorben war. »Was sehen Sie, Herr Kameramann?«

»Nichts.«

»Nichts?« Claire erinnerte sich. »Schalten Sie die Kamera wieder ein. Also, was sehen Sie jetzt?«

»Noch immer nichts. Es ist dunkel, vollkommen dunkel.«

Das ist seltsam, dachte Claire. »Ist es Nacht? Schalten Sie die Lampen an Ihrer Videokamera ein, Herr Kameramann.«

»Nein, da sind keine Lampen. Ich möchte kein Licht.«

Claire lehnte sich vor, da Web jetzt von sich selbst sprach. Das war schwierig. Es rückte den Patienten genau in den Mittelpunkt seiner eigenen fehlenden Bewusstheit. Dennoch entschied sie sich, weiterzumachen.

»Warum will der Kameramann denn kein Licht?«

»Weil ich Angst habe.«

»Warum hat der kleine Junge Angst?« Sie musste die Objektivität wahren, auch wenn Web auf dem Weg ins Subjektive war. Claire wusste, das konnte ein langer Weg werden.

»Weil er hier draußen ist.«

»Wer? Raymond Stockton?«

»Raymond Stockton«, wiederholte Web.

»Wo ist die Mutter des kleinen Jungen?«

Webs Brust begann sich wieder zu heben. Er ergriff die Lehnen des Sessels so fest, dass seine Finger zitterten.

»Wo ist deine Mutter?«

Webs Stimme war hoch wie die eines Jungen, der noch lange nicht in der Pubertät ist. »Weg. Nein, sie ist wieder da. Sie streiten sich. Sie streiten sich immer.«

»Deine Mutter und dein Stiefvater streiten sich?«

»Immer. Pssst!«, zischte Web. »Er kommt. Er kommt.«

»Woher weißt du das? Was siehst du?«

»Die Tür geht auf. Die quietscht immer. Immer. Einfach so. Er kommt die Treppe rauf. Er hat es oben. Sein Zeug. Ich hab es gesehen. Ich habe ihn gesehen.«

»Entspannen Sie sich, Web. Es ist alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung.« Claire wollte ihn nicht berühren, aus Angst, ihn zu erschrecken, aber sie kauerte so dicht vor Web, dass er ihre Gegenwart spüren konnte. Claire bereitete sich darauf vor, die Sitzung abzubrechen, bevor sie außer Kontrolle geriet. Aber wenn sie doch nur noch einen kleinen Schritt weiter gehen könnten, nur noch einen kleinen Schritt...

»Er ist jetzt oben auf der Treppe. Ich höre ihn. Ich höre meine Mutter. Sie wartet da unten.«

»Aber Sie können nichts sehen. Sie sind noch immer im Dunkeln.«

»Ich kann sehen.« Die Tonlage der Stimme überraschte Claire, denn sie war tief und bedrohlich und nicht mehr der Ruf eines schrecklich verängstigten Jungen.

»Wie können Sie sehen, Herr Kameramann? Was sehen Sie?«

Web schrie die nächsten Worte so plötzlich heraus, dass Claire beinah zu Boden gefallen wäre.

»Verdammt, das wissen Sie doch schon!«

Den Bruchteil einer Sekunde lang dachte sie, er würde direkt zu ihr sprechen. Das war noch nie zuvor in einer HypnoseSitzung geschehen. Was meinte er? Dass sie diese Information schon hatte? Doch dann beruhigte er sich und fuhr fort.

»Ich hab die Kleider ein bisschen hochgehoben. Ich bin unter den Kleidern. Ich versteck mich.«

»Vor dem Stiefvater des kleinen Jungen?«

»Ich will nicht, dass er mich sieht.«

»Weil der kleine Junge Angst hat?«

»Nein, ich hab keine Angst. Ich will nicht, dass er mich sieht. Er darf mich nicht sehen. Jetzt noch nicht.«

»Warum, was meinen Sie?«

»Er steht direkt vor mir, dreht mir aber den Rücken zu. Sein Zeug liegt genau dort. Er bückt sich, um was aufzuheben.«

Webs Stimme wurde tiefer, als würde er vor ihren Augen von einem Jungen zum Mann heranwachsen.

»Ich komm jetzt aus meinem Versteck. Ich muss mich nicht mehr verstecken. Unter den Kleidern. Das sind die Kleider meiner Mutter. Sie hat die Sachen für mich hierhin gelegt.«

»Hat sie das? Warum?«

»Damit ich mich verstecken kann, wenn er kommt. Ich steh jetzt auf. Ich bin größer als er. Ich bin stärker als er.«

In Webs Stimme lag ein Ton, der Claire äußerst nervös machte. Sie bemerkte, dass ihr eigener Atem jetzt in Stößen kam, obwohl Web sich beruhigt hatte. Sie hatte eine böse Ahnung, wohin diese Sache führte. Jeder ihrer professionellen Instinkte riet ihr, Schluss zu machen, die Sitzung abzubrechen, und doch konnte sie es einfach nicht.

»Diese Teppichrollen. Hart wie Eisen«, sagte Web mit seiner tiefen Männerstimme. »Ich hab eine, hatte sie unter den Kleidern. Ich stehe jetzt, bin viel größer als er. Er ist ein kleiner Mann, so klein.«

»Web«, begann Claire. Sie gab das Spiel mit dem Kameramann auf. Die Sache geriet außer Kontrolle.

»Ich hab sie in meiner Hand. Wie einen Baseballschläger. Ich bin ein sehr guter Baseballspieler. Ich kann ganz weit schlagen. Ich kann härter schlagen als alle anderen. Ich bin groß und stark. Wie mein Dad. Mein richtiger Dad.«

»Web, bitte.«

»Er sieht noch nicht mal her. Weiß nicht, dass ich hier bin. Schläger hoch.«

Wieder änderte sie ihre Taktik. »Herr Kameramann, ich möchte, dass Sie die Kamera ausschalten.«

»Der Ball kommt. Ein schneller Ball. Ich sehe ihn. Ich seh ihn kommen.«

»Herr Kameramann, ich möchte, dass Sie... «

»Er ist fast da. Er dreht sich. Das will ich auch. Ich will, dass er das sieht. Mich sieht.«

»Web! Schalten Sie sie aus.«

»Er sieht mich. Er sieht mich. Der Ball kommt.«

»Schalten Sie die Kamera aus. Stopp, Sie sehen das nicht.

Stopp!«

»Er hat Angst! Er sieht mich, er weiß, wie hart ich schlagen kann. Er hat Angst, ich nicht! Nie wieder! Nie wieder!«

Hilflos sah Claire mit an, wie Web einen imaginären Baseballschläger ergriff und zuschlug.

»Treffer! Treffer. Ein Superschlag, ein Superschlag. Der Ball kommt runter. Er kommt runter. Es ist ein Homerun. Er ist raus, raus. Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn, du Arschloch.« Er verstummte einen Augenblick lang, und Claire beobachtete ihn genau.

»Er steht auf. Er steht wieder auf.« Er hielt inne. »Ja, Mom«, sagte er. »Hier ist der Schläger, Mom.« Er streckte die Hand aus, als wolle er jemandem etwas geben. Claire hätte fast selbst die Hand ausgestreckt, um es zu nehmen, riss sich dann aber zusammen.

»Mom schlägt ihn. Auf den Kopf. Blut. Er bewegt sich jetzt nicht mehr. Nicht mehr. Es ist vorbei.«

Er wurde still und sackte zurück in den Sessel. Claire lehnte sich ebenfalls zurück. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie eine Hand auf ihre Brust legte, als könnte sie es so beruhigen. Sie konnte sich nur noch vorstellen, wie Raymond Stockton die Treppe vom Dachboden hinunterstürzte, nachdem er von einer harten Teppichrolle getroffen worden war. Auf dem Weg nach unten schlug er sich den Kopf auf und wurde schließlich mit derselben Teppichrolle von seiner Frau erledigt.

»Ich möchte, dass Sie sich jetzt wieder entspannen, Web. Ich möchte, dass Sie schlafen, nur schlafen, das ist alles.«

Sie sah, dass sein Körper noch tiefer in den Sessel rutschte.

Als Claire aufblickte, bekam sie einen weiteren Schock. Romano stand da und starrte sie an, die Hand an der Waffe.

»Was geht hier vor?«, fragte er.

»Er steht unter Hypnose, Mr Romano. Es ist alles in Ordnung.«

»Woher soll ich das wissen?«

»Da werden Sie mir einfach vertrauen müssen.« Sie war noch immer zu aufgewühlt, um mit dem Mann zu diskutieren. »Wie viel haben Sie mitbekommen?«

»Ich kam zurück, um nach Web zu sehen, und da hörte ich ihn schreien.«

»Er durchlebt gerade ein paar äußerst empfindliche Erinnerungen aus seiner Vergangenheit. Ich weiß noch nicht, was das alles bedeutet, aber es war schon ein großer Schritt, überhaupt so weit zu kommen.«

Claires Erfahrungen mit der Gerichtsmedizin ließen sie mehrere Theorien in Betracht ziehen. Es war offensichtlich geplant gewesen, die Schläge mit der Teppichrolle auszuführen. Wenn Stockton Teppichfasern in der Kopfwunde hatte, als er auf dem Boden aufschlug, und wenn der Teppich auf dem Boden derselbe war wie das Reststück auf dem Speicher, würde die Polizei davon ausgehen, dass er sich die Verletzung beim Sturz zugezogen hatte. Sie würden niemals vermuten, dass ihn jemand mit einem zusammengerollten Reststück auf dem Speicher niedergeschlagen hatte. Nach all den Beschwerden wegen Misshandlungen gegen den Mann waren alle, die Polizei eingeschlossen, wohl dankbar gewesen, dass er endlich tot war.

Web hatte gesagt, dass seine Mutter den Kleiderhaufen dorthin gelegt hatte. Hatte sie auch die Teppichrolle besorgt? Hatte sie ihren großen, starken Sohn auch unterwiesen, wie man sich des brutalen Ehemannes entledigen konnte? Hatte die Frau die Sache auf diese Weise regeln wollen? Und war dann eingeschritten, um die Sache zu Ende zu bringen? Und Web hatte sich später die Bruchstücke zusammenreimen können, womit er seine Schuld so weit unterdrückte, dass er sich schließlich nur noch unter Hypnose an den Vorfall erinnern konnte? Aber eine solch außergewöhnliche unterdrückte Erinnerung würde jeden Aspekt seines Lebens und seiner Zukunft überschatten. Claire verstand jetzt sehr gut, warum Web so war, wie er war. Er war ein Mann des Gesetzes geworden, aber nicht, um Harry Sullivans Verbrechen zu sühnen, sondern wegen seiner eigenen Schuld. Ein Junge, der auf Anweisung seiner Mutter dabei half, den Stiefvater umzubringen... was sein inneres Gleichgewicht betraf, konnte es wohl kaum schlimmer kommen.

Claire schaute zu Web hinüber, der ganz friedlich dort saß, mit geschlossenen Augen, und auf die nächste Anweisung wartete. Kinder aus einem Elternhaus, in dem Missbrauch vorkam, zogen sich oft in Fantasiewelten zurück, eine Art Flucht vor der grausamen Realität, und das in einem solchen Ausmaß, dass sie ganze Teile ihrer Erinnerung entweder ausschmücken oder aber auch komplett auslöschen konnten, so wie Web es getan hatte. Auch wenn er äußerlich dynamisch, unabhängig und dominant wirkte, war Web London im Inneren eher submissiv, ein Mensch, der sich auf andere verließ. Daher rührte wohl auch seine Abhängigkeit vom HRT-Team und seine außergewöhnliche Fähigkeit, Befehle auszuführen. Er wollte unbedingt gefallen, akzeptiert werden.

Sie schüttelte den Kopf. Und dennoch hatte dieser Mann der psychologischen Belastung sowohl des FBI wie auch des HRT widerstanden. Web hatte gesagt, dass er die psychologischen Tests durchschaut und einen Weg gefunden hatte, sich hindurchzumogeln. Er wusste ja gar nicht, wie Recht er damit hatte.

Als sie Romano ansah, kam ihr etwas in den Sinn. Sie musste die Fragen sehr vorsichtig formulieren, da sie keinerlei vertrauliche Patienteninformationen preisgeben durfte. Web hatte ihr gesagt, er nehme keinerlei Medikamente, und sie hatte ihm geglaubt. Nachdem sie nun einiges über ihn erfahren hatte, fragte sie sich, ob das wirklich den Tatsachen entsprach, angesichts der Traumata in seinem Inneren, die ihn zerfraßen. Sie winkte Romano beiseite, außerhalb von Webs Hörweite. »Wissen Sie, ob Web irgendwelche Medikamente nimmt?«, fragte sie leise.

»Hat Web irgendwas dergleichen gesagt?«

»Ich fragte mich das nur. Ist so eine Art Anfangsfrage, die jeder Seelenklempner stellt«, wich sie ihm aus.

»Viele Leute nehmen Tabletten, um besser schlafen zu können«, sagte Romano, ein wenig zu scharf.

Sie hatte nichts von Schlaftabletten erwähnt. Romano wusste also etwas. »Ich behaupte ja gar nicht, dass es falsch ist, Medikamente zu nehmen. Ich wollte nur wissen, ob er Ihnen gegenüber mal erwähnt hat, dass er etwas nimmt, und wenn ja, was.«

»Wenn Sie glauben, er ist abhängig oder so was, dann kann ich Ihnen nur sagen, Sie sind verrückt.«

»Das unterstelle ich doch gar nicht. Es ist nur wichtig für mich, zu wissen, ob er schon mal irgendwelche Beruhigungsmittel nimmt. Wegen der Therapie.«

Romano glaubte ihr noch immer nicht. »Warum fragen Sie ihn dann nicht selbst?«

»Sie wissen doch bestimmt, dass die Leute ihren Ärzten und ganz besonders einer Ärztin wie mir nicht immer die Wahrheit sagen. Ich will nur sichergehen, dass es keine Probleme gibt.«

Romano schaute zu Web hinüber, offensichtlich um sich zu vergewissern, dass er nichts mitbekam. Dann sah er wieder zu Claire und schien Schwierigkeiten zu haben, die Worte herauszubringen. »Ich habe neulich gesehen, dass er ein Fläschchen mit Pillen in der Hand hielt. Aber hören Sie, er macht gerade einiges durch, und das macht ihm schwer zu schaffen, und da braucht er vielleicht ein bisschen zur Beruhigung. Aber das FBI stellt sich wegen dem Zeug noch immer furchtbar an. Die schmeißen einen über Bord und rühren keine Hand, ob einer absäuft oder nicht. Da müssen wir Jungs halt ein wenig aufeinander aufpassen.« Romano hielt inne und sah zu Web hinüber. »Er ist der Beste, den das HRT je hatte«, sagte er etwas wehmütig.

»Sie wissen, dass er auch sehr viel von Ihnen hält.«

»Ich glaube schon. Ja, das weiß ich.«

Romano ging hinaus. Claire trat zum Fenster und sah ihm nach, wie er die Straße überquerte und dann außer Sicht verschwand. Es musste ihm sehr schwer gefallen sein, so ein vertrauliches Detail über seinen Freund zu enthüllen. Aber letzten Endes hatte er Web damit weit mehr geholfen als geschadet.

Sie setzte sich Web gegenüber, beugte sich vor und sprach so langsam, dass er keines ihrer Worte überhören konnte. Normalerweise sollte eine Hypnose hemmende Faktoren und Schichten abbauen, die unterdrückte Erinnerungen verdeckten, welche wiederum die Patienten davon abhielten, über ihre eigentlichen Sorgen und Probleme zu sprechen. Gewöhnlich wurde der Patient aus der Hypnose gebracht und konnte sich dann an alles erinnern, was währenddessen geschehen war. Hier musste Claire anders vorgehen. Das wäre zu traumatisch.

Also gab sie Web einen posthypnotischen Befehl. Sie wies ihn an, sich nach dem Erwachen gerade an so viel zu erinnern, dass er mit der Situation angemessen umgehen konnte. Unter diesen Umständen war Claire überzeugt, dass er sich an so gut wie nichts erinnern würde. Er war nicht imstande, sich damit zu befassen, so tief war es in seinem Unterbewusstsein vergraben.

Langsam brachte sie ihn wieder die Rolltreppe hinauf, Schritt für Schritt. Bevor er dann ganz zu sich kam, hatte sie sich

zusammengerissen und war bereit, ihm gegenüberzutreten.

Als er schließlich die Augen öffnete, schaute er sich zunächst im Raum um und sah dann sie an. Er lächelte. »Hat es sich gelohnt?«

»Zuerst muss ich Ihnen eine Frage stellen, Web.« Sie hielt inne, um sich erneut zu sammeln. »Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?«, sagte sie dann.

Er kniff die Augen zusammen. »Haben Sie mich das nicht schon mal gefragt?«

»Ich frage Sie jetzt.«

»Warum?«

»Sie erwähnten Voodoo als eine Erklärung dafür, warum Sie zusammenklappten. Lassen Sie mich Ihnen eine andere anbieten: negative Wechselwirkung von Medikamenten.«

»Ich habe keinerlei Medikamente genommen, bevor wir in diese Gasse gingen, Claire. So etwas würde ich nie tun.«

»Medikamentöse Wechselwirkungen sind seltsam«, antwortete Claire. »Je nachdem, was man eingenommen hat, tritt die Wirkung manchmal erst ein, nachdem man das Mittel schon längst wieder abgesetzt hat.« Sie hielt erneut inne. »Es ist wichtig, dass Sie mir in dieser Hinsicht nichts verschweigen, Web«, fügte sie dann hinzu. »Wenn Sie die Wahrheit herausfinden wollen, ist es wirklich wichtig.«

Sie sahen sich lange an, dann stand Web auf und ging ins Badezimmer. Eine Minute später kam er zurück und gab ihr ein kleines Fläschchen mit Pillen darin. Als sie den Inhalt untersuchte, setzte er sich wieder.

»Da Sie das Zeug dabeihaben, gehe ich davon aus, dass Sie es auch nehmen.«

»Ich erledige hier einen Job, Claire. Keine Pillen. Ich stelle mich also den Albträumen und den Schmerzen, die man bekommt, wenn man zwei große Löcher in seinem Körper und

nur ein halbes Gesicht hat.«

»Warum haben Sie es dann mitgebracht?«

»Zur Sicherheit. Wie die berühmte Schmusedecke. Sie sind doch Psychiaterin - Sie wissen doch, was es damit und mit dem Daumenlutschen auf sich hat, oder?«

Claire nahm die Pillen heraus und untersuchte sie eine nach der anderen. Sie waren alle verschieden. Die meisten erkannte sie, einige aber auch nicht. Sie hielt eine der Pillen hoch. »Wissen Sie, woher Sie die haben?«

»Wieso?«, fragte er misstrauisch. »Stimmt damit etwas nicht?«

»Vielleicht. Haben Sie diese Pillen von O'Bannon bekommen?«, fragte sie zweifelnd.

»Schon möglich. Aber die, die er mir verschrieben hat, müsste ich eigentlich schon längst aufgebraucht haben.«

»Wenn nicht von O'Bannon, von wem dann?«

Web begann, sich zu rechtfertigen. »Hören Sie, ich musste von den Schmerzmitteln runterkommen, die sie mir wegen meiner Verletzungen gegeben hatten, denn ich wurde von ihnen abhängig. Und dann konnte ich nicht schlafen, etwa ein Jahr lang. Ein paar Jungs beim HRT haben das gleiche Problem. Selbst beim HRT kann man ohne Schlaf nur eine gewisse Zeit lang durchhalten. Und darum haben mir einige von den Jungs im Lauf der Zeit Pillen zugesteckt. Ich sammle sie einfach in dieser Flasche und nehme sie, wenn ich sie brauche. Diese Pille könnte von einem von ihnen stammen. Weshalb der Aufstand?«

»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus, dass Sie Medikamente nehmen, um schlafen zu können, Web. Aber es ist gefährlich, sich aus einem so zusammengewürfelten Sortiment zu bedienen, selbst wenn das Zeug von ihren Freunden stammt. Sie haben keine Ahnung, welche Nebenwirkungen auftreten können. Sie haben wirklich Glück gehabt, dass Ihnen noch nichts Schlimmes passiert ist. Aber vielleicht ist es ja doch schon passiert. In der Gasse. Vielleicht ist diese ungewöhnliche Art, Pillen einzunehmen, Schuld daran, dass Sie handlungsunfähig wurden.« Claire dachte auch darüber nach, ob die traumatischen Ereignisse um den Tod Raymond Stocktons vielleicht zu dem denkbar schlechtesten Zeitpunkt an die Oberfläche getreten waren - nämlich, als Web in dieser Gasse stand. Vielleicht hatte der Anblick dieses Jungen, von dem Web gesprochen hatte, irgendwas in ihm ausgelöst, ihn lahm gelegt.

Web schlug die Hände vors Gesicht. »Scheiße! Das ist unglaublich. Einfach unglaublich!«

»Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass es so war, Web.« Sie sah ihn mitfühlend an, aber sie musste noch etwas anderes wissen. »Haben Sie Ihrem Vorgesetzten gemeldet, dass Sie Medikamente nehmen?«

Er nahm die Hände vom Gesicht, sah sie aber nicht an.

»He«, sagte sie leise.

»Möchten Sie etwas sagen?«

»Nehmen Sie sie noch immer?«

»Nein. Soweit ich mich erinnere, habe ich das letzte Mal eine Woche vor der Mission in der Gasse was genommen. Danach nicht mehr.«

»Dann gibt es auch nichts, was ich berichten müsste.« Sie hielt dieselbe Pille wieder hoch. »Ich kenne dieses Medikament nicht, und als Psychiater habe ich so ziemlich alle davon gesehen. Ich würde sie gern analysieren lassen. Auf dem kleinen Dienstweg«, fügte sie schnell hinzu, als er beunruhigt aufschaute. »Ich habe da einen Freund. Ihr Name wird nicht in Erscheinung treten.«

»Glauben Sie wirklich, dass es die Pillen waren, Claire?«

Sie betrachtete die Pille, steckte dann die Flasche ein und sah ihn wieder an. »Web, ich befürchte, das werden wir nie mit

Sicherheit wissen.«

»Die Hypnose war also eine Pleite?«, fragte Web schließlich, auch wenn Claire ihm ansehen konnte, dass seine Gedanken sich eindeutig um die Pillen und ihre mögliche Rolle bei dem drehten, was mit dem Charlie-Team geschehen war.

»Nein, keineswegs. Ich habe vieles erfahren.«

»Was denn, zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, dass Harry Sullivan während Ihrer Feier zum sechsten Geburtstag verhaftet wurde. Erinnern Sie sich, darüber gesprochen zu haben?« Sie war sich ziemlich sicher, dass er sich daran erinnern konnte. Aber nicht an den Vorfall mit Stockton.

Web nickte langsam. »Ja, ich glaube schon. Zumindest an einiges.«

»Auch wenn Ihnen das kein Trost ist... bevor er verhaftet wurde, schien Sie und Harry viel Spaß gehabt zu haben. Er hat Sie eindeutig sehr lieb gehabt.«

»Schön zu wissen«, sagte Web ohne große Begeisterung.

»Oft werden traumatische Erlebnisse unterdrückt, Web, das ist so eine Art Sicherheitsventil. Ihre Psyche kann auf dieser Ebene der Konfrontation nicht damit umgehen, und Sie vergraben es praktisch, um sich nicht damit auseinander setzen zu müssen.«

»Aber das ist so, als würde man Giftmüll vergraben«, sagte er leise.

»Stimmt. Und manchmal sickert etwas durch und richtet beträchtlichen Schaden an.«

»Noch etwas?«, fragte er.

»Erinnern Sie sich an etwas anderes?«

Er schüttelte den Kopf.

Claire wandte kurz den Blick ab. Sie wusste, dass Web nicht in der Verfassung war, die Wahrheit über den Tod seines

Stiefvaters zu hören. Sie sah ihn wieder an und brachte ein winziges Lächeln zustande. »Tja, das reicht doch fürs Erste, oder?« Sie sah auf ihre Uhr. »Und ich muss zurück.«

»Mein Dad und ich kamen also gut miteinander aus?«

»Sie haben Lieder gesungen, und er hat Sie auf den Schultern getragen. Ja, Sie hatten wirklich viel Spaß miteinander.«

»So langsam kehrt alles zurück. Es besteht also noch Hoffnung für mich, was?« Web lächelte, vielleicht um zu zeigen, dass er es nicht ganz ernst meinte.

»Es gibt immer Hoffnung, Web«, erwiderte Claire.

 

KAPITEL 39

 

Sonny Venables war außer Dienst und trug keine Uniform, und der Wagen, in dem er saß und die Gegend beobachtete, war ein Zivilfahrzeug, auch wenn es der Polizei gehörte. Etwas bewegte sich hinten im Fond, als der große Mann, der dort auf dem Boden lag, die langen Beine ausstreckte.

»Jetzt krieg mal keine Hummeln im Hintern, Randy«, sagte Venables. »Das wird noch 'ne Weile dauern.«

»Du kannst mir glauben, ich habe schon länger auf irgendwelche Typen gewartet, und zwar an viel beschisseneren Orten als dem Rücksitz eines Autos.«

Venables stieß eine Zigarette aus der Packung, die er gerade aus der Tasche geholt hatte, zündete sie an, drehte die Fensterscheibe herunter und blies Rauch hinaus.

»Du wolltest mir gerade von deiner Begegnung mit London erzählen.«

»Ich hab ihm den Rücken gedeckt, auch wenn er es damals gar nicht wusste. War ganz gut so, auch wenn ich nicht glaube, dass Westbrook ihn wirklich getötet hätte.«

»Ich habe von dem Typen gehört, bin ihm aber nie begegnet.«

»Du Glücklicher. Aber ich kann dir sagen, es gibt viel Schlimmere als ihn da draußen. Westbrook hat wenigstens so was wie Ehre. Die meisten Typen da draußen sind einfach nur völlig irre. Die bringen dich um, nur um dich umzubringen und damit anzugeben. Westbrook tut nichts ohne wirklich guten Grund.«

»Zum Beispiel, vielleicht ein HRT-Team auszuradieren?«

»Ich glaube nicht, dass er es war. Aber er hat London eine Nachricht weitergegeben, von den Tunneln unter dem Gebäude, das das Zielobjekt des HRT war. So sind offensichtlich die

Waffen da reingekommen. London hat das mit Bates überprüft, und es stimmte.«

»Nach allem, was du mir über Westbrook erzählt hast, scheint er mir nicht gerade ein Botenjunge zu sein.«

»Wieso nicht, wenn sein Auftraggeber etwas in der Hand hat an dem ihm was liegt? Zum Beispiel seinen Sohn.«

»Verstehe. Also steckt diese Person hinter dem Anschlag auf das HRT?«

»So sehe ich das.«

»Welche Rolle spielt dann das Oxy?«

»Das war die Operation, die ich in jener Nacht in dem Gebäude sah. Sie hatten sogar was von dem Zeug da. Keine Koksplatten, nur Tüten voller Pillen. Und ich habe Computeraufzeichnungen gesehen, in denen alles festgehalten war. Ein Millionengeschäft. Und zwei Tage drauf war nichts mehr davon da.«

»Warum der ganze Aufwand, um dich reinzulegen? Warum ein HRT auslöschen? Jetzt wird das FBI sie mit allem jagen, was es hat.«

»Viel Sinn macht das nicht«, stimmte Cove zu, »aber so scheint es abgelaufen zu sein.«

Venables setzte sich auf und schnippte die Zigarette aus dem Fenster. »Showtime, Randy.«

Er beobachtete, wie ein Mann das Gebäude verlies, das sie observierten. Der Mann ging die Straße entlang und bog nach rechts in eine Gasse. Venables ließ den Wagen an und fuhr langsam los.

»Ist das der Typ, auf den du gewartet hast?«, fragte Cove.

»Genau. Solltest du Informationen über neue Drogen brauchen, die in die Stadt kommen, dieser Typ hat sie. Er heißt Tyrone Walker, ist aber als T bekannt. Sehr einfallsreich. Hat im Lauf der Jahre drei oder vier verschiedenen Banden angehört.

Hat gesessen, war 'ne Weile im Krankenhaus und dann in der Drogen-Reha. Er ist so um die sechsundzwanzig und sieht zehn Jahre älter aus als ich, und ich sehe für mein Alter schon nicht besonders gut aus.«

»Seltsam, dass der Typ mir nie über den Weg gelaufen ist.«

»He, du hast nicht das Monopol auf Informationen in dieser Stadt. Ich bin vielleicht nur ein lausiger Streifenpolizist, aber ich komm rum.«

»Zum Glück, Sonny, denn mich meidet man momentan wie die Pest. Keiner redet mehr mit mir.«

»Tja, der alte T wird mit dir reden, mit der richtigen Überzeugung.«

Venables bog um die Ecke, trat aufs Gas und bog dann rechts auf eine Straße, die parallel zu der verlief, auf der sie geparkt hatten. Als sie erneut um die Ecke bogen, tauchte ihre Zielperson aus der Gasse auf, die eine Abkürzung zu dieser Straße darstellte.

Venables blickte sich um. »Die Luft ist rein. Willst du es durchziehen?«

Cove war bereits aus dem Wagen. Bevor T wusste, wie ihm geschah, war er bereits fachmännisch durchsucht worden und lag, das Gesicht nach unten, auf dem Rücksitz von Venables Wagen, eine von Coves riesigen Händen im Nacken, die ihn dort festhielt. Während T sie lauthals verfluchte, fuhr Venables los. Als er sich beruhigt hatte, waren sie bereits zwei Meilen weiter und in einem besseren Stadtteil. Cove setzte T auf. Der Mann blickte zuerst Cove an, dann Venables.

»Hallo, T«, sagte Venables. »Du siehst gut aus. Kennst du mich noch?«

Cove spürte, dass T aus der anderen Tür springen wollte, und legte einen Arm um seine Schultern. »He, wir wollen nur mit dir reden.«

»Und was, wenn ich nicht reden will?«

»Dann kannst du einfach aussteigen«, sagte Cove.

»Ach ja? Okay, halten Sie an, ich steige aus.«

»Ach, er hat nicht gesagt, dass wir anhalten, bevor du aussteigst.« Venables schlug das Lenkrad ein, fuhr eine Auffahrt hoch, und sie bogen auf die Interstate 395, überquerten die Fourteenth Street Bridge und waren in Virginia. Er beschleunigte auf sechzig Meilen pro Stunde.

T starrte aus dem Fenster und sah den Verkehr vorbeirasen. Er setzte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Also, mein Freund hier...«, begann Venables.

»Hat Ihr verdammter Freund auch einen Namen?«

Cove verstärkte den Griff um Ts Schultern. »Ja, ich habe einen Namen. Du kannst mich T-Rex nennen. Sag ihm, warum, Sonny.«

»Weil er kleine Ts zum Frühstück, zum Mittag und zum Abendessen frisst«, sagte Sonny.

»Und ich will nur ein paar Informationen über ein neues Produkt in der Stadt. Über die Gangs, die es kaufen, und so weiter. Keine Probleme. Nur ein paar Namen, und wir setzen dich da wieder raus, wo wir dich eingesammelt haben.«

»Und glaub mir eins, T, diesen Mann solltest du nicht verärgern«, fügte Venables hinzu.

»Ihr seid Cops. Ihr werdet mir nichts tun, wenn ihr nicht wollt, dass ich euch verklage.«

Cove sah den Mann einen Augenblick lang an. »Du solltest lieber richtig nett zu mir sein, T«, sagte er dann. »Ich bin im Moment nicht gut drauf, und mir ist es scheißegal, ob mich jemand verklagt oder nicht.«

»Leck mich.«

»Sonny, nimm die nächste rechts. Fahr zum GW Parkway. Da

gibt es eine Menge ruhiger Plätzchen«, fügte er drohend hinzu.

»Alles klar.«

Nach ein paar Minuten waren sie auf dem George Washington - kurz GW - Parkway und fuhren gen Norden.

»Nimm die nächste Abfahrt«, sagte Cove.

Sie fuhren auf einen Parkplatz mit wunderschöner Aussicht, der einen Blick auf Georgetown und, tief unter ihnen, den Potomac, bot. Eine Steinmauer diente als Begrenzung zu dem steilen Abgrund. Der Tag war der Dämmerung gewichen, und auf dem Parkplatz standen keine weiteren Autos. Cove sah sich um, öffnete die Tür und zog T mit sich heraus.

»Wenn ihr Ärsche mich verhaftet, will ich meinen Anwalt sprechen.«

Venables stieg ebenfalls aus und sah sich um. Er betrachtete den Abgrund, warf Cove einen Blick zu und zuckte mit den Achseln.

Cove packte den ziemlich schmächtigen T an der Hüfte und hob ihn hoch.

»Verdammte Scheiße, was soll das, Mann?«

Während T sich vergeblich abstrampelte, stieg Cove auf die Steinmauer und auf der anderen Seite wieder herunter. Ein kleiner Streifen Erde trennte sie von dem dreißig Meter tiefen Abgrund in den mit Felsen übersäten Fluss. Den Fluss entlang und am gegenüberliegenden Ufer standen ein paar Gebäude, in hellen Farben gestrichen und örtlichen Clubs gehörig, deren Mitglieder sich bemüßigt fühlten, in Kanus, Skulls, Kajaks und anderen Booten, welche allesamt Muskelkraft statt Verbrennungsmotoren zur Fortbewegung erforderten, durchs Wasser zu pflügen. Zahlreiche von ihnen waren auch jetzt auf dem Wasser. Eine malerische Szene, die T jetzt freilich nicht so recht genießen konnte, da er sie auf den Kopf gestellt sah - denn Cove hielt ihn an den Füßen über den Abgrund.

»Heilige Scheiße«, schrie der wild um sich schlagende T, als er hinab ins Vergessen blickte.

»Wir können es jetzt auf die leichte oder auf die harte Tour machen, und du musst dich echt schnell entscheiden, denn ich habe weder Zeit noch Geduld«, sagte Cove.

Venables hockte sich auf die Mauer und hielt nach anderen Wagen Ausschau. »Hör besser auf ihn, T. Der Mann lügt nicht.«

»Aber ihr seid doch Cops«, jammerte T. »Ihr könnt so 'nen Scheiß nicht machen. Das ist gegen die Verfassung.«

»Ich habe nie gesagt, dass ich ein Cop bin«, sagte Cove.

T wurde ganz steif und sah zu Venables hinüber. »Aber er ist einer, verdammt noch mal.«

»Ich bin nicht im Dienst«, sagte Venables. »Und ich geh sowieso bald in Rente. Mir ist das scheißegal.«

»Oxy«, sagte Cove ruhig. »Ich will wissen, wer es in D.C. kauft.«

»Bist du total bescheuert, oder was?«, schrie T.

»Ja, bin ich.« Cove lockerte seinen Griff ein wenig, und T rutschte ungefähr zehn Zentimeter ab. Cove hielt den Mann jetzt nur noch an den Fußgelenken.

»Lieber Gott, so hilf mir doch«, wimmerte T.

»Sprich nicht so mit dem Herrn«, sagte Venables, »nicht nach dem Leben, das du geführt hast. Sonst schickt er noch einen Blitz, und ich sitze viel zu dicht neben dir.«

»Rede«, sagte Cove mit seiner ruhigen Stimme. »Oxy.«

»Ich kann Ihnen nichts sagen. Die Typen reißen mir den Arsch auf.«

Cove ließ ihn noch etwas abrutschen. Jetzt hielt er ihn nur noch an den Füßen. »Du trägst Halbschuhe, T«, sagte er. »Halbschuhe rutschen einfach so ab.«

»Gehen Sie zum Teufel.«

Cove ließ einen Fuß los und hielt T jetzt mit beiden Händen am anderen fest. Er blickte wieder zu Venables. »Sonny, den hier lassen wir wohl besser einfach fallen und suchen uns einen anderen, der etwas schlauer ist.«

»Ich weiß auch schon, wen. Los, lass uns abhauen.«

Cove machte Anstalten, den Fuß loszulassen.

»Nein!«, schrie T. »Ich rede! Ich sag's Ihnen.«

Cove rührte sich nicht.

»Nein, ich meine, holen Sie mich rauf, und ich sag's Ihnen.«

»Sonny, lass schon mal den Wagen an, während ich das Stück Scheiße hier in den Potomac werfe.«

»Nein! Ich rede, gleich hier! Ich schwör's!«

»Oxy«, sagte Cove noch einmal.

»Oxy«, wiederholte T., und dann sprudelte es nur so aus ihm heraus, und er erzählte Cove alles, was er wissen wollte.

Claire fuhr den Volvo auf die Einfahrt und schaltete den Motor aus. Es war eine nette Nachbarschaft, nicht allzu weit von ihrem Büro entfernt, und sie hatte das Grundstück glücklicherweise gekauft, bevor die Immobilienpreise in die Höhe geschossen waren. Sie verdiente ganz ordentlich, aber die Lebenshaltungskosten in Virginia waren einfach lächerlich hoch geworden. Bauunternehmen stopften jeden noch so kleinen Winkel mit Häusern voll, und doch gab es immer noch mehr als genug Leute, die diese Häuser kaufen wollten.

Ihr Haus im Cape-Cod-Stil hatte drei Schlafzimmer und einen hübschen kleinen Rasen davor, Blumenkästen vor den Fenstern, ein Schindeldach aus Zedernholz und eine Garage für zwei Fahrzeuge, die über einen kleinen, windgeschützten Gang mit dem Haus verbunden war. Die Straße war von Bäumen gesäumt, und in diesem Viertel wohnte eine angenehme Mischung aus jungen und alten Leuten, Akademikern und Arbeitern.

Nachdem Claire nun schon so lange geschieden war, fand sie sich allmählich damit ab, dass sie bis ans Ende ihrer Tage Single bleiben würde. Es gab nur wenige geeignete Männer in den gesellschaftlichen Kreisen, in denen sie sich bewegte, und keiner von ihnen hatte ihr Interesse geweckt. Sie hatte ein paar Freundinnen, die immerfort Ausschau hielten, um sie mit einem weiteren kleinen Technikmogul oder Rechtsanwalt zu verkuppeln, aber sie hatte schnell herausgefunden, dass diese Männer allesamt unglaublich egoistisch und selbstsüchtig waren. Würde sie einen davon heiraten, würde ihr Leben sich kaum von dem eines Singles unterscheiden. Um einen von ihnen abzuwimmeln, einen sehr von sich eingenommenen Hochtechnologietypen, hatte sie ihn auf einer Party einmal gefragt, ob er schon mal von Narcissus gehört habe. Er wollte wissen, ob es sich dabei um eine neue Software handelte, und hatte dann übergangslos wieder darüber gesprochen, wie toll er doch sei.

Sie holte die Aktentasche aus dem Wagen und ging zur Haustür. Da sie noch mal loswollte, hatte sie den Wagen nicht in die Garage gesetzt. Der Mann, der aus ihrem Hinterhof kam, erschreckte Claire. Er war schwarz und groß, mit einem Kopf, der rasiert zu sein schien, auch wenn der Mann eine Kappe trug. Claire konzentrierte sich auf die Uniform der Gaswerke und das elektronische Gasmessgerät in seinen Händen. Er ging an ihr vorbei, lächelte und überquerte die Straße. Sie schämte sich, diesen Schwarzen automatisch verdächtigt zu haben, auch wenn sie zugeben musste, dass es in dieser Nachbarschaft nur sehr wenige Farbige gab. Aber wer konnte ihr schon vorwerfen, paranoid zu sein, nachdem sie einen Nachmittag mit Web London und Männern wie ihm zugebracht hatte?

Sie schloss die Tür auf und ging ins Haus. Ihre Gedanken waren noch bei der Sitzung mit Web. Sie war in vielerlei Hinsicht schockierend gewesen, aber zumindest auch enthüllender als schockierend. Sie stellte die Aktentasche ab und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Es war noch immer hell draußen, und sie wollte die Gelegenheit nutzen und einen Spaziergang machen. Die Pillen in ihrer Tasche fielen ihr wieder ein, und sie holte sie hervor und untersuchte sie. Diese eine, die sie nicht kannte, faszinierte sie geradezu. Einer ihrer Freunde arbeitete in der Medikamentenabteilung des FairfaxKrankenhauses. Er konnte einige Tests vornehmen und ihr dann sagen, worum es sich dabei handelte. Es sah wirklich nicht nach einem Schlafmittel aus, aber sie konnte sich auch täuschen. Sie hoffte, dass sie sich auch hinsichtlich der medikamentösen Wechselwirkung täuschte. So verrückt Webs Theorie mit dem Voodoo auch war, ein Fluch wäre ihr lieber als eine blöde Pille, die Web versehentlich eingenommen hatte und die nun die Schuld daran trug, dass seine Freunde ohne ihn sterben mussten. Nein, die Antwo rt musste in seiner Vergangenheit liegen, davon war sie überzeugt.

Sie setzte sich auf das Bett, zog die Schuhe aus, ging in ihren kleinen, begehbaren Wandschrank, zog sich aus und schlüpfte, da die Hitze zurückgekehrt war, in ein T-Shirt und Shorts. Barfuß trat sie wieder heraus und warf einen Blick auf das Telefon. Vielleicht sollte sie Web anrufen und mit ihm sprechen. Irgendwann musste sie ihm sagen, was sie über Stocktons Tod erfahren hatte. Doch der Zeitpunkt war kritisch. Wenn sie es ihm zu früh oder zu spät verriet, konnte die Enthüllung katastrophale Folgen haben. Sie entschied sich erst einmal dafür, nichts zu sagen und die Entscheidung später zu treffen. Vielleicht würde ihr der Spaziergang dabei helfen. Sie ging zur Kommode und holte eine Baseballkappe heraus. Sie wollte sie gerade aufsetzen, als sich eine Hand auf ihren Mund legte.

Sie ließ die Kappe fallen und wehrte sich instinktiv, bis sie die Pistole an ihrer Wange spürte. Da hörte sie auf; sie hatte die Augen weit aufgerissen, und ihr Atem kam plötzlich schwer. Ihr fiel ein, dass sie die Tür nicht abgeschlossen hatte, als sie das Haus betreten hatte. Die Gegend hier war so sicher; zumindest war sie es gewesen. Ihre rasenden Gedanken fragten sich, ob der Gasmann doch ein Betrüger gewesen und zurückgekommen war, um sie nun zu vergewaltigen und dann zu ermorden.

»Was wollen Sie?«, fragte sie mit einer Stimme, die von der Hand über ihrem Mund so gedämpft wurde, dass sie kaum wie die ihre klang. Sie wusste, dass es ein Mann war, auch wenn seine Hand in einem Handschuh steckte. Seine Stärke verriet ihn. Die Hand verlies ihren Mund und legte sich um ihren Hals.

Der Mann antwortete nicht, und Claire sah die Augenbinde, und im nächsten Moment war sie von völliger Dunkelheit umgeben. Sie merkte, wie sie zum Bett geführt wurde, und hatte schreckliche Angst davor, dass man sie nun vergewaltigen würde. Sollte sie schreien, sich wehren? Noch immer wurde die Waffe an ihre rechte Wange gedrückt. Und das Schweigen des Angreifers war weitaus beunruhigender, als seine Stimme es sein könnte.

»Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte der Mann. »Wir wollen nur ein paar Informationen von Ihnen, sonst nichts.« Seine Worte klangen ziemlich eindeutig. Ihr Körper war nicht in Gefahr. Zumindest konnte sie darauf hoffen.

Er drückte sie hinunter, so dass sie auf der Bettkante saß. Sollte er sie zurückschieben und auf sie steigen, würde sie kämpfen, ob er nun eine Pistole hatte oder nicht.

Doch dann bemerkte sie, dass er von ihr zurücktrat. Gleichzeitig spürte sie, wie eine weitere Person den Raum betrat. Sie wurde ganz starr, als sie sich neben sie auf das Bett setzte. Es musste ein schwerer Mann sein, denn das Bett ging unter seinem Gewicht ganz schön runter. Aber er berührte sie nicht, auch wenn sie selbst durch die Augenbinde spüren konnte, wie sein Blick auf ihr ruhte.

»Sie treffen sich mit Web London?«

Bei dieser Frage zuckte sie kurz zusammen, denn ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass diese Sache mit Web zu tun haben könnte. Sie fragte sich, warum sie nicht eher darauf gekommen war. Sie führte ein eher gewöhnliches Leben, Routine, keine Pistolen und Toten. Das war eher Webs Leben. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, jetzt war sie ein Teil dieses Lebens.

»Was meinen Sie?«, brachte sie hervor.

Sie hörte, dass der Mann grunzte, offensichtlich verärgert, dachte sie.

»Sie sind Psychiaterin, und er ist Ihr Patient, nicht wahr?«

Claire hätte am liebsten gesagt, dass sie diese Information aus moralischen Gründen nicht preisgeben konnte, aber sie war sich sicher, dass dieser Mann sie dann töten würde. Als würde er auf so etwas wie ärztliche Schweigepflicht Rücksicht nehmen. Wie um ihre Annahme zu unterstützen, drang ein Klicken an ihr Ohr, das sich anhörte, als würde der Hahn einer Pistole gespannt. Ein großer, kalter Klumpen bildete sich in ihrer Magengegend. Sie fragte sich, wie Web es schaffte, jeden Tag seines Lebens mit solchen Leuten umzugehen.

»Ja, ich treffe mich mit ihm.«

»Jetzt kommen wir weiter. Hat er Ihnen gegenüber einen Jungen erwähnt, einen Jungen namens Kevin?«

Sie nickte. Ihr Mund war derart ausgetrocknet, dass sie glaubte, nicht sprechen zu können.

»Weiß er zufällig, wo dieser Junge jetzt ist?«

Claire schüttelte den Kopf und verkrampfte sich, als er ganz leicht ihre Schulter drückte.

»Entspannen Sie sich, Lady. Niemand wird Ihnen was tun, solange Sie Antwort geben. Wenn Sie nicht antworten, haben wir allerdings ein ziemliches Problem«, fügte er drohend hinzu.

Claire hörte, wie er mit den Fingern schnippte, und ungefähr eine Minute verging in völliger Stille. Dann spürte sie, dass etwas ihre Lippen berührte. Sie wich zurück.

»Wasser«, sagte der Mann. »Sie haben einen trockenen Mund. Leute, die sich vor Angst in die Hosen scheißen, kriegen den immer. Trinken Sie.«

Die letzten Worte waren ein Befehl, und Claire gehorchte sofort.

»Jetzt reden Sie. Kein Kopfschütteln oder Nicken mehr, verstanden?«

Sie wollte nicken, besann sich aber sogleich. »Ja.«

»Was hat er über Kevin gesagt? Alles, ich will alles wissen.«

»Warum?« Sie wusste nicht genau, von wem diese kühne Frage gekommen war.

»Ich habe meine Gründe.«

»Wollen Sie dem Jungen etwas tun?«

»Nein«, erwiderte der Mann ruhig. »Ich will ihn nur gesund und wohlbehalten zurückhaben.«

Er hörte sich aufrichtig an, aber das war bei Kriminellen öfter der Fall, sagte sie sich. Ted Bundy war der König aller glattzüngigen Schwätzer gewesen und hatte dabei lächelnd reihenweise Frauen umgebracht.

»Ich habe keinen Grund, Ihnen zu glauben.«

»Kevin... er ist mein Sohn.«

Sie verkrampfte sich und entspannte sich dann wieder. Konnte das dieser Big F sein, von dem Web ihr erzählt hatte? Aber er hatte gesagt, der Mann sei Kevins Bruder, nicht sein Vater. Dieser Mann hier hörte sich an wie ein besorgter Vater, aber irgendetwas stimmte da nicht. Claire würde einfach ihren professionellen Instinkten vertrauen müssen.

»Web hat gesagt, er habe Kevin in der Gasse gesehen. Kevin hat etwas zu ihm gesagt, und es sei ihm auf unheimliche Weise nahe gegangen. Dann hat er ihn später gesehen, während die Maschinenpistolen schossen. Er gab ihm einen Zettel und schickte ihn fort. Danach hat er ihn nicht mehr gesehen. Aber er

sucht nach ihm.«

»Ist das alles?«

Sie nickte und riss sich dann wieder zusammen. Sie spürte, dass er näher rückte, und trotz der Binde schloss sie die Augen. Sie merkte, dass sich dort Tränen bildeten.

»Kein weiteres Nicken oder Kopfschütteln, das ist die Grundregel. Ich will Worte hören. Ja, nein. Nein, Ja. Das sage ich jetzt zum letzten Mal, kapiert?«

»Ja.« Sie kämpfte gegen die Tränen an.

»Also, hat er sonst noch was gesagt? Ist irgendwas Seltsames passiert, als er Kevin das zweite Mal sah?«

»Nein«, sagte sie, aber sie hatte eine Sekunde zu lange gezögert. Sie spürte es genau, als hätte die Pause einen Tag lang gedauert. Und sie dachte, dass er es auch bemerkt hatte, und ihre Annahme war richtig, denn augenblicklich spürte sie die kalte Mündung einer Pistole an ihrer Wange.

»Wir scheinen hier ein ziemliches Missverständnis zu haben. Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt. Nur damit wir uns verstehen, erklär ich's dir noch einmal, du Miststück: Um meinen Jungen zurückzukriegen, blase ich dir das Gehirn aus dem Kopf, dir und jedem, an dem dir jemals was gelegen hat. Ich sehe hier überall Fotos von diesem süßen kleinen Mädchen. Ich wette, das ist deine Tochter, oder?«

Claire antwortete nicht und spürte, wie sich seine Hand um ihren Hals legte. Dass sie in einem Handschuh steckte, überraschte sie nur so lange, bis sie an Fingerabdrücke und DNS-Proben dachte, die man von Leichen nehmen konnte. Von ihrer Leiche! Dieser Gedanke ließ sie fast ohnmächtig werden.

»Oder?«

»Jja!«

Er ließ seine Hand an ihrem Hals. »Dein kleines Mädchen ist wohlauf und in Sicherheit. Ein perfektes kleines Haus in einem perfekten kleinen Stadtteil. Aber mein Junge ist irgendwo da draußen, und er ist alles, was ich habe. Warum hast du dein Mädchen, und ich hab meinen Jungen nicht? Findest du das fair? Findest du das?« Er drückte ihren Hals ein wenig, und Claire musste würgen.

»Nein.«

»Was, nein?«

»Nein, ich finde es nicht fair«, brachte sie mit halb erstickter Stimme hervor.

»Ach? Tja, dafür ist es etwas spät, Baby.«

Dann wurde sie auf das Bett zurückgedrängt. Ihr früheres Versprechen, gegen sie zu kämpfen, wenn sie versuchen sollten, sie zu vergewaltigen, kam ihr jetzt lächerlich vor. Sie hatte solche Angst, dass sie kaum atmen konnte. Sie spürte, wie ihr ein Kissen auf das Gesicht gedrückt und dann etwas Hartes genau in die Mitte des Kissens gerammt wurde. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, dass der harte Gegenstand die Pistole war und das Kissen als einfacher Schalldämpfer dienen würde.

Sie dachte an ihre Tochter, Maggie, und sie dachte daran, wie man ihre Leiche finden würde. Tränen rannen ihre Wangen hinab. Und dann konnte sie einen wundersamen Augenblick lang wieder klar denken.

»Er hat gesagt, jemand hätte die Kinder in der Gasse ausgetauscht.«

Das Kissen bewegte sich sekundenlang nicht, und Claire dachte, dass sie trotz allem verloren hatte.

Dann wurde es langsam entfernt, und sie wurde so brutal hochgerissen, dass sie glaubte, man hätte ihr den Arm ausgekugelt.

»Sag das noch mal.«

»Er hat gesagt, Kevin sei in der Gasse gegen einen anderen

Jungen ausgetauscht worden. Der Junge, der zur Polizei ging, war nicht Kevin. Er wurde in der Gasse gekidnappt, bevor er überhaupt zur Polizei kam.«

»Weiß er, warum?«

»Nein. Und er weiß auch nicht, wer es war. Nur, dass es so war.«

Sie spürte die Pistole erneut an ihrer Wange. Aus irgendeinem Grund war es jetzt nicht mehr so furchterregend wie beim ersten Mal.

»Wenn du lügst, wird dir nicht gefallen, was ich mit dir mache.«

»Das hat er gesagt.« Sie kam sich vor, als hätte sie Web verraten, um sich selbst zu retten, und fragte sich, ob er lieber gestorben wäre, als so etwas zu tun. Wahrscheinlich, dachte sie. Die Tränen flossen wieder, diesmal aber nicht vor Angst, sondern wegen ihrer eigenen Schwäche.

»Er glaubt, dass Kevin in dieser Gasse war, wurde von demjenigen geplant, der hinter dieser Sache steckt, wer auch immer es ist. Er glaubt, dass Kevin irgendwie darin verwickelt ist. Aber unwissentlich«, fügte sie schnell hinzu. »Er ist ja noch ein Kind.«

Die Pistole wurde von ihrer Wange genommen, und der große Körper ihres Vernehmers zog sich auch zurück.

»Ist das alles?«

»Das ist alles, was ich weiß.«

»Sie wissen, was ich mit Ihnen tun werde, wenn Sie irgendwem erzählen, dass wir hier waren. Und ich kann Ihre Tochter finden. Wir haben Ihr Haus durchsucht, wir wissen alles, was es über Sie und Ihre Tochter zu wissen gibt. Haben wir uns verstanden?«

»Ja«, brachte sie hervor.

»Ich tu das nur, um meinen Jungen zurückzukriegen, das ist alles. Ich brech nicht in andrer Leute Häuser ein und misch sie auf, das ist nicht mein Stil, schon mal gar nicht mit Frauen, aber ich werde tun, was ich tun muss, um meinen Jungen zurückzukriegen.«

Sie spürte, dass sie nickte, und hörte damit auf.

Sie hörte sie nicht gehen, auch wenn ihr Gehör nie zuvor schärfer gewesen sein konnte.

Sie wartete ein paar Minuten lang, um sich zu vergewissern, und sagte dann: »Hallo?« Und dann sagte sie es noch einmal. Langsam griff sie an ihr Gesicht, um die Augenbinde zu entfernen. Sie rechnete damit, dass Hände sie aufhielten, aber nichts geschah. Schließlich zog sie die Binde ab und sah sich schnell in dem Zimmer um, halbwegs darauf gefasst, dass jemand auf sie einschlagen würde.

Es war niemand mehr da.

Sie wäre nur zu gern auf dem Bett zusammengebrochen und hätte den Rest des Tages und die Nacht hindurch geweint, aber sie konnte unmöglich hier bleiben. Sie hatten gesagt, sie wären überall im Haus gewesen.

Sie warf einige Kleider in eine Reisetasche, griff nach ihrem Portemonnaie und einem Paar Tennisschuhen und ging zur Haustür. Sie schaute hinaus, sah aber niemanden.

Schnell ging sie zu ihrem Wagen und stieg ein.

Als sie losfuhr, hielt sie den Blick auf den Rückspiegel gerichtet, um zu sehen, ob ihr jemand folgte. Sie war darin zwar keine Expertin, aber es schien niemand hinter ihr zu sein. Sie bog auf den Capital Beltway und beschleunigte, ohne genau zu wissen, wohin sie eigentlich fahren wollte.

 

KAPITEL 40

 

Antoine Peebles zog die Handschuhe aus und lehnte sich zurück. Ein breites Grinsen lag auf seinen intelligenten Gesichtszügen. Er blickte hinüber zu Macy, der hinter dem Steuer saß. Die Miene des Mannes zeigte nicht die geringste Regung, wie immer.

»Verdammt gute Vorstellung, wenn ich das sagen darf«, meinte Peebles. »Ich schätze, ich habe die Stimme und die Diktion genau getroffen. Vielleicht hätt' ich noch 'n bisschen mehr Slang auflegen sollen. Was meinst du?«

»Du hast dich wie der Boss angehört«, meinte Macy.

»Und die Lady macht sich voll ins Hemd und läuft zu Web London und den Cops, und die werden nach Francis suchen.«

»Und vielleicht nach uns.«

»Nein, das habe ich dir doch alles erklärt. Du musst da auf einer Makro- und auf einer Mikroebene denken, Mace«, sagte Peebles, als hielte er einem Studenten eine Vorlesung. »Wir haben uns doch bereits von ihm distanziert. Und hinzu kommt, dass er keinen Stoff hat und die Hälfte seiner Leute sich deshalb bereits abgeseilt haben. Seine Einnahmen sind runter auf fast nichts. In diesem Geschäft hat man einen Warenbestand für höchstens zwei Tage. Er hatte noch etwas von dem Zeug versteckt, das halte ich ihm zugute, aber das ist jetzt auch weg. Und als er Toona erschossen hat, hat er allein deshalb vier weitere Jungs verloren.« Peebles schüttelte den Kopf. »Und was passiert bei alledem, was tut er? Er denkt nur noch an den Jungen. Jede Nacht sucht er nach ihm, macht sich unnötig Leute zu Feinden und vertraut niemandem mehr.«

»Er hat Recht, wenn er niemandem mehr vertraut«, sagte Macy und sah Peebles an. »Besonders dir und mir nicht.«

Peebles ignorierte die Worte. »Er könnte ein Buch über Management-Fehler schreiben. Einfach so einen seiner Männer vor allen anderen umzubringen. Vor einem FBI-Agenten! Der ist wohl lebensmüde.«

»Man muss die Jungs immer im Griff haben«, sagte Macy ruhig. »Man muss sie mit starker Hand führen.« Er sah Peebles mit einem Ausdruck an, der eindeutig verriet, dass er seinem Begleiter diese Eigenschaft absprach, doch Peebles bemerkte es nicht, denn er schwelgte offensichtlich noch in seinem Triumph. »Und man kann ihm wohl kaum vorwerfen, dass er seinen Sohn sucht.«

»Man kann das Geschäftliche nicht mit dem Privaten vermischen«, sagte Peebles. »Er hat sich schon alles selbst versaut, hat seinen Einfluss verspielt, und wofür? Für etwas, das nie geschehen wird. Der glaubt doch selbst nicht, dass er den Jungen je zurückbekommt. Der muss sich doch selbst sagen, der Junge sieht sich jetzt die Radieschen von unten an, wenn überhaupt noch etwas von ihm übrig ist. Ich habe schon neue Nachschubwege aufgebaut, und seine Überläufer machen jetzt bei mir mit.« Er sah Macy an. »Du weißt das wahrscheinlich nicht, aber das ist ein klassisches Machiavelli-Manöver. Und im letzten halben Jahr habe ich die besten Mitglieder der anderen Gangs angeworben. Wir können jetzt loslegen, und diesmal machen wir alles auf meine Weise. Wir ziehen das wie ein richtiges Geschäft auf. Verantwortungsbereiche, Bezahlung nach Leistung, Bonuszahlungen für besondere Verdienste und Belohnungen für Innovationen, die das Betriebsergebnis verbessern. Wir waschen unser Geld selbst und reduzieren die Kosten da, wo es notwendig ist. Nicht jede Gang braucht Klunker und Nutten für fünfhundert Dollar die Nacht. Mir schwebt sogar eine Art Altersversorgung vor, die Jungs sollen damit aufhören, ihr Geld für Autos und Schmuck zu verpulvern, und wenn sie dann zu alt für das Geschäft werden, stehen sie mit leeren Händen da. Und ich werde eine Kleiderordnung für die

Führungsriege einführen, keiner soll mehr so beschissen rumlaufen. Ein Profi muss auch aussehen wie ein Profi. Sieh dich an, du siehst schick aus. Genau so will ich es haben.«

Macy zeigte eines seiner seltenen Lächeln. »Einigen Jungs wird das nicht gefallen.«

»Die müssen irgendwann mal erwachsen werden.« Er sah zu Macy hinüber. »Ich sag dir, es war schon ein irres Gefühl, die Pistole in der Hand zu halten.«

»Hättest du sie erschossen?«

»Spinnst du? Ich wollte ihr doch nur Angst machen.«

»Na ja, wenn man mit Knarren rummacht, wird man sie irgendwann auch benutzen müssen«, sagte Macy.

»Das ist dein Job. Du bist der Sicherheitschef, Mace. Meine rechte Hand. Du hast gezeigt, was in dir steckt, als du mit dem Plan kamst, Kevin zu schnappen. Und du hast die Drecksarbeit erledigt, die anderen Gangs dazu zu bringen, ihre Kräfte zu vereinen. Wir kommen jetzt groß raus, mein Junge; viel weiter, als Francis uns gebracht hätte, und viel schneller. Der ist vom alten Schlag, die neuen Methoden sind besser. Deshalb sind auch die Dinosaurier ausgestorben.«

Sie bogen in eine Seitenstraße, und Peebles sah auf die Uhr. »Okay, ist alles so weit klar?«

»Sie sind alle da, genau, wie du es wolltest.«

»Und die Stimmung?«

»Ganz gut, aber etwas misstrauisch. Du hast sie beunruhigt, aber auch neugierig gemacht.«

»Genau das wollte ich hören. Jetzt stecken wir unser Territorium ab, Mace, und lassen die anderen wissen, dass Francis nicht mehr die Macht hat. Dies ist unsere Zeit. Also los!«

Ihm kam plötzlich ein Gedanke, und er hielt inne. »Verdammt, was hat diese Frau gemeint, jemand hätte Kevin in

dieser Gasse gegen einen anderen ausgetauscht?«

Macy zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Du hast doch den Jungen, oder?«

»Gesund und wohlbehalten. Für den Augenblick. Willst du ihn sehen?«

»Ich will nicht mal in die Nähe dieses Jungen kommen. Er kennt mich. Wenn irgendwas schief geht und er mit Francis spricht...« Die Angst auf Peebles Zügen war unverkennbar.

Macy hielt an, stieg aus, suchte die Seitenstraße in beiden Richtungen ab und sah dann zu den Dächern hoch. Schließlich signalisierte er seinem neuen Boss, dass die Luft rein war. Peebles stieg aus, richtete seine Krawatte und knöpfte die doppelreihige Anzugjacke zu. Macy hielt ihm die Tür des Gebäudes auf und Peebles schritt flott hindurch. Sie gingen die Treppe hinauf, und mit jeder Stufe schien Peebles' Größe und Ausstrahlung zu wachsen. Das war sein Augenblick, darauf hatte er jahrelang gewartet. Weg mit dem Alten und her mit dem Neuen!

Als er oben anlangte, ließ er Macy vorbei, damit dieser ihm wieder die Tür öffnete. Sieben Männer warteten hier auf ihn und ein jeder vertrat einen Teil der illegalen Drogenszene von Washington, D.C. Noch nie hatten sie zusammengearbeitet; jeder hatte sich seinen kleinen Teil gegriffen und sein eigenes Revier kontrolliert. Sie hatten weder Informationen noch Ressourcen ausgetauscht. Wenn Meinungsverschiedenheiten auftraten, klärte man sie, indem man einander erschoss. Wenn es einem in den Kram passte, gab er Informationen über die anderen Gangs an die Polizei weiter, und die Cops kamen dann und pickten sich die Kirschen heraus. Francis hatte genau das Gleiche getan, und obwohl so ein Vorgehen auf kurze Sicht durchaus seine Vorzüge haben konnte, war Peebles klar, dass es sich auf lange Sicht nicht auszahlte. Und dass es für Antoine Peebles an der Zeit war, das Management zu übernehmen.

Er betrat den Raum, in dem er den Grundstein seiner Legende legen würde.

Peebles blickte sich um. Und sah niemanden in dem Raum.

Er bekam nicht einmal Gelegenheit, sich umzudrehen, als die Pistole an seinen Kopf gedrückt wurde und die Kugel in sein Gehirn eindrang. Er stürzte zu Boden, und Blut lief seine feine Krawatte hinunter und über seine äußerst professionelle Kleidung.

Macy steckte die Pistole ein und beugte sich über den Toten. »Ich habe Machiavelli studiert«, sagte er, »und das länger als du.«

Er schaltete das Licht aus und ging wieder die Treppe hinunter. Er musste ein Flugzeug erwischen, denn die Dinge würden jetzt gewaltig in Bewegung geraten.

Web führte Boo den kleinen Hügel hinauf und zügelte ihn neben Gwen, die auf Baron saß.

Romano war bei Billy unten am Pferdezentrum; das heißt, Web hatte die beiden dort zurückgelassen, als sie Romanos Corvette bewunderten. Da die meisten Männer die Farm zum Pferdeverkauf verlassen hatten, empfand Web die Situation als besonders bedrohlich und hatte Canfield die Zustimmung abgerungen, weitere Agenten auf die Farm zu beordern, die auf dem Gelände patrouillieren und Wache halten sollten, zumindest, bis die Arbeiter zurückkehrten.

»Es ist so schön um diese Jahreszeit«, sagte Gwen. Sie sah zu Web hinüber. »Sie glauben wohl, wir haben hier ein ziemlich angenehmes Leben. Ein großes Haus, viele Angestellte und einfach nur den ganzen Tag herumreiten und die Aussicht genießen.«

Sie lächelte, aber Web nahm wahr, dass sie es ernst meinte. Er fragte sich, warum eine Frau wie Gwen Canfield, bei allem, was sie durchgemacht hatte, von irgendjemandem Zustimmung suchte, besonders von einem Fremden wie ihm. »Ich glaube, Sie beide haben eine Menge durchgemacht, hart gearbeitet und genießen jetzt die Früchte dieser Arbeit. Das nennt man wohl den amerikanischen Traum, oder?«

»Ich denke schon«, antwortete sie ohne große Überzeugung. Sie sah zur Sonne am Himmel. »Es ist heiß heute.« Web spürte, dass die Frau mit ihm über etwas sprechen wollte, aber nicht genau wusste, wie sie das Thema anschneiden sollte.

»Ich bin schon so lange FBI-Agent, Gwen. Ich habe schon so ziemlich alles gehört und bin ein sehr guter Zuhörer.«

Sie warf ihm einen Blick zu. »Ich schütte mein Herz nicht mal Leuten aus, die ich gut kenne, Web, zumindest nicht mehr.«

»Ich bitte Sie nicht darum. Aber wenn Sie jemanden zum Zuhören brauchen, stehe ich zur Verfügung.«

Sie ritten noch weiter, dann hielt sie an. »Ich habe über den Prozess in Richmond nachgedacht. Diese schrecklichen Leute haben sogar das FBI verklagt, nicht wahr?«

»Sie haben es versucht, aber die Klage wurde abgewiesen. Der Rechtsanwalt, Scott Wingo, der neulich umgebracht wurde, hat versucht, während Ernest Frees Prozess einen Vorteil daraus zu ziehen, aber der Richter hat ihn sofort durchschaut und der Sache ein Ende gemacht. Der Versuch hat in den Augen der Geschworenen jedoch so viel Zweifel hervorgerufen, dass der Ankläger kalte Füße bekam und sich mit dem Verteidiger auf ein milderes Strafmaß für ein Teilgeständnis einigte.« Er hielt inne. »Allerdings ist auch er jetzt tot«, fügte er dann hinzu, »genau wie der Richter.«

Gwen sah ihn mit ihren großen, traurigen Augen an. »Und doch lebt Ernest Free und ist frei, nach allem, was er getan hat.«

»Das Leben ergibt manchmal keinerlei Sinn, Gwen.«

»Bevor all das geschah, hatten Billy und ich ein wunderbares Leben. Ich liebe ihn sehr. Aber seit David ermordet wurde, ist es einfach nicht mehr dasselbe. Die Schuld liegt wohl eher bei mir als bei ihm. Es war meine Idee, David auf diese Schule zu schicken. Ich wollte, dass er eine erstklassige Ausbildung erhält, und ich wollte, dass er mit den verschiedensten Leuten in Kontakt kommt, mit Fremdsprachigen, Farbigen und Menschen anderer Volksgruppen. Billy ist ein guter Mann, aber er wurde in Richmond geboren und wuchs dort auf. Er war nicht reich oder privilegiert und wohnte in einer Gegend, in der man nur Leute von derselben Sorte zu Gesicht bekommt. Er ist kein Rassist oder so«, fügte sie schnell hinzu. »Die Hälfte der Fahrer und Ladearbeiter seiner Spedition war schwarz, und er hat sie alle gleich behandelt. Wenn man hart arbeitete, hatte man einen Job mit fairem Lohn. Ich habe ihn sogar begleitet, wenn er Fahrer zu Hause besucht hat, die vom Wagen gefallen sind. Er brachte den Familien Lebensmittel und Geld, beriet die Männer, besorgte ihnen professionelle Hilfe und bezahlte sie. Oder er ging mit ihnen zu Treffen der Anonymen Alkoholiker, damit sie wieder auf die Füße kamen. Auch wenn er sie hätte feuern können, selbst den Bestimmungen der Gewerkschaft zufolge, tat er es nicht. Er sagte mir einst, sein Schicksal auf Erden sei, Leuten eine zweite Chance zu geben, weil er selbst genug davon gehabt hatte. Ich weiß, dass manche Leute ihn und mich betrachten und unsere Gefühle füreinander nicht sehen können, aber ich weiß auch, dass er in guten wie in schlechten Zeiten zu mir steht, und davon haben wir beide mehr als genug gehabt.«

»He, Gwen, Sie müssen mich von nichts überzeugen. Aber haben Sie es mal mit professioneller Hilfe versucht, falls Sie Probleme haben? Ich kenne da jemanden.«

Sie bedachte Web mit einem hoffnungslosen Blick und schaute wieder zur heißen Sonne hinauf. »Ich gehe schwimmen«, sagte sie.

Sie ritten zurück zu den Stallungen, und Web fuhr Gwen in einem der alten Trucks der Farm zurück zum Haus. Sie zog ihren Badeanzug an und traf sich mit Web am Pool. Er sagte ihr, er würde nicht schwimmen, weil sonst seine Pistole nass würde.

Sie lächelte über die Bemerkung und ging zu einer Steinmauer neben dem Pool, in die ein Schalter eingelassen war. Sie drehte den Schlüssel, und die graue Abdeckplane des Pools glitt auf ihren Schienen zurück.

»Wir haben uns die Abdeckung angeschafft, weil wir immer wieder Schildkröten, Frösche und sogar Wasserschlangen im Pool gefunden haben«, erklärte sie.

Als die Abdeckung in ihren Behälter am Rand des Pools glitt, ging Web in die Hocke und betrachtete die Gegenschwimmanlage, die in das tiefe Ende des Pools eingebaut war. Er schaute gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Gwen aus den Sandalen und dem Bademantel schlüpfte. Sie trug einen Einteiler, der am Busen ziemlich tief und an den Schenkeln ziemlich hoch geschnitten war. Ihr Körper war gebräunt, und die Muskeln an ihren Ober- und Unterschenkeln passten zu jenen, die er bereits an ihren Armen und Schultern gesehen hatte. Vergiss die Fettverbrenner und Oberschenkelstraffer, dachte Web, Frauen sollten einfach nur Reiten gehen.

»Wie funktioniert dieses Ding?«, fragte er.

Gwen stopfte das lange Haar unter eine Badekappe und trat zu ihm hinüber. »Das Wasser wird aus dem Pool und durch die Düse gepumpt, die Sie da sehen Sie schießt das Wasser mit einem bestimmten Druck heraus. Es bietet also einen Widerstand, den man nach Bedarf stärker oder schwächer einstellen kann. Wir hatten eine Weile ein tragbares Gerät, aber das war sehr unhandlich. Und ich gehe so oft schwimmen, dass es sinnvoll zu sein schien, eins einbauen zu lassen. Der Pool ist beheizt, ich benutze ihn praktisch das ganze Jahr über.«

»Deshalb sind Sie wohl so toll in Form.«

»Vielen Dank. Sehr freundlich, der Herr. Wollen Sie wirklich nicht mit mir schwimmen?«

»Ich würde Sie wahrscheinlich nur bremsen.«

»Klar doch. Sie haben nicht ein Gramm Fett am Leib.« Sie ging zu einer Kontrolltafel, die in die Steinmauer zwischen dem Pool und dem Haus eingelassen war, öffnete den Kasten und drückte ein paar Knöpfe.

Web hörte, wie sich der Wasserdruck aufbaute, schaute dann in den Pool und sah, wie unterhalb der Wasseroberfläche aus der Düse weiß schäumendes Wasser schoss und die Strömung erzeugte, gegen die Gwen anschwimmen wollte.

Sie setzte eine Schwimmbrille auf und sprang hinein. Web beobachtete, wie sie wieder an die Oberfläche kam und zu kraulen begann. Er sah ihr etwa zehn Minuten lang zu. Die Frau veränderte ihre Geschwindigkeit oder die Schlagzahl kein einziges Mal. Sie kam ihm wie eine Maschine vor, und Web war tatsächlich froh, ihr Angebot abgelehnt zu haben. Alle HRT- Männer mussten schwimmen und mit einer Taucherausrüstung umgehen können, und Web war ein hervorragender Schwimmer, aber er war sich nicht sicher, ob er mit Gwen Canfield hätte mithalten können.

Nach ungefähr zwanzig Minuten versiegte das sprudelnde Wasser, und Gwen kam an den Rand des Pools.

»Fertig?«, fragte Web.

»Nein, ich hatte fünfundvierzig Minuten eingestellt. Die Sicherung muss rausgesprungen sein.«

»Wo ist der Sicherungskasten?«

Sie zeigte auf eine Doppeltür in einer Steinmauer, die an einem kleinen Hang errichtet worden war. »Im Poolgeräteraum.«

So wie das Gelände hier anstieg, vermutete Web, dass sich ein Teil des Raums unter der Erde befinden musste. Er ging hinüber und drehte den Türknauf. »Die Tür ist abgeschlossen.«

»Das ist seltsam, wir schließen nie ab.«

»Wissen Sie, wo der Schlüssel ist?«

»Nein. Wie ich schon sagte, wir schließen nie ab, ich dachte immer, es gäbe gar keinen Schlüssel. Dann muss ich mein Training wohl verkürzen.«

»Nein, das müssen Sie nicht.« Er lächelte. »Das FBI bietet den vollen Service, und ein zufriedener Kunde ist unser bester Kunde.« Er zog seinen Schlüsselring hervor, an dem er immer ein kleines, dünnes Stück Metall befestigt hatte, mit dem man in dreißig Sekunden 99 Prozent aller Schlösser dieser Welt knacken konnte. Den Poolgeräteraum öffnete er in der Hälfte dieser Zeit.

Er ging hinein, fand den Lichtschalter und knipste das Licht an. Was auch gut so war, denn selbst bei eingeschalteter Beleuchtung wäre er fast die kleine Treppe direkt hinter der Tür hinuntergestolpert. Tja, dachte er, der Wunschtraum eines jeden Anwalts. Der Raum war laut, Wasser lief und Maschinen klopften und pumpten. Er ging die Treppe hinunter und sah Regale mit allerlei Poolzubehör, große Kanister mit pulverisiertem Chlor, Abzieher, Schrubber, einen Tauchroboter für die Poolreinigung und allerhand Schrott, den wahrscheinlich seit Jahren niemand benutzt hatte. Es war kühl hier unten, und Web schätzte, dass er hier ungefähr drei Meter unter dem Erdboden sein musste, denn der Boden war weiter leicht abgefallen, nachdem er die Treppe heruntergegangen war.

Web fand den Sicherungskasten, und tatsächlich war eine Sicherung herausgesprungen. Da die Gegenschwimmanlage eine Neuanschaffung war, belastete sie den Stromkreis wohl zu stark. Die Canfields sollten die Anlage lieber nachsehen lassen, bevor sie hochging und ein Feuer entfachte. Er nahm sich vor, es Gwen zu sagen.

Als er die Sicherung wieder hineindrückte, hörte er, wie die Maschine wieder anlief. Es war wirklich ein ziemlicher Krach hier unten. Als er sich umdrehte, um wieder hinauszugehen, bemerkte er am Ende eines kleinen Gangs eine weitere Tür. Er drehte sich um, schaltete das Licht aus und ging hinaus.

Auf der anderen Seite der Tür war ein weiterer kurzer Gang mit einer weiteren Tür am Ende, denn es schien sich hier unten um einen ziemlichen Irrgarten zu handeln. Hinter dieser Tür hielt Kevin Westbrook den Atem an. Zuerst hatte er Schritte gehört, dann nicht mehr. Er hatte gehört, wie die verdammte Maschine ansprang, ausging und dann wieder ansprang. Und dieser Chlorgestank, denn er hatte ihn schon vor geraumer Weile erkannt und sich daran gewöhnt. Aber dass die Schritte sich entfernten, überraschte ihn. Wann immer jemand hier heruntergekommen war, waren sie zu ihm gekommen. Er fragte sich, warum es dieses Mal nicht so gewesen war.

 

KAPITEL 41

 

Während Gwen duschte, wartete Web in der Bibliothek. Eine Wand des Raumes bestand aus einem eingebauten Schrank mit einem Großbild-Fernsehgerät. Fünf Regale waren mit Videokassetten gefüllt, und Web ließ gedankenlos den Blick über sie schweifen, bis die handgeschriebenen Zahlen auf einer Kassette ihn erstarren ließen. Er griff nach der Kassette und nahm sie vom Regal. Die Zahlen, die er gesehen hatte, waren nur ein Datum, doch dieses Datum würde Web nie vergessen. Er sah sich um, aber es schien niemand in der Nähe zu sein.

Web schob die Kassette in den Videorekorder. Diese Szene hatte er im Geist immer wieder von neuem abgespielt. Die Schule in Richmond wurde von klugen, lernwilligen Kindern mit jeder Art von gesellschaftlichem Hintergrund besucht. Es war ziemlich symbolisch, hatten die Zeitungen damals geschrieben, dass die ehemalige Hauptstadt der Konföderation versuchte, mit einem kühnen Programm seine Schulen zu reintegrieren, nachdem die meisten Bundesgerichte sowie die meisten Staaten die Hände in die Luft gerissen und gesagt hatten, dass man die besten Schulen habe, die man haben könne. Nun, Richmond hatte versucht, mehr zu erreichen, und hatte auch Erfolg, der die Aufmerksamkeit der gesamten Nation auf seine Programme zog. Dann waren Ernest B. Free und weitere Mitglieder seiner Mordbande mit Schutzkleidung und genügend automatischen Waffen, um die gesamte Union zu besiegen, zur Eingangstür hereinspaziert.

Chaos war ausgebrochen, als zwei Lehrer niedergeschossen wurden und mehr als vierzig Geiseln, darunter dreißig Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren, gezwungen wurden, an einem Ereignis teilzunehmen, mit dem niemand von ihnen irgendetwas zu tun haben wollte. Die Unterhändler hatten ständig mit den

Männern innerhalb des Gebäudes in Kontakt gestanden und versucht, sie zu beruhigen und herauszufinden, was sie eigentlich wollten. Und die gesamte Zeit über standen Web und sein Charlie-Team bereit, gemeinsam mit Scharfschützen des Zulu-Teams, die auf jegliche Arten von Angriffen vorbereitet waren. Dann erklangen in der Schule Schüsse, und Web und seine Männer wurden an die Front beordert. Jeder hatte den Einsatzplan genau vor Augen, auch wenn er nur provisorisch auf dem Flug von Quantico hierher ausgearbeitet worden war. Web erinnerte sich, dass sie vor dem Angriffsbefehl so wenig Zeit gehabt hatten, dass er sogar über seine 45er gestrichen hatte, um sich Glück zu wünschen.

Bei dem Wenigen, das Web über die »Freien« wusste, war das auch bitter nötig. Die Leute waren gewalttätig, aber sehr diszipliniert und gut bewaffnet. Und sie hatten sich verschanzt und jede Menge Unschuldige in ihrer Gewalt.

Über ein Telefon hatten die »Freien« Kontakt mit den Unterhändlern aufgenommen. Auch wenn sie behaupteten, die Schüsse hätten sich versehentlich gelöst, gefiel Web die ganze Sache nicht. Er spürte, dass etwas Schlimmes bevorstand, denn Männer wie die »Freien« handelten nicht ohne Hintergedanken. Und doch musste das Charlie-Team den Einsatz abbrechen. Nach Waco hatte sich die Haltung des FBI bezüglich der Geiselrettung geändert. Im Prinzip wurde abgewartet und die Sache ausgesessen, und das FBI schien durchaus gewillt, auch bis zum nächsten Jahr zu warten, bevor es zur Tat schritt, so tief hatte sich das schreckliche Bild der toten Kinder von Texas eingebrannt. Aber nachdem die »Freien« die Verhandlungen abgebrochen hatten, wurde das HRT wieder auf den Plan gerufen, und diesmal wusste Web, dass sie reingehen würden.

Während die Fernsehkameras vor dem Gebäude die Weltöffentlichkeit über den Ablauf des Dramas im Bild hielten, hatten sich Web und sein Charlie-Team bis zu einem kleinen, selten benutzten Eingang auf der Rückseite des Gebäudes vorgearbeitet. Da sie die genaue Position der Geiseln und der »Freien« nicht kannten, hatten sie sich gegen eine Zündladung zum Öffnen der Tür entschlossen und sich für ein heimliches Vorgehen entschieden. Unbemerkt waren sie eingedrungen und arbeiteten sich jetzt den Korridor entlang zur Turnhalle, wo den Aufklärungsspezialisten zufolge die Geiseln vermutet wurden.

Das HRT war zu der Doppeltür geschlichen, und Web hatte durch das Türglas gespäht und methodisch Geiseln und Geiselnehmer gezählt. Alle schienen da zu sein. Kurz bevor er sich wieder duckte, hatte Web Blickkontakt zu einem Jungen aufgenommen. Er versuchte, ihn ruhig zu halten, damit er Web und seine Jungs nicht verraten würde, nicht einmal die Daumen hoch hielt. Zu diesem Zeitpunkt wusste Web nicht, dass es sich bei dem jungen Mann um David Canfield handelte.

Das HRT begann mit dem Countdown. Jeder Einsatzbeamte wusste genau, wohin er schießen musste, und sie waren zuversichtlich, sämtliche »Freien« ausschalten zu können, ohne dabei weitere Geiseln zu verlieren. Aber sie alle wussten auch ganz genau, dass sich der ganze Einsatz durch irgendeinen unvorhergesehen Zwischenfall sehr schnell zum Bösen wenden konnte.

Und so kam es auch.

In dem Augenblick, bevor sie den Raum stürmten, erklang ein lauter, sehr hoher Ton. Er hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Und bis heute wusste Web nicht, woher er gekommen war.

Das HRT drang schießend in den Raum ein, doch die »Freien« waren nun gewarnt und erwiderten augenblicklich das Feuer.

Und die Schüsse waren wohlplatziert. David Canfield wurde die linke Lunge durchschossen, und die Kugel trat aus seiner Brust aus. Er fiel zu Boden. Mit jedem Atemzug pumpte der Junge sein Blut aus dem großen Loch in seinem Körper. Obwohl es nur ein paar Sekunden gedauert haben konnte, starrte der Junge Web mit einem Blick an, als hätte er sein gesamtes Vertrauen in Web gesetzt und Web hätte ihn im Stich gelassen. Einem Blick, den er nie wieder vergessen würde.

Dann brach der eigentliche Kampf los, und Web musste David Canfield vergessen und sich auf die übrigen Geiseln und die Männer konzentrieren, die versuchten, ihn zu töten. Die Brandverletzung hatte er davongetragen, nachdem er Lou Patterson gerettet hatte, danach die Kugeln in Hals und Brust. Und danach war er zu einem Ein-Mann-Abrissunternehmen geworden, und keiner der »Freien« war auf den Beinen geblieben. Web konnte noch immer nicht glauben, dass Ernest Free tatsächlich irgendwie überlebt hatte.

Es war schrecklich, das alles noch einmal zu erleben, und doch beugte Web sich unwillkürlich vor, als die Kameras ihn erneut einfingen. Man brachte ihn auf einer Trage raus, umringt von Sanitätern. Links von ihm war Lou Patterson. Rechts lag ein Tuch über einer Leiche. David Canfield war die einzige Geisel gewesen, die während des Einsatzes des HRT das Leben verloren hatte. Web betrachtete sich weiterhin im Fernsehgerät, während die Kameras zwischen ihm hin und her schwenkten, wie er um sein Leben rang, und dem leblosen Körper von David. Das Licht einer Fernsehkamera beschien den Jungen weiterhin, bis es tatsächlich jemand ausschaltete. Web hatte sich oft gefragt, wer das wohl getan hatte. Dann wurde der Bildschirm schwarz.

»Ich habe das Kameralicht ausgeschaltet.«

Web wirbelte herum und sah Billy Canfield dort stehen. Er starrte auf den Fernsehschirm und schien Webs Gedanken gelesen zu haben. Zögernden Schrittes trat er vorwärts, den Finger auf den Schirm gerichtet.

Web erhob sich von der Couch. »Um Gottes willen, Billy, es tut mir Leid. Ich hätte nicht... «

»Verstehen Sie«, fuhr Billy fort, »dieses verdammte Licht leuchtete genau auf meinen Jungen. Das hätten sie nicht tun dürfen.« Schließlich sah er Web an. »Das hätten sie nicht tun dürfen, es war nicht richtig. Mein kleiner Davy reagierte auf helle Lichter immer empfindlich.«

In diesem Augenblick kam Gwen herein, gekleidet in Jeans und eine rosa Bluse, die Füße nackt und das Haar noch nass. Web sah sie entschuldigend an, und sie begriff sofort, was passiert war. Sie nahm ihren Ehemann am Arm, doch er riss sich sofort von ihr los. Web machte in seinen Augen etwas aus, das Hass nahe kam.

»Warum setzt ihr beide euch nicht hierher und seht es euch an?«, schrie er Gwen an. »Zum Teufel mit dir! Ich weiß es. Glaub ja nicht, ich wüsste es nicht.«

Steifbeinig verließ er den Raum, während Gwen, ohne Web auch nur anzusehen, in die entgegengesetzte Richtung floh.

Web kam sich unglaublich schuldig vor, als er die Kassette herausnahm, um sie ins Regal zu stellen. Dann hielt er inne. Er sah zur Tür, steckte die Kassette in seine Jackentasche und ging zum Kutschenhaus zurück. Dort schob er das Band in den Videorekorder und schaltete das Fernsehgerät ein. Er sah sich das Band noch fünfmal an, und jedes Mal gab es etwas, worauf er sich einfach keinen Reim machen konnte, ein Geräusch im Hintergrund. Er drehte die Lautstärke hoch und trat ganz nah vor den Bildschirm, doch das funktionierte auch nicht. Schließlich rief er Bates an und erklärte ihm, was er vermutete »Ich habe das Band hier«, sagte er.

»Ich weiß, von welcher Aufnahme Sie sprechen«, sagte Bates. »Sie wurde von einer Nachrichtenagentur in Richmond gemacht. Wir haben eine im Archiv. Die Jungs sollen sie sich mal genau ansehen.«

Web schaltete das Fernsehgerät aus und nahm die Kassette aus dem Rekorder. Später hatte man herausgefunden, dass zwei schwarze Teenager von den »Freien« vergewaltigt worden waren. Offensichtlich hatte ihr Hass auf Farbige sie nicht davon abgehalten, dennoch Sex mit ihnen zu haben.

Aber was hatte Billy gemeint, als er zu Gwen sagte, er wisse Bescheid? Was wusste er?

Sein klingelndes Handy unterbrach Webs Gedanken. Als er das Gespräch annahm, hörte er am anderen Ende eine beinahe hysterische Frau.

»Claire, was ist los?«

Er hörte ihrer verängstigten Stimme zu und sagte dann: »Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich komme, so schnell ich kann.« Er legte auf, rief Romano an, informierte ihn und war nach ein paar Minuten auf der Hauptstraße.

 

KAPITEL 42

 

Claire hatte sich an einen sehr sicheren und öffentlichen Ort begeben, in ein Polizeirevier in einem Einkaufszentrum am Stadtrand. Als Web eintraf, sagte sie ihm, dass sie keine Anzeige erstattet hatte.

»Verdammt, warum nicht?«

»Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen.«

»Claire, so wie Sie es beschreiben, hört es sich nach meinem Freund Francis Westbrook und einem seiner Kumpane an, wahrscheinlich Clyde Macy. Als ich sie das letzte Mal sah, ist jemand gestorben. Sie wissen gar nicht, was für ein Glück Sie hatten.«

»Aber ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass sie es waren. Ich trug eine Augenbinde.«

»Aber Sie würden ihre Stimmen erkennen?«

»Wahrscheinlich.« Sie schaute verwirrt drein.

»Was ist los, Claire, was beschäftigt Sie?«

»Dieser Francis... wie gebildet ist er wohl?«

»Was die Straßenweisheit betrifft, ist er ein Professor. Was Bücher betrifft... nada. Warum?«

»Der Mann, der mich bedrohte, hat ganz seltsam gesprochen. Er wechselte zwischen Slang und Ghettosprache und der Diktion und dem Vokabular eines gebildeten Menschen. Ich spürte, dass er sich bei dem, was er sagte nicht wohl fühlte. Es hörte sich manchmal gezwungen an, als müsse er die ganze Zeit über nach passenden Worten suchen und seine natürliche Sprache unterdrücken. Aber dabei machte er gelegentlich Fehler und benutzte Worte, die... Sie wissen schon...«

»Die eher der Person entsprachen, die er verkörpern wollte?«

»Verkörpern, genau.«

Web atmete tief ein. Jetzt wurde es interessant. Er dachte an einen Stellvertreter, der seinen Boss abziehen oder das Messer noch ein wenig tiefer bohren wollte, je nachdem, wie man es betrachtete. Antoine Peebles, der Möchtegern-Drogenwolf im Schafspelz. Er sah sie mit neuer Bewunderung an. »Sie haben da ein Paar gute Ohren, Claire. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Sie immer auf versteckte Hinweise von uns armen Leuten warten, die nicht ganz richtig im Kopf sind.«

»Ich habe Angst, Web. Ich hab wirklich Angst. Jahrelang hab ich Patienten beraten, ihnen gesagt, sie sollten dem, was ihnen Angst macht, ins Auge sehen, agieren statt reagieren. Und jetzt passiert es mir, und ich bin wie gelähmt.«

Er ertappte sich, dass er schützend den Arm um sie legte, als er sie zu seinem Wagen führte. »Sie haben gute Gründe, Angst zu haben. Was Ihnen widerfahren ist, würde den meisten Leuten Angst machen.«

»Aber nicht Ihnen.« Ihm fiel auf, dass sie fast neidisch klang.

»Es ist nicht so, dass ich keine Angst hätte«, sagte er, als sie in den Wagen stiegen. »Ganz im Gegenteil.«

»Dann zeigen Sie es zumindest nicht.«

»Doch, das tue ich, nur auf eine andere Weise.« Er schloss die Wagentür und dachte kurz nach. Dann nahm er ihre Hand. »Mit seiner Angst kann man auf zwei unterschiedliche Arten umgehen. Man kann sich wie eine Muschel verschließen und sich vor der Welt verstecken, oder man kann etwas dagegen unternehmen.«

»Jetzt hören Sie sich schon wie der Psychiater an«, sagte sie müde.

»Tja, ich hatte eine gute Lehrmeisterin.« Er drückte ihre Hand. »Was meinen Sie, wollen Sie mir helfen, der Sache auf den Grund zu gehen?«

»Ich vertraue Ihnen, Web.«

Das überraschte ihn, vor allem, weil er etwas ganz anderes gefragt hatte.

Er legte den Gang ein. »Tja, mal sehen, ob wir einen kleinen Jungen namens Kevin finden können.«

Web parkte in der Gasse hinter dem Zweifamilienhaus, in dem Kevin gewohnt hatte, und er und Claire gingen zur Hintertür, nur für den Fall, dass der Vordereingang bewacht wurde, zum Beispiel von Bates Leuten. Er wollte mit dem FBI jetzt auf keinen Fall in Konflikt geraten. Web klopfte.

»Ja, wer ist da?« Es war die Stimme eines Mannes, die alles andere als freundlich klang.

»Jerome, sind Sie das?« Web konnte spüren, dass jemand direkt hinter der Tür stand.

»Wer will das wissen?«

»Web London, FBI. Wie geht's Ihnen denn so, Jerome?«

Web und Claire vernahmen ein lautes und deutliches »Scheiße«, aber die Tür wurde nicht geöffnet.

»Jerome, ich bin noch hier, und ich bleibe, bis Sie die Tür öffnen. Und versuchen Sie ja nicht, wie beim letzten Mal vorn rauszulaufen. Wir lassen das Haus bewachen.«

Er hörte, wie Ketten zurückgezogen wurden und Schlösser aufsprangen, dann stand er Jerome gegenüber. Überrascht sah er, dass Jerome neben seiner verdrossenen Miene ein weißes Oberhemd, Hosen mit Bügelfalte und eine Krawatte trug.

»Haben Sie 'ne Verabredung?«

»Mann, Sie sind echt witzig für einen vom FBI. Was wollen Sie?«

»Nur reden. Sind Sie allein?«

Jerome trat einen Schritt zurück. »Nicht mehr. Hören Sie, wir

haben Ihnen alles gesagt, was wir wissen. Mann, können Sie nicht aufhören, uns den Nerv zu töten?«

Web schob Claire ins Haus, folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Sie sahen sich in der kleinen Küche um. »Wir versuchen nur, Kevin zu finden. Das wollen Sie doch auch, oder?«, sagte Web.

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass ich niemandem traue. Ich will nur reden, das ist alles.«

»Hören Sie, ich habe zu tun. Wenn Sie mit jemandem reden wollen, können Sie mit meinem Anwalt sprechen.« Er sah Claire an. »Wer ist denn die, Ihre Verabredung?«

»Nein, das ist meine Seelenklempnerin.«

»Ha, der Witz ist gut.«

»Nein, Jerome, das stimmt«, sagte Claire und trat einen Schritt vor. »Und ich glaube, Mr London hat ein paar Probleme.«

»Was haben seine Probleme mit mir zu tun?«

»Er hat so viel Zeit in diesen Fall investiert, dass ich befürchte, er könnte davon allmählich besessen werden. Solch eine Besessenheit kann gefährliche, manchmal sogar gewalttätige Dimensionen annehmen, wenn man sich nicht rechtzeitig mit ihr befasst.«

Jerome schaute zu Web hinüber und trat einen Schritt zurück. »Wenn dieser Mann verrückt ist, habe ich nichts damit zu tun. Er war schon verrückt, als er das erste Mal hier auftauchte.«

»Aber Sie wollen doch nicht, dass jemandem etwas passiert, zum Beispiel Ihnen oder anderen. Mr London versucht nur, die Wahrheit herauszufinden. Und meiner professionellen Meinung zufolge ist es für jemanden mit seinen ganz besonderen Problemen sehr wichtig, die Wahrheit herauszufinden. Denen, die ihm dabei helfen, wird er, psychologisch gesprochen, sehr dankbar sein. Die Kehrseite der Medaille hingegen wollen Sie bestimmt nicht kennen lernen.« Sie sah Web mit einer Mischung aus Mitgefühl und genau der richtigen Spur Angst an. »Ich habe schon einmal gesehen, was bei Mr London dabei herauskommen kann. Das ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin. Um eine weitere Tragödie zu verhindern.«

Web musste die Arbeit dieser Frau einfach bewundern.

Jerome sah von Claire zu Web und wieder zu Claire zurück. »Hören Sie«, sagte er dann mit viel ruhigerem Tonfall, »ich hab Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Wirklich.«

»Nein, Jerome, das haben Sie nicht«, sagte Web mit fester Stimme. »Ich will Dinge über Kevin wissen, über die Sie vielleicht noch nie nachgedacht haben. Und jetzt hören wir mit diesem Scheiß auf und kommen zur Sache.«

Jerome bedeutete ihnen ihm zu folgen, drehte sich um und ging durch den Flur in das kleine Wohnzimmer, in dem Web auch beim ersten Mal mit ihnen gesprochen hatte. Als er die Küche verließ, fiel Web auf, dass sie sehr sauber war, die Spüle makellos, der Boden gewischt. Als er und Claire dem Mann folgten, sah er, dass der Müll aufgesammelt, die Böden geputzt und die Wände abgeschrubbt worden waren. Überall roch es nach Desinfektionslösung. Neben dem Bad lehnte eine Tür an der Wand. Die Löcher in der Decke waren zugeschmiert und verputzt worden. Omas Werk, dachte Web, aber nur so lange, bis Jerome einen Besen nahm und einen Haufen Abfall in einen großen Müllsack fegte.

Web sah sich in dem »neuen« Haus um. »Haben Sie das getan?«

»Wir müssen doch nicht in einem Schweinestall wohnen.«

»Wo ist Ihre Großmutter?«

»Auf der Arbeit. Drüben im Krankenhaus. In der Cafeteria.«

»Wie kommt's, dass Sie nicht arbeiten müssen?«

»Ich fang in 'ner Stunde an, hoffentlich halten Sie mich nicht so lange auf.«

»Sie sehen viel zu gut aus, um eine Bank auszurauben.«

»Mann, Sie sind echt irre.«

 

»Also, wo arbeiten Sie denn?« Du hast gar keinen Job, Jerome, gib's doch einfach zu.

 

Jerome hatte den Müllsack gefüllt, band ihn zu und warf ihn Web zu. »Bringen Sie den bitte mal raus?«

Claire hielt ihm die Tür auf, und Web stellte den Sack neben eine ganze Menge weiterer auf die kleine Veranda vor dem Haus. Als er die Tür schloss, hatte Jerome einen Werkzeugkasten aus einem Schrank geholt. Er nahm einen Schraubenzieher, eine Zange und einen Hammer heraus, legte die Werkzeuge neben die Türöffnung vom Bad und ergriff die Tür.

»Helfen Sie mir mal, Mann.«

Web half ihm, die Tür zur Öffnung zu tragen, und hielt sie dann fest, während Jerome die schiefen Scharniere in die richtige Position brachte und mit der Zange die Türstifte herauszog. Sie hoben die Tür an und schoben sie an Ort und Stelle, und Jerome schlug die Scharniere mit dem Hammer ein. Dann machte er die Tür noch ein paar Mal auf und zu, um zu sehen, ob sie einwandfrei ausgerichtet war.

»Sie sind ja ein richtiger Handwerker. Aber das ist wohl kaum Ihr Job. Oder tragen Schreiner jetzt Krawatten bei der Arbeit?«

Jerome verstaute die Werkzeuge. »Ich arbeite nachts in einer Firma, warte deren Computersysteme. Hab den Job erst seit 'n paar Monaten.«

»Dann kennen Sie sich also mit Computern aus?«, fragte Claire.

»Hab 'n Kurs als Programmierer an der Volkshochschule gemacht. Ja, mit Computern kann ich umgehen.«

Web war nicht beeindruckt. »Soso, Sie kennen sich also mit Computern aus?«

»Hören Sie schlecht? Das hab ich doch gerade gesagt.«

»Als ich das letzte Mal hier war, schienen Sie nicht erwerbstätig zu sein.«

»Wie ich schon sagte, ich arbeite nachts.«

»Genau.«

Jerome starrte Web an, ging dann zur Couch und holte ein Notebook darunter hervor. Er öffnete es und schaltete es ein.

»Sind Sie online, Mann?«, fragte Jerome.

»Meinen Sie mit Onlinern, oder was?«

»Haha. Computer, Internet. Sie wissen doch, was das ist, oder?«

»Nein, ich bin in den letzten zehn Jahre durch die Galaxis gereist, ich hinke etwas hinterher.«

Jerome drückte ein paar Tasten, und schon ertönte das »Sie haben Post« von AOL.

»Augenblick mal, wie kommen Sie ins Internet, ohne ein Telefon zu benutzen?«, fragte Web.

»Mein Computer hat drahtlose Technologie, eine spezielle Karte, die eine Funkverbindung herstellt. Wie ein eingebautes Handy.« Er lächelte Web an und schüttelte offensichtlich erstaunt den Kopf. »Mann, hoffentlich kennen sich die meisten FBI-Agenten mit Computern besser aus als Sie.«

»Treiben Sie es nicht auf die Spitze, Jerome.«

»Wissen Sie, was ein Cookie ist?«

»Ein süßes Ding, von dem man klebrige Finger kriegt.«

»Sie hören wohl nie auf, was? Ein Cookie ist eine einfache Textinformation. Eine HTTP-Zeile mit einem Textanhang. Der Anhang hat die Domain, den Pfad, die Wertevariablen der Website und eine bestimmte Lebensdauer. Viele Firmen nutzen

Cookies, um Informationen zu personalisieren, um beliebte Links zurückzuverfolgen oder für demographische Untersuchungen. Es hält den Inhalt einer Seite für die Nutzer frisch und interessant. Hier zum Beispiel.« Er drückte wieder ein paar Tasten, und der Bildschirm veränderte sich. »Ich war in letzter Zeit oft auf dieser Seite, und sie weiß das. Sie zeigt mir also nicht immer wieder dasselbe Zeug, es sei denn, ich frage ausdrücklich danach. Die fangen jetzt auch damit an, Cookies für Interaktionen zu nutzen, zum Beispiel, persönliche Daten zu speichern, die der Nutzer eingegeben hat, Passwörter und so weiter.«

»Persönliche Daten speichern. Das klingt nach Big Brother«, sagte Claire.

»Nun, kann schon sein, aber Cookies sind reiner Text, keine Programme, sie sind nicht für Viren empfänglich. Sie können noch nicht mal Zugriff auf Ihre Festplatte nehmen, auch wenn Ihr Browser Cookiedaten bei Bedarf speichern kann, aber das ist es dann auch schon. Manche Leute glauben, Cookies würden ihre Festplatten voll schreiben, aber das ist so ziemlich unmöglich. Die meisten Provider begrenzen die Zahl der Cookies. Netscape zum Beispiel auf dreihundert. Wenn man diese Anzahl erreicht, werden ältere automatisch gelöscht. Microsoft stellt dafür maximal zwei Prozent des Speicherplatzes zur Verfügung. Und Cookies sind normalerweise so klein, dass man ungefähr zehn Millionen davon brauchte, um ein Gigabyte an Speicher zu belegen. Ich schreibe an einem Programm, das Cookies auf eine neue Ebene führen wird. Ich nehme die schlechten Sachen raus und mache sie viel besser nutzbar. Und vielleicht werde ich damit ein paar Millionen Mäuse machen.« Er grinste. »Der ultimative Cookie.«

Er schaltete den Computer aus und sah Web an. »Noch Fragen?«

Die Anerkennung auf Webs Gesicht war unverkennbar. »Okay, Sie haben mich überzeugt. Sie kennen sich mit

Computern aus.«

»Ja, ich habe mir in der Schule den Arsch aufgerissen, um endlich einen Job zu bekommen, bei dem ich kein Haarnetz tragen muss, und die netten Leute vom Sozialamt sagen uns, dass wir zu viel verdienen und aus dem Haus ziehen müssen, in dem wir in den letzten fünf Jahren gewohnt haben.«

»Das System ist mies.«

»Nein, Leute, die nie darauf angewiesen waren, finden es mies. Die darauf angewiesen sind, hätten sonst kein Dach über dem Kopf. Aber es stinkt mir trotzdem ganz gewaltig, dass ich jetzt etwas mehr verdiene als bei dem verdammten Burger King und wir einfach rausgeschmissen werden. Mein Arbeitgeber hat mir ja nun nicht gerade ein dickes Aktienpaket geschenkt.«

»Es ist immerhin ein Anfang, Jerome. Und besser als das hier, und das wissen Sie.«

»Ich werde mich weiter hocharbeiten. Mir den Arsch aufreißen, und dann sind wir hier raus und müssen nie wieder zurück.«

»Sie und ihre Großmutter?«

»Sie hat mich aufgenommen, als meine Mama starb. Hirntumor und keine Krankenversicherung, das ist wirklich keine gute Kombination. Mein Dad hat sich eine 45er in den Mund gesteckt, als er von irgendwas high war. Sie haben verdammt Recht, ich werd mich jetzt um sie kümmern, so wie sie sich um mich gekümmert hat.«

»Und Kevin?«

»Um Kevin kümmer ich mich auch.« Er starrte Web finster an. »Wenn ihr ihn findet.«

»Wir geben unser Bestes. Ich weiß ein wenig über seine Familie. Seine Beziehung zu Big... ich meine, Francis.«

»Er ist Kevins Vater. Na und?«

»Ein wenig mehr als das. Ich habe mich mit Francis eingehend unterhalten. Zu eingehend, um ehrlich zu sein.« Web zeigte auf die noch sichtbaren Verletzungen in seinem Gesicht, die der Mann ihm zugefügt hatte.

Jerome sah ihn neugierig an. »Da haben Sie aber Glück gehabt, dass Sie so glimpflich davongekommen sind.«

»Ja, das Gefühl habe ich allmählich auch. Er erzählte mir, wie Kevin auf diese Welt kam. Mit seiner Mutter und alledem.«

»Stiefmutter.«

»Was?«

»Sie war Francis' Stiefmutter. Sie war meistens völlig weggetreten. Keine Ahnung, was mit seiner richtigen Mutter passiert ist.«

Web atmete erleichtert auf. Es war also kein Inzest. Er sah Claire an. »Sie sind also eigentlich keine Brüder«, sagte sie. »Sie sind Vater und Sohn. Weiß Kevin das?«

»Ich hab's ihm nie erzählt.«

»Aber er glaubt, Francis sei sein Bruder? Wollte Francis das so?«, fragte Claire, während Web sie genau beobachtete.

»Was Francis will, das kriegt er auch. Beantwortet das Ihre Frage?«

»Warum sollte Francis wollen, dass Kevin ihn für seinen Bruder hält?«

»Vielleicht wollte er nicht, dass Kevin erfuhr, dass er seine Stiefmutter vögelte. Sie hieß Roxy. Sie machte viel mit Drogen und so rum, aber sie war gut zu Kevin, bis sie starb.«

»Wie wurde Kevin angeschossen?«, fragte Web.

»Er war mit Francis unterwegs, und sie gerieten in eine Bandenschießerei. Francis brachte ihn hierher; es war das einzige Mal, dass ich diesen Mann hab weinen sehen. Ich brachte ihn ins Krankenhaus, die Cops hätten Francis von der Straße weg verhaftet, wenn er ihn gebracht hätte. Kevin hat nicht geweint, kein einziges Mal, und er blutete wie ein abgestochenes Schwein. Aber danach ist er nie wieder der Alte geworden. Die anderen Kinder hänseln ihn, sagen, er sei behindert.«

»Kinder können grausam sein, und dann werden sie erwachsen und noch viel grausamer. Sie gehen dann nur viel raffinierter vor«, bemerkte Claire.

»Kevin ist nicht blöd. Er ist sogar ziemlich clever. Und er kann zeichnen, Mann. Sie halten es nicht für möglich, wie er zeichnen kann.«

Claire schaute interessiert auf. »Können Sie mir etwas zeigen?«

Jerome sah auf die Uhr. »Ich darf nicht zu spät zur Arbeit kommen. Und ich muss den Bus nehmen.«

»Zu Ihrem großen Cookie-Laden?«, fragte Web.

Zum ersten Mal tauschten Jerome und Web ein Lächeln aus. »Ich sag Ihnen was, Jerome. Sie zeigen uns Kevins Bilder und erzählen uns noch etwas, und dann fahre ich Sie persönlich zur Arbeit, und zwar in einem Wagen, der Ihre Freunde vor Neid erblassen lässt. Was halten Sie davon?«

Jerome führte sie nach oben und einen kurzen Flur entlang in ein sehr kleines Zimmer. Als er das Licht einschaltete, sahen Web und Claire sich erstaunt um. Jeder Quadratzentimeter der Wände und sogar die Decke waren mit Zeichnungen auf Papier bedeckt, einige in Kohle, andere mit Buntstift gemalt, wieder andere in Tusche und Feder. Und auf einem kleinen Tisch neben einer Matratze auf dem Boden lagen stapelweise Skizzenblöcke. Claire nahm eins hoch und blätterte es durch, während Web weiterhin die Bilder an den Wänden und der Decke betrachtete. Einige zeigten Dinge, die Web erkannte, Landschaften und Menschen. Jerome und seine Großmutter wurden erstaunlich detailliert dargestellt. Andere Zeichnungen waren eher abstrakt, und Web wurde nicht recht schlau aus ihnen.

Claire sah von dem Skizzenblock auf. Ihr Blick schweifte durch den Raum, bevor er sich dann auf Jerome senkte. »Ich kenne mich ein wenig mit Kunst aus, Jerome; meine Tochter studiert Kunstgeschichte. Der Junge hat wirklich Talent.«

Jerome sah für Web wie der stolze Vater aus. »Kevin meint, so sieht er die Dinge manchmal. >Ich male nur, was ich sehec, sagt er.«

Web betrachtete die Stifte und die Skizzenblöcke auf dem Tisch. In der Ecke stand eine kleine Staffelei mit einem schwarzen Tuch darüber.

»Das Zeug kostet doch Geld. Zahlt ihm das Francis?«

»Ich kaufe Kevin seinen Künstlerbedarf. Er bringt Kevin andere Sachen mit: Kleidung, Schuhe, was halt so nötig ist.«

»Hat er jemals angeboten, Ihnen und Ihrer Großmutter zu helfen?«

»Hat er. Aber dieses Geld nehmen wir nicht. Wir wissen, woher es kommt. Bei Kevin ist das was anderes. Er ist sein Daddy. Ein Vater hat das Recht, für seinen Sohn zu sorgen.«

»Kommt Daddy oft vorbei?«

Jerome zuckte mit den Achseln. »Wann immer er will.«

»Glauben Sie, dass er vielleicht Kevin hat? Seien Sie ganz offen zu mir!«

Jerome schüttelte den Kopf. »Auch wenn ich Francis nicht besonders mag: Wenn Sie mich fragen, er würde sich eher den Kopf abschneiden, bevor er zulässt, dass dem Jungen was zustößt. Ich meine, er würde Sie mal eben so umlegen, nur weil Sie ihn falsch angeguckt haben. Aber bei Kevin war er immer sanft. Ein sanfter Riese, könnte man sagen. Er wollte nicht, dass Kevin bei ihm lebt, weil es zu gefährlich wär.«

»Es muss für Francis ein großes Opfer gewesen sein, jemanden aufzugeben, den er dermaßen liebt. Aber das ist wohl der wahre Beweis seiner Liebe... ein Opfer zu bringen«, sagte Web.

»Tja, der Mann muss ständig woanders schlafen, da jede Menge Leute ihn umbringen wollen. Ein höllisches Leben. Aber er hatte Leute, die auf Kevin aufpassten, die darauf achteten, dass niemand über ihn an Francis rankam. Es war nicht so, als hätten alle von der Verbindung gewusst, aber er ging kein Risiko ein.«

»Haben Sie ihn gesehen, seit Kevin verschwunden ist?«

Jerome schreckte vor der Frage zurück und steckte die Hände in die Taschen, und Web spürte sofort, dass sich die Mauer zwischen ihnen wieder aufbaute.

»Ich habe nicht vor, Sie in Schwierigkeiten zu bringen, Jerome. Sagen Sie es mir einfach, und ich verspreche Ihnen, ich werde es für mich behalten. Sie machen das hervorragend, bleiben Sie am Ball.«

Jerome schien darüber nachzudenken. Mit einer Hand spielte er mit seiner Krawatte, als fragte er sich, was dieses Ding um seinen Hals da sollte.

»In der Nacht, als Kevin nicht nach Hause kam. Es war spät, vielleicht drei Uhr morgens. Ich war gerade von der Arbeit gekommen, und Granny war auf und völlig durcheinander. Sie sagte mir, Kevin sei verschwunden. Ich zog mich oben um, um Kevin dann zu suchen, und fragte mich, ob wir die Cops rufen sollten. Ich hörte, wie Granny unten mit jemandem sprach. Vielmehr sprach er - schrie sie besser gesagt an. Es war Francis. Er war so wütend, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.«

Er hielt inne, und einen Moment lang sah es so aus, als wolle er doch nichts mehr sagen. »Er hat auch nach Kevin gesucht. Er war sicher, Granny hätte ihn irgendwo versteckt, zumindest hat er das wohl gehofft. So wie er redete, dachte ich, er würde gleich auf Granny losgehen. Ich wäre fast nach unten gegangen. He, ich bin bestimmt nicht feige, aber ich bin auch nicht blöd. Verdammt, der Typ hätte wahrscheinlich keine Sekunde gebraucht, um mir den Schädel einzuschlagen. Aber ich lass

nicht zu, dass er oder irgendwer sonst einfach hier reinkommt und Granny wehtut, ohne was dagegen zu unternehmen. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe, Jerome.«

»Francis beruhigte sich dann irgendwann wieder, kapierte, dass Kevin nicht hier war. Dann ging er. Da haben wir ihn zum letzten Mal gesehen. Das ist die Wahrheit.«

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie es mir gesagt haben. Ist im Augenblick wohl schwierig, irgendwem zu trauen.«

Jerome musterte Web von oben bis unten. »Sie haben Kevin das Leben gerettet, das will schon was heißen.«

Web sah ihn argwöhnisch an.

»Ich lese Zeitung, Mr Web London vom Geiselrettungsteam. Ohne Sie wäre Kevin jetzt tot. Vielleicht hat Francis Sie deshalb am Leben gelassen.«

»So habe ich darüber noch nie nachgedacht.«

Web sah wieder zu dem Stapel Skizzenblöcke. »Haben Sie den anderen Agenten, die hier waren, etwas davon erzählt?«

»Die haben nicht danach gefragt.«

»Was ist mit Kevins Zimmer? Haben sie es durchsucht?«

»Ein paar von ihnen haben sich umgeschaut, hat aber nicht lange gedauert.«

Web sah Claire an, und sie schienen gegenseitig ihre Gedanken lesen zu können. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir diese Skizzenblöcke ausleihe?«, fragte sie. »Ich würde sie gern meiner Tochter zeigen.«

Jerome betrachtete die Blöcke und dann Web. »Sie müssen versprechen, dass Sie sie zurückbringen. Das da ist Kevins ganzes Leben.«

»Versprochen. Und ich verspreche, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um auch Kevin zurückzubringen.« Er

sammelte die Skizzenblöcke ein und legte dann eine Hand auf Jeromes Schulter. »Zeit, zur Arbeit zu gehen. Sie werden sehen, meine Taxigebühren halten sich im Rahmen.«

Als sie nach unten gingen, hatte Web eine weitere Frage. »Kevin war mitten in der Nacht allein in dieser Gasse. Kam so was öfter vor?«

Jerome wandte den Blick ab und sagte nichts.

»Kommen Sie schon, Jerome, rücken Sie schon raus damit.«

»Verdammt, Kevin wollte uns helfen, Sie wissen schon, Geld verdienen, damit wir hier wegziehen können. Es belastete ihn, dass er nie viel dazu beitragen konnte. Er war nur ein Kind, aber manchmal dachte er wie ein Erwachsener.«

»Wenn man in einer bestimmten Umgebung aufwächst, bleibt das wohl nicht aus.«

»Also, Kevin trieb sich manchmal auf der Straße rum. Granny war zu alt, um mithalten zu können. Keine Ahnung, mit wem er da herumhing, und wann immer ich ihn da draußen erwischt habe, hab ich ihn nach Hause geschleift. Vielleicht hat er versucht, sich nebenbei was zu verdienen. Und hier in dieser Gegend kann man Geld machen, egal wie alt man ist, verstehen Sie?«

Sie setzten Jerome bei seiner Arbeitsstätte ab und fuhren zurück zu Claires Haus. »Sie haben sich übrigens wie ein Profi verhalten«, sagte er.

»Das war wohl eher eine geistige als eine körperliche Sache, und das ist nun mal mein Metier.« Sie warf Web einen Blick zu. »Sie sind ganz schön hart mit Jerome umgesprungen.«

»Wahrscheinlich, weil ich schon eine Million solcher Typen gesehen habe.«

»Alle in einen Topf zu werfen ist gefährlich, Web, ganz zu schweigen davon, dass Sie dem Einzelnen gegenüber unfair sind Sie können immer nur einen Jerome gleichzeitig kennen. Und ich habe gemerkt, dass dieser Jerome Ihre Vorurteile ganz schön ins Wanken gebracht hat.«

»Das ist wahr«, gestand Web ein. »Wenn man meinen Job schon so lange gemacht hat, ist es wohl einfacher zu glauben, alle wären Verbrecher.«

»So wie Väter?«

Web antwortete nicht darauf.

»Traurige Sache, das mit Francis und Kevin«, sagte Claire. »Jerome zufolge muss er seinen Sohn sehr lieb haben. Und dann muss er solch ein Leben führen.«

»Ich bezweifle nicht, dass der große Bursche Kevin liebt. Aber ich habe auch gesehen, wie er kaltblütig einen Mann getötet hat, der direkt vor ihm stand«, erwiderte Web fest. »Und er hat mich zweimal zusammengeschlagen. Meine Sympathie für ihn hält sich in Grenzen.«

»Das Umfeld eines Menschen bestimmt auch, welche Wahl er hat, Web.«

»Das kann ich zum Teil akzeptieren, aber ich habe zu viele Leute aus noch schlechteren Verhältnissen gesehen, die es einfach klasse hinbekommen haben.«

»Vielleicht Sie selbst eingeschlossen?«

Er ignorierte auch diese Frage. »Sie sollten ein paar Sachen zusammenpacken, und dann suchen wir Ihnen ein Schutzversteck mit ein paar Agenten darin, die sicherstellen, dass diese Leute nicht zurückkommen.«

»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«

»Ich will, dass Sie in Sicherheit sind.«

»Ich will auch in Sicherheit sein, glauben Sie mir, ich bin keineswegs lebensmüde. Aber wenn Sie Recht haben und diese Person nur vorgab, Francis zu sein, um mir Angst einzujagen und den Verdacht auf ihn zu lenken, bin ich wahrscheinlich nicht in Gefahr.«

»Wahrscheinlich ist das richtige Wort. Das ist nur eine Theorie, Claire, und es könnte die falsche sein.«

»Wenn ich meinen Tagesablauf beibehalte, haben die keinen Grund, mich als Bedrohung anzusehen. Und es gibt da etwas, woran ich wirklich dringend arbeiten muss.«

»Was?«