KAPITEL 1
Web London besaß ein halbautomatisches SR75-Gewehr, das ein legendärer Waffenschmied für ihn maßgeschneidert hatte. Web verließ sein Haus niemals ohne dieses durchschlagkräftige Spitzenprodukt der Waffenkunst, denn er war ein Mann, der mit der Gewalt lebte. Töten war sein Job, und das mit unfehlbarer Effizienz. Nicht auszudenken, wenn er jemals den Falschen tötete! In einem solchen Fall wäre es besser, wenn er sich gleich selbst erschoss, um den furchtbaren Selbstvorwürfen zu entgehen. Web hatte einfach nur einen schwierigen Beruf, mit dem er sein tägliches Brot verdiente. Er konnte nicht behaupten, dass er diesen Job liebte, aber er war sehr gut darin.
Auch wenn er praktisch jeden Augenblick seines wachen Lebens mit einer Waffe in der Hand verbrachte, neigte Web nicht dazu, sie zu verhätscheln. Eine Pistole bezeichnete er niemals als Freund, und er gab seinen Waffen auch keine Kosenamen. Trotzdem spielten sie eine wichtige Rolle in seinem Leben, wenngleich Waffen wie wilde Tiere waren und sich nicht ohne weiteres zähmen ließen. Selbst ausgebildete Gesetzeshüter verfehlten in acht von zehn Fällen das Ziel. Für Web war das nicht nur untragbar, es grenzte außerdem an Selbstmord. Er verfügte über zahlreiche ungewöhnliche Eigenschaften, aber Todes-Sehnsucht gehörte nicht dazu. Es gab ohnehin genügend Leute, die immer wieder versuchten, ihn zu töten, und einmal hätten sie ihn fast erwischt.
Vor etwa fünf Jahren hatte er einen oder zwei Liter Blut verloren, bevor er auf dem Boden der Turnhalle einer Schule zusammenbrach, die bereits mit Toten und Sterbenden übersät war. Nachdem er seinen Verletzungen getrotzt und die Ärzte, die ihn behandelten, verblüfft hatte, tauschte Web die Maschinenpistole, die seine Waffenbrüder vorzogen, gegen die
SR aus. Sie ähnelte einer Mi6, war mit großen Patronen vom Kaliber.308 geladen und hervorragend geeignet, Leuten Angst einzujagen. Wenn man eine SR besaß, wollte plötzlich jeder ein Freund sein. Dann war das Töten manchmal nicht einmal mehr nötig.
Durch die abgedunkelten Scheiben des Einsatzwagens, eines Suburban, beobachtete Web jede Menschenansammlung an den Ecken und jede verdächtige Gruppe in den dunkleren Seitenstraßen. Während sie weiter in feindliches Territorium vorstießen, kehrte Webs Blick zur Straße zurück. Er wusste, dass jedes Auto ein getarntes und schwer bewaffnetes Fahrzeug sein konnte. Er suchte nach wachsamen Blicken, einem Kopfnicken oder Fingern, die mit Handys spielten und in Wirklichkeit dem alten Web schweren Schaden zufügen wollten.
Der Suburban bog um eine Ecke und hielt an. Web sah sich zu den sechs anderen Männern um, die neben ihm kauerten. Er wusste, dass ihnen dieselben Gedanken wie ihm durch den Kopf gingen: schnell und ohne Schwierigkeiten nach draußen gelangen, Stellung beziehen und ein möglichst großes Schussfeld im Auge behalten. Angst war kein Faktor in dieser Gleichung. Es kam darauf an, die Nerven zu behalten. Hoch konzentriertes Adrenalin war ein gefährliches Gift, weil es sehr schnell töten konnte.
Web atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Er musste seinen Puls auf sechzig bis siebzig runterkriegen. Bei fünfundachtzig Schlägen pro Minute zitterte die Waffe, selbst wenn man sie an den Körper presste; bei neunzig konnte man nicht mehr den Abzug betätigen, weil der Blutstau in den Adern und die Verspannung in Schultern und Armen das verhinderten. Bei über einhundert Schlägen pro Minute verlor man jede Feinmotorik und war nicht mehr in der Lage, einen Elefanten auf einen Meter Entfernung mit einer Kanone zu treffen. Wenn es so weit kam, konnte man sich genauso gut ein Schild mit der
Aufschrift ERSCHIESST MICH auf die Stirn pappen, weil dieses Schicksal unausweichlich geworden war.
Web schob die Unruhe beiseite und destillierte Gelassenheit aus dem brodelnden Chaos.
Der Suburban setzte sich wieder in Bewegung, bog um eine weitere Ecke und hielt an. Web wusste, dass es das letzte Mal war. Die Funkstille wurde gebrochen, als Teddy Riner in sein Knochenmikrofon sprach, das auch als »Mic« bezeichnet wurde. »Charlie an TOC«, sagte Riner, »erbitten Einsatzfreigabe und Erlaubnis, auf Gelb zu gehen.«
Über sein Mic hörte Web die knappe Antwort des Tactical Operations Center, der Taktischen Einsatzzentrale. »Verstanden, Charlie Eins, halten Sie sich bereit.« Nach der in Webs Welt gültigen Farbenlehre bezeichnete »Gelb« die letzte Deckungsposition. »Grün« war die kritische Zone, der Augenblick der Wahrheit, der Durchbruch. Während sie sich auf dem heiligen Boden bewegten, der sich zwischen der relativen gelben Sicherheit und der grünen Wahrheit erstreckte, konnte sehr viel geschehen. »Einsatzfreigabe« - Web ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Damit wurde die Erlaubnis eingeholt, notfalls Menschen erschießen zu dürfen, obwohl es klang, als würde man seinen Chef fragen, ob man eine Maurerkolonne auf die Baustelle schicken durfte. Wieder wurde die Funkstille gebrochen, als die Einsatzzentrale durchgab: »TOC an alle Einheiten, Sie haben Einsatzfreigabe und Erlaubnis, auf Gelb zu gehen.«
Allerherzlichsten Dank, liebes TOC. Web rückte ein Stück näher an die Hecktüren des Suburban heran. Er bildete die Vorhut, und Roger McCallam war die Nachhut. Jim Davies war der Pionier und Riner der Anführer der Gruppe. Big Cal Plummer und die zwei weiteren Kämpfer, Lou Patterson und Danny Garcia, standen bereit. Sie waren mit MP-5- Maschinengewehren, Blendgranaten, 45er-Pistolen und absoluter Ruhe ausgerüstet. Sobald sich die Tür öffnete, würden sie ausschwärmen und nach Bedrohungen aus jeder Richtung Ausschau halten. Sie würden sich gebückt und mit angewinkelten Knien vorwärts bewegen, um den Rückstoß aufzufangen, falls sie feuern mussten. Webs Gesichtsmaske schränkte sein Sichtfeld auf das absolut notwendige Maß ein. Das war sein Miniatur-Breitwandkino, auf dem sich das Chaos der realen Welt abspielen würde, Eintrittskarten inbegriffen.
Er sah, wie Danny Garcia sich bekreuzigte, was er vor jedem Einsatz tat. Und Web sagte darauf dasselbe, was er jedes Mal sagte, wenn Garcia sich bekreuzigte, kurz bevor die Türen des Chevys aufsprangen. »Gott weiß ganz genau, warum er sich hier nicht blicken lässt, Danny-Boy. Von ihm können wir keine Hilfe erwarten.« Er sagte es jedes Mal in scherzhaftem Tonfall, aber es war nicht als Scherz gemeint.
Von nun an mussten Handzeichen genügen. Wenn einem die Kugeln um die Ohren flogen, neigte man ohnehin nicht zur Geschwätzigkeit. Während der Arbeit sprach Web kaum ein Wort.
Fünf Sekunden später sprangen die Türen auf, und die Gruppe stürmte nach draußen in die Nacht.
Sie waren viel zu weit vom Einsatzort entfernt. Normalerweise fuhren sie direkt bis zum Ziel und sprengten sich den Weg frei, aber in diesem Fall war die Logistik etwas komplizierter. Verlassene Autos, abgeladene Kühlschränke und andere sperrige Gegenstände blockierten den direkten Zugang.
Jetzt meldeten sich die Scharfschützen vom X-Ray-Team über Funk. Ein Stück weiter befanden sich Menschen auf der Straße, aber sie gehörten nicht zu der Gruppe, auf die Web Jagd machte. Zumindest machte es nicht den Eindruck. Aber man wusste ja nie.
Geduckt rannten Web und das Charlie-Team die Straße entlang. Die sieben Mitglieder des Hotel-Teams waren von einem Wagen auf der gegenüberliegenden Seite des Blocks abgesetzt worden, um das Ziel von links hinten anzugreifen. Der Plan sah vor, dass Charlie und Hotel sich irgendwo mitten in dieser Kampfzone trafen, die sich als Wohnviertel tarnte.
Webs Leute bewegten sich jetzt in östlicher Richtung, dicht gefolgt von einem aufziehenden Sturm. Blitz, Donner, Wind und horizontaler Regen waren ein erheblicher Störfaktor für die direkte Kommunikation, die taktische Positionierung und die Nerven der Männer, vor allem während des kritischen Zeitpunkts, wenn alles perfekt funktionieren musste. Die hochgezüchtete Technik nützte ihnen überhaupt nichts; sie konnten nur auf die schlechte Laune von Mutter Natur reagieren, indem sie schneller rannten. Sie liefen die Straße entlang, einen schmalen Asphaltstreifen voller Schlaglöcher und Müll. Links und rechts erhoben sich Gebäude, deren Verputz nach jahrzehntelangen Schießereien pockennarbig geworden war. Bei einigen Gefechten war es um die Guten gegen die Bösen gegangen, doch die meisten hatten zwischen jungen Männern stattgefunden, die um Drogenreviere, Frauen oder einfach so gekämpft hatten. Hier war jeder ein Mann, der eine Waffe hatte - auch wenn er eigentlich noch ein Kind war, das nach den Zeichentrickserien am Samstagmorgen nach draußen lief und fest daran glaubte, dass ein erschossener Spielkamerad anschließend wieder aufstehen und weiterspielen würde...
Sie erreichten die Gruppe, die die Scharfschützen beobachtet hatten. Es waren Schwarze, Latinos und Asiaten, alles Drogendealer, die sich nun erschrocken umdrehten. Offensichtlich überwand die Aussicht auf einen starken Kick und unkomplizierte Bargeschäfte alle Barrieren von Rasse, Hautfarbe, Religion oder politischen Tendenzen. Es war erstaunlich, dass dieser armselige Haufen von Verlierern überhaupt genügend Energie und Verstand aufbrachte, um die simple Transaktion geistig zu verarbeiten, kleine Päckchen mit Hirnverätzern, die notdürftig als Glücksbringer getarnt waren, gegen Bargeld zu tauschen und sich obendrein selbst daran zu
vergiften.
Angesichts der Ehrfurcht gebietenden Front aus Waffen und Kevlar fielen alle Junkies bis auf einen auf die Knie und bettelten darum, nicht erschossen oder verhaftet zu werden. Web konzentrierte sich auf den einzigen jungen Mann, der stehen geblieben war. Er hatte sich ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt, das seine Zugehörigkeit zu irgendeiner Gang demonstrierte. Der Junge hatte eine Taille wie ein Tänzer und Schultern wie eine Hantel. Eine abgeranzte Turnhose hing ihm tief im Schritt, und ein ärmelloses Shirt spannte sich um seinen muskulösen Oberkörper. Außerdem stand eine himmelhohe Überheblichkeit in seinen Gesichtszügen, als wollte er sagen: Ich bin schlauer und härter als ihr, und ich werde euch alle überleben. Web musste stillschweigend anerkennen, dass ihm der Rapper-Look sehr gut stand.
Es dauerte dreißig Sekunden, bis sie festgestellt hatten, dass alle bis auf den Jungen mit dem roten Kopftuch bedröhnt und unbewaffnet waren. Sie suchten nicht nur nach Waffen, sondern auch nach Handys, mit denen sie jemanden warnen konnten. Der Junge mit dem Kopftuch trug ein Messer bei sich, aber damit hatte er keine Chance gegen Kevlar und Maschinenpistolen. Also ließen sie ihm das Ding. Aber als das Charlie-Team weiterstürmte, folgte Cal Plummer den anderen im Rückwärtsgang und hielt die Straßenhändler mit seiner MP-5 in Schach, für alle Fälle.
Der Junge rief ihnen etwas hinterher: dass er von Webs Gewehr beeindruckt sei und es kaufen wolle. Er würde ihnen einen guten Preis machen, und anschließend würde er Web und alle anderen damit abknallen. Haha! Web blickte zu den Dächern hinauf, wo die Leute vom Whiskey- und X-Ray-Team ihre Schusspositionen bezogen hatten, die Junkies fest im Visier. Die Scharfschützen waren Webs beste Freunde. Er wusste genau, wie sie an ihre Aufgaben herangingen, weil er viele Jahre lang selber einer von ihnen gewesen war.
Web hatte mehrere Monate am Stück in dampfenden Sümpfen gelegen, während ständig Wassermokassinschlangen über ihn hinweggekrochen waren. Oder er hatte sich in enge Felsspalten gezwängt, durch die ein eiskalter Wind pfiff, das Lederpolster des maßgefertigten Gewehrkolbens fest an die Wange gepresst und durch das Zielfernrohr gestarrt, um das Gelände zu erkunden und zu sichern. Als Scharfschütze hatte er viele wichtige Fähigkeiten entwickelt, zum Beispiel, wie man lautlos in eine Konservendose pinkelte. Andere Lektionen hatten darin bestanden, sein Essen in geeigneten Portionen abzupacken, damit er sich auch in totaler Finsternis Kohlehydrate zuführen konnte, und seine Patronen so bereitzulegen, dass er optimal nachladen konnte. Er arbeitete nach strengen Methoden, die sich immer wieder bewährt hatten. Nicht dass er irgendwelche dieser einzigartigen Talente auf den privaten Bereich übertragen konnte, aber Web führte ohnehin kaum ein Privatleben.
Das Leben eines Scharfschützen hing immer zwischen zwei Extremen. Man stand vor der Aufgabe, die beste Schussposition zu finden, bei der man selbst möglichst gut gedeckt war, und diese beiden Anforderungen waren manchmal einfach nicht in Einklang zu bringen. Stunden, Tage, Wochen oder sogar Monate verbrachte man mit Nichtstun, während die Langeweile an der Moral nagte, bis urplötzlich alles von einem gefordert wurde, in einer rasenden Abfolge von Augenblicken, die aus einem Ansturm wilder Schießerei und totaler Verwirrung bestand. Wenn man entschied, einen Schuss abzugeben, bedeutete das, dass jemand sterben würde, und man war sich niemals sicher, ob der eigene Tod eine Rolle in dieser Gleichung spielte oder nicht.
Web konnte diese Bilder jederzeit wie Schnappschüsse aus seinem Gedächtnis abrufen. Die aufblitzenden Erinnerungen waren äußerst lebhaft. Fünf Hohlspitzgeschosse warteten im Magazin darauf, in einer Salve freigesetzt zu werden und sich mit doppelter Schallgeschwindigkeit in einen Widersacher zu bohren, wenn Webs Finger den Abzug durchdrückte. Sobald jemand in sein Schussfeld geriet, würde Web feuern, und ein Mensch würde sich plötzlich in eine Leiche verwandeln. Die wichtigsten Schüsse jedoch, mit denen Web als Scharfschütze zu tun gehabt hatte, waren jene gewesen, die er nicht abgefeuert hatte. So war es in diesem Job. Es war kein Job für Leute mit schwachen Nerven oder für geistig Arme, nicht einmal für Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz.
Web bedankte sich stumm bei den Scharfschützen, die dort oben die Stellung hielten, und lief weiter die Straße entlang.
Als Nächstes stießen sie auf ein Kind, einen Jungen, vielleicht neun Jahre alt, der ohne Hemd auf einem Betonbrocken saß, und weit und breit kein Erwachsener in der Nähe. Der aufziehende Sturm hatte die Temperatur um mindestens zehn Grad gesenkt, und das Quecksilber fiel weiter. Trotzdem trug der Junge kein Hemd. Web fragte sich, ob er jemals eins trug. Er hatte schon viele Kinder erlebt, die in Armut lebten. Web hielt sich keineswegs für einen Zyniker, aber er war Realist. Diese Kinder taten ihm Leid, aber er konnte nichts tun, um ihnen zu helfen. Und heutzutage musste man überall mit Gefahren rechnen, also suchte sein Blick automatisch den Körper des Jungen ab, ob er eine Waffe bei sich trug. Glücklicherweise fand er nichts. Web wäre es unangenehm gewesen, auf ein Kind schießen zu müssen.
Der Junge sah ihn unverwandt an. Im flackernden Schein der einzigen Straßenlampe, die aus irgendeinem Grund noch funktionierte, zeichnete sich die Gestalt des Kindes überdeutlich ab. Web bemerkte den zu schlanken Körper und die bereits verhärteten Muskeln in Armen und Schultern und an den hervortretenden Rippen, die an die Rindenwucherung über einer alten Verletzung eines Baumes erinnerten. Auf der Stirn des Jungen verheilte ein Messerschnitt. Ein runzliges Loch in der linken Wange rührte von einer Kugel her - daran gab es für Web keinen Zweifel.
»Donnerhall«, sagte der Junge mit erschöpfter Stimme, dann lachte er. Es war eher ein meckerndes Lachen. Die Worte und das Lachen klangen in Webs Kopf wie angeschlagene Becken nach, aber er hatte keine Ahnung, warum. Er spürte sogar ein Kribbeln auf der Haut. Er hatte schon viele Kinder gesehen, für die es keine Hoffnung gab, aber dieses Mal ging in seinem Kopf etwas vor sich, das er nicht einschätzen konnte. Vielleicht machte er diesen Job schon zu lange, obwohl jetzt alles andere als der geeignete Zeitpunkt war, um darüber nachzudenken.
Webs Finger verharrte in der Nähe des Abzugs, während er an der Spitze der Gruppe mit federnden Schritten weiterlief und versuchte, das Bild des Jungen aus seinem Kopf zu verdrängen. Obwohl er selbst sehr schlank war und nicht über imposante Muskeln verfügte, steckte eine enorme Kraft in seinen von Natur aus breiten Schultern, den langen Armen und starken Fingern. Und er war mit Abstand der schnellste Mann der Gruppe und verfügte zudem über eine beeindruckende Ausdauer. Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer - das war es, wofür sein muskulöser Körper trainiert war. Patronen durchdrangen Muskeln genauso mühelos wie Fett. Aber das Blei konnte einem keine Schmerzen zufügen, wenn es einen nicht traf.
Ein massiger Mann von eins achtzig, so hätte ihn jeder beschrieben, der ihn sah. Zumindest früher. Heute konzentrierten sich die meisten ganz auf den Zustand seiner linken Gesichtshälfte, beziehungsweise dessen, was davon noch übrig war. Wenngleich erstaunlich war, wie gut sich heutzutage zerstörte Körperteile rekonstruieren ließen. Bei günstiger Beleuchtung war fast nichts mehr von dem alten Einschusskrater zu bemerken, der durch einen wiederaufgebauten Wangenknochen und sorgsam verpflanztes Hautgewebe eingeebnet worden war. Wirklich beeindruckend, hatten alle gesagt. Alle bis auf Web.
Am Ende der Straße hielt die Gruppe wieder an und ging geduckt zu Boden. Direkt neben Web hockte Teddy Riner. Über sein drahtloses Knochenmikrofon kommunizierte Riner mit der Einsatzzentrale und meldete, dass Charlie auf Gelb stand und die Erlaubnis benötigte, auf Grün zu gehen - die »kritische Zone« zu betreten, was in diesem Fall lediglich eine fantasievolle Bezeichnung für die Haustür war. Web hielt die SR75 mit einer Hand fest und tastete nach seiner maßgefertigten 45er, die in einem Halfter tief an seinem rechten Bein steckte. Eine identische Pistole hing an der kugelsicheren Weste, die seinen Brustkorb schützte, und auch diese berührte er während des kurzen Rituals unmittelbar vor dem Angriff.
Web schloss die Augen und stellte sich vor, wie die nächste Minute ablaufen würde. Sie würden zur Tür stürmen, Davies an der Spitze, damit er den Sprengsatz anbringen konnte. Die anderen würden ihre Blendgranaten locker in der schwachen Hand halten. Die Maschinenpistolen wären entsichert, und die ruhigen Finger würden sich von den Abzügen fern halten, bis die Zeit zum Töten gekommen war. Davis würde die mechanischen Sicherungen von der Kontrolleinheit entfernen und die Zündschnur überprüfen, die zum Sprengstoff führte. Er würde nach Problemen suchen und hoffen, dass er keine fand. Riner würde die unsterblichen Worte »Charlie auf Grün« an die TOC übermitteln, die wie immer mit »Bereithalten, wir haben die Kontrolle« antworten würde. Web ärgerte sich jedes Mal über diesen Satz, denn wer hatte wirklich die Kontrolle über das, was sie taten?
In seiner gesamten Karriere hatte Web noch nie erlebt, dass die Taktische Einsatzzentrale das Ende des Countdowns erreichte. Bei »zwei« würden die Scharfschützen das Feuer auf die Ziele eröffnen, und ein Hagel aus gleichzeitig abgefeuerten 308ern war ziemlich laut. Dann ging der Sprengsatz hoch, bevor TOC »eins« sagen konnte, und von diesem Dezibel-Hurrikan wurden sogar die eigenen Gedanken übertönt. Wenn man jemals hörte, wie die Zentrale den Countdown beendete, steckte man in großen Schwierigkeiten, denn das bedeutete, dass die
Sprengladung nicht gezündet hatte. Und das war ein ziemlich miserabler Anfang für einen Arbeitstag.
Wenn die Tür aufgesprengt war, würden Web und sein Team in das Zielobjekt eindringen und ihre Blendgranaten werfen. Diese Bezeichnung war treffend gewählt, weil der Blitz jeden Anwesenden vorübergehend blind machte. Außerdem würde der Knall jedes ungeschützte Trommelfell platzen lassen. Wenn sie auf weitere verriegelte Türen stießen, würden sie sich entweder öffnen, nachdem Davies mit seiner Schrotflinte »angeklopft« hatte oder nachdem sie ihre »Eintrittskarte« zum Einsatz gebracht hatten - einen Streifen, der wie ein Stück Reifengummi aussah, aber einen C4-Sprengsatz enthielt, dem praktisch keine Tür standhalten konnte. Sie würden nach eingeübten Manövern vorgehen, gezielt ihre Hände und Waffen einsetzen, präzise Schüsse abfeuern und ihre Handlungen wie Schachzüge planen. Die Kommunikation fand ausschließlich über Berührungen statt. Die kritischen Faktoren ausschalten, eventuelle Geiseln lokalisieren und sie schnell und lebend in Sicherheit bringen. Nur an den eigenen Tod dachten sie niemals. Das beanspruchte zu viel Zeit und Energie, die sie für ihre Aufgabe benötigten. Es beeinträchtigte die elementaren Instinkte und Fertigkeiten, die sie durch ständige Übung geschärft hatten, bis sie zu einem Teil ihrer Persönlichkeit geworden waren.
Zuverlässigen Quellen zufolge befand sich im Gebäude, das sie stürmen sollten, die komplette Finanzverwaltung eines großen Drogenkonzerns, der seine Zentrale in der Hauptstadt hatte. Zur potenziellen Beute des heutigen Tages gehörten Buchhalter und Erbsenzähler, die zu wertvollen Zeugen für die Regierung werden konnten, wenn es Web und seinen Männern gelang, sie lebend herauszuholen. So hatte die Bundespolizei mehrere Ansätze, um die Köpfe der Organisation straf- und zivilrechtlich zu verfolgen. Selbst Drogenkönige fürchteten sich vor einer gründlichen Prüfung durch das Finanzamt, weil die Bosse nur selten Steuern an Onkel Sam abführten. Deshalb hatte man Webs Team zum Einsatz gerufen. Sie waren darauf spezialisiert, Leute zu töten, die es verdient hatten, aber sie waren auch verdammt gut darin, andere Leute am Leben zu lassen. Zumindest so lange, bis diese Leute eine Zeugenaussage machen konnten, um sich für einen längeren Zeitraum ein wesentlich größeres Übel vom Hals zu halten.
Wenn sich die Zentrale zurückmeldete, würde der Countdown beginnen: »Fünf, vier, drei, zwei... «
Web öffnete die Augen und sammelte sich. Er war bereit. Sein Puls lag bei vierundsechzig. Web wusste es ganz genau. Okay, Jungs, gleich stoßen wir zur Goldmine vor. Holen wir es uns! Erneut meldete sich die Taktische Einsatzzentrale über seinen Kopfhörer und gab das Okay, durch die Vordertür zu stürmen.
Und genau in diesem Moment erstarrte Web London.
Seine Gruppe verließ die Deckung und ging auf Grün, stieß in die kritische Zone vor - nur Web nicht. Es war, als würden seine Gliedmaßen nicht mehr zu seinem Körper gehören - als würde man einschlafen und auf einem Arm oder Bein liegen, bis man aufwachte und feststellte, dass dieser Körperteil von der Blutzirkulation abgeschnitten war. Es schien keine Angst oder plötzliche Nervenschwäche zu sein, dazu hatte Web diesen Job schon zu lange gemacht. Trotzdem konnte er nur reglos zusehen, wie das Charlie-Team angriff.
Dieser Hinterhof war als letzte größere Gefahrenzone unmittelbar vor dem kritischen Punkt identifiziert worden. Die Männer beschleunigten ihren Vorstoß und blickten sich nach allen Seiten um, ob es irgendwo das leiseste Anzeichen für Widerstand gab. Keiner von ihnen schien zu bemerken, dass Web nicht bei ihnen war.
Sein Körper war schweißüberströmt, als er seine Muskeln gegen das ankämpfen ließ, was ihn zurückhielt. Web schaffte es, sich langsam zu erheben und zögernd ein paar Schritte zu gehen.
Seine Füße und Arme schienen in Bleimanschetten zu stecken, sein Körper brannte, und sein Kopf drohte zu platzen, als er sich wankend ein Stück weiter vorwagte. Er erreichte den Hof, dann ließ er sich zu Boden fallen, während sich sein Team weiter von ihm entfernte.
Er blickte auf und sah noch, wie Charlie den Angriff fortsetzte, das Ziel in Sichtweite. Es schien sie noch etwas näher heranlocken zu wollen, damit sie sich holen konnten, was sie haben wollten. Es waren noch fünf Sekunden bis zum Ziel. Diese fünf Sekunden sollten Web Londons Leben für immer verändern.
KAPITEL 2
Teddy Riner ging als Erster zu Boden. Sein Sturz dauerte zwei Sekunden, aber er war bereits tot, bevor diese zwei Sekunden verstrichen waren. Auf der anderen Seite kippte Cal Plummer um, als wäre er von der Streitaxt eines Riesen gefällt worden. Web sah hilflos zu, wie schwere Munition zunächst auf Kevlar und dann menschliches Fleisch traf, bis alles vorbei war. Es war irgendwie nicht richtig, dass gute Männer so schnell starben.
Bevor das Feuer eingesetzt hatte, war Web auf sein Gewehr gefallen, das nun unter seinem Körper lag. Er konnte kaum atmen. Die Kevlar-Weste und die Waffen drückten schmerzhaft gegen sein Zwerchfell. Da war etwas auf seiner Maske. Er konnte es nicht wissen, aber es war ein Teil von Teddy Riner, etwas aus dem handtellergroßen Loch, das in seine Rüstung gerissen worden war. Riner war daraufhin bis zu Web zurückgeschleudert worden, dem Letzten des Charlie-Teams, der nun ironischerweise auch der letzte Überlebende der Gruppe war.
Web war immer noch gelähmt. Seine Glieder reagierten einfach nicht auf die Bitten seines Gehirns, sich in Bewegung zu setzen. Hatte er im Alter von siebenunddreißig Jahren einen Schlaganfall erlitten? Dann drang der Lärm einer Schießerei an seine Ohren und schien seinen Kopf zu klären. Endlich hatte er wieder Gefühl in den Armen und Beinen, und es gelang ihm, sich die Maske vom Gesicht zu reißen und auf den Rücken zu drehen. Er stieß einen Schwall übel riechenden Atems aus und schrie vor Erleichterung auf. Jetzt starrte Web genau in den Himmel. Er sah speergleiche Blitze, obwohl er im Kampflärm nichts vom grollenden Donner des Gewitters hörte.
Er verspürte den unwiderstehlichen und wahnsinnigen Drang, mit der Hand in das Inferno hinaufzugreifen, vielleicht, um sich von der Realität der vorbeirasenden Geschosse zu überzeugen, wie ein kleines Kind, dem man gesagt hatte, nicht auf die heiße Ofenplatte zu fassen, woraufhin es selbstverständlich an nichts anderes mehr denken würde. Stattdessen griff er an seinen Gürtel, öffnete eine kleine Tasche und zog das Infrarotsichtgerät heraus. Damit enthüllte sich selbst in finsterster Nacht eine komplette Welt, die für das unbewehrte Auge unsichtbar war. Es bildete die Wärmesignatur ab, die in nahezu jedem lebenden oder nicht lebenden Objekt brannte.
Obwohl er die Schützen auch mit dem ISG nicht sehen konnte, nahm Web nun die Dampfspuren wahr, die die Geschosse in die Luft zeichneten. Und er stellte fest, dass das Feuer aus zwei unterschiedlichen Richtungen kam: vom Mietshaus direkt voraus und von einem heruntergekommenen Gebäude genau rechts von ihm. Als er dieses Gebäude durch das ISG betrachtete, sah er nur zerbrochene Fensterscheiben. Und dann bemerkte Web etwas, das ihn noch mehr erstarren ließ. Das Mündungsfeuer blitzte gleichzeitig hinter allen Fenstern auf. Die Schüsse wanderten ein Stück zur Seite, hielten ein paar Sekunden lang inne, dann bewegten sie sich zurück. Die Läufe der Waffen, die er nicht sehen konnte, vollführten einen genau festgelegten Schwenk.
Als das Feuer erneut einsetzte, rollte sich Web auf den Bauch und starrte durch das Sichtgerät auf das Gebäude, dem ihr Angriff gegolten hatte. Auch hier gab es in einem niedrigeren Stockwerk eine Fensterreihe, hinter denen das Feuer mit der gleichen synchronen Abfolge aufblitzte. Jetzt erkannte Web die langen Läufe der Maschinengewehre. Im ISG zeichneten sich die Umrisse der Waffen ziegelrot ab, da sie durch die Unmengen an abgefeuerter Munition glühend heiß geworden waren. Doch im Wärmebild tauchte keine menschliche Silhouette auf. Wenn sich irgendein menschliches Wesen in der Nähe befunden hätte, wäre es Webs ISG nicht entgangen. Ohne Zweifel hatte er es mit einer ferngesteuerten Abwehrstellung zu tun. Jetzt wusste er, dass sein Team hereingelegt und in einen Hinterhalt gelockt worden war, während der Feind keinen einzigen Mann in Gefahr gebracht hatte.
Die Kugeln prallten von den Ziegelwänden hinter und rechts von ihm zurück, und Web spürte, dass ihn von allen Seiten Querschläger trafen, wie Hagelkörner. Mindestens ein Dutzend Mal streiften sie sein Kevlar, aber sie hatten bereits einen großen Teil ihrer Geschwindigkeit und Tödlichkeit verloren. Er drückte die ungeschützten Arme und Beine fest gegen den Asphalt. Doch nicht einmal die Schutzweste konnte einen direkten Treffer abhalten, denn die Maschinengewehre spuckten mit ziemlicher Sicherheit Munition vom Kaliber.50 aus. Jedes Projektil war so lang wie ein Buttermesser und konnte vermutlich sogar Panzerungen durchschlagen. All dies entnahm Web dem Überschalllärm der MGs und dem typischen Mündungsfeuer. Und die Dampfspur eines 50er-Geschosses vergaß man ebenfalls nicht so schnell. Man konnte den Knall tatsächlich spüren, bevor man ihn hörte. Sämtliche Härchen richteten sich am Körper auf, genau wie kurz vor dem Einschlag eines Blitzes.
Web schrie die Namen seiner Teamkameraden, einen nach dem anderen. Keine Antwort. Keine Bewegung. Kein Stöhnen, kein Zucken, das zeigte, dass da draußen noch irgendwo Leben war. Trotzdem brüllte Web immer wieder ihre Namen - der Appell eines Wahnsinnigen. Überall explodierten Mülltonnen, zersplitterte Glas, erodierten Ziegelwände, als würden Flüsse im Zeitraffer Canyons hineinschneiden. Es war die Normandie oder vielmehr Pickett's Charge, und Web hatte soeben seine komplette Armee verloren. Die Straßenratten flüchteten vor dem Inferno. Dieser Hinterhof war zum ersten Mal in der Geschichte frei von Ungeziefer. Kein Kammerjäger hatte jemals so gründliche Arbeit geleistet wie die rhythmischen Salven aus 50er-Munition.
Web wollte nicht sterben, aber jedes Mal, wenn er sah, was noch von seinen Männern übrig war, wollte er sich zu ihnen gesellen. Die Familie kämpfte und starb gemeinsam. Dieser Gedanke hatte einen besonderen Reiz für Web. Er spürte, wie sich seine Beine für den Sprung in die Ewigkeit anspannten. Dennoch war etwas anderes in ihm stärker, sodass er in Deckung blieb. Wer starb, hatte verloren. Wer aufgab, machte den Tod der anderen zu etwas Sinnlosem.
Wo zum Teufel blieben X-Ray und Whiskey? Warum seilten sie sich nicht ab und kamen ihnen zu Hilfe? Die Scharfschützen auf den Gebäuden über dem Hinterhof konnten sich nicht hinunterwagen, ohne zerfetzt zu werden, aber entlang der Straße, über die Charlie vorgestoßen war, hatten sich andere postiert. Sie konnten sich relativ gefahrlos abseilen. Aber würde die Zentrale ihnen grünes Licht geben? Vielleicht nicht, wenn dort niemand genau wusste, was los war. Und woher sollten sie es wissen? Nicht einmal Web wusste, was eigentlich los war, und er befand sich mitten im Geschehen. Trotzdem konnte er hier nicht ewig abwarten, bis sich die Zentrale zum Eingreifen durchgerungen hatte - möglicherweise, nachdem eine verirrte Salve seinem Team den letzten Rest gegeben hatte.
Er spürte den leisen Griff der Panik, obwohl er jahrelang eigens darauf trainiert worden war, diese Schwäche aus seiner Psyche zu verbannen. Er musste aktiv werden. Er hatte sein Mic verloren, also schnappte er sich sein tragbares Motorola vom Schulterpolster aus Velcro. Er drückte den Knopf und schrie hinein: »HR vierzehn an TOC, HR vierzehn an TOC.« Keine Antwort. Er wechselte auf eine Notfrequenz und dann auf eine, die für allgemeine Zwecke benutzt wurde. Immer noch nichts. Er starrte das Funkgerät an und verlor den Mut. Die Vorderseite war eingedrückt, nachdem er darauf gefallen war. Web schob sich ein Stück vor bis zu Cal Plummers Leiche. Als er nach Plummers Funkgerät greifen wollte, traf etwas seine Hand, und er zog sie sofort zurück. Nur ein Querschläger. Ein direkter
Treffer hätte ihm die gesamte Hand abgerissen. Web zählte nach, aber alle fünf Finger waren noch vorhanden. Der heftige Schmerz gab ihm den Willen, zu kämpfen, weiterzuleben. Und wenn es nur deshalb war, um jene zu vernichten, die dies getan hatten. Allerdings war Webs Trickkiste jetzt so gut wie leer. Und zum ersten Mal in seiner Karriere fragte er sich, ob der Gegner, mit dem er es hier zu tun hatte, womöglich wirklich besser war als er.
Web wusste, dass er nicht mit dem Denken aufhören durfte, sonst würde er vielleicht aufspringen und auf Dinge feuern, die sich nicht töten ließen. Also konzentrierte er sich auf die taktische Situation. Er befand sich in einer sorgsam eingegrenzten Todeszone, die aus zwei Richtungen unter Beschuss genommen wurde, sodass ein Neunzig-Grad-Winkel der Zerstörung entstand. Und es gab keinen menschlichen Gegner, der sich irgendwie aufhalten ließ. Gut, das war die Situation. Aber was konnte er dagegen ausrichten? Welches Kapitel im Lehrbuch befasste sich damit? Vielleicht das mit der Überschrift »Wenn du am Ende bist«? Mein Gott, der Lärm war ohrenbetäubend. Er konnte nicht einmal hören, wie sein eigenes Herz pochte. Sein Atem kam in kurzen Stößen. Wo waren Whiskey und X-Ray, verdammt noch mal? Und Hotel? Konnten sie nicht schneller laufen? Aber was hätten sie schon tun können? Sie waren ausgebildet, gegen menschliche Ziele vorzugehen, aus kleiner oder großer Entfernung. »Hier ist nichts, worauf ihr schießen könnt!«, schrie er.
Das Kinn gegen die Brust gepresst, blickte Web überrascht auf, als er den kleinen Jungen sah, der ohne Hemd auf dem Betonbrocken gesessen hatte. Jetzt hielt er sich mit den Händen die Ohren zu und hockte an der Ecke zur Nebenstraße, durch die Web und seine Männer gekommen waren. Wenn sich der Junge in den Hinterhof wagte, würde er später im Leichensack abtransportiert werden. Vielleicht sogar in zwei Leichensäcken, denn die 50er-Munition würde den mageren Körper problemlos
in zwei Hälften zerreißen.
Der Junge machte einen Schritt und näherte sich dem Ende der Ziegelwand. Er war unmittelbar vor dem Hof. Vielleicht hatte er vor, Web zu Hilfe zu kommen. Oder er wartete ab, bis das Feuer eingestellt wurde, damit er den Leichen alle Wertsachen und Waffen abnehmen konnte, um sie später auf der Straße weiterzuverkaufen. Vielleicht war er auch nur neugierig. Web wusste es nicht, und im Grunde war es ihm auch egal.
Das Feuer wurde eingestellt, und plötzlich war es still. Der Junge wagte sich einen weiteren Schritt vor. Web schrie ihn an. Er erstarrte, weil er offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, von einem Toten angebrüllt zu werden. Web schob eine Hand vor und rief ihm zu, sich zurückzuhalten, doch dann begann die Schießerei von neuem und verschluckte das Ende seiner Warnung. Web rutschte auf dem Bauch unter dem Feuerhagel hindurch und schrie den Jungen mit jeder Bewegung an. »Bleib zurück! Geh zurück!«
Der Junge schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Web starrte ihn unentwegt an, was sehr schwierig war, wenn man sich gleichzeitig auf den eigenen Körper konzentrieren, wenn man befürchten musste, keinen Kopf mehr zu haben, falls man ihn nur einen Zentimeter höher hob. Endlich tat der Junge, was Web von ihm erwartete: Er wich zurück. Web kroch schneller. Der Junge drehte sich um und wollte davonlaufen. Web schrie ihm zu, dass er stehen bleiben sollte. Erstaunlicherweise gehorchte er ihm.
Web hatte fast den Straßenrand erreicht. Für seine nächste Aktion war ein perfektes Timing notwendig, denn für das Kind war ein neues Gefahrenelement ins Spiel gekommen. Während der letzten Feuerpause hatte Web marschierende Schritte und Rufe aus der Ferne gehört. Sie kamen. Web dachte, dass alle auf den Beinen sein mussten: Hotel und die Scharfschützen sowie die Reserveeinheit, die die Einsatzzentrale immer für den Notfall bereithielt. Nun, wenn dies kein Notfall war... Ja, sie kamen zu Hilfe geeilt, oder zumindest glaubten sie das. In Wirklichkeit rannten sie einfach nur blind los, ohne vorher die Lage erkundet zu haben.
Das Problem war, dass der Junge sie ebenfalls hörte. Web ahnte, dass der Junge genau wusste, wer sie waren, wie ein Fährtenleser, der am Geruch der Erde erkannte, wo sich die großen Büffelherden aufhielten. Der Junge fühlte sich in die Enge getrieben, und zwar aus gutem Grund. Web wusste, dass es ein Todesurteil für das Straßenkind war, wenn man es zusammen mit jemandem wie Web sah. Die Leute, die hier das Sagen hatten, würden davon ausgehen, dass der Junge ein Verräter war, und zur Belohnung seine Leiche im Wald deponieren.
Das Kind zuckte zusammen und blickte sich um, während Web Tempo zulegte. Web verlor die Hälfte seiner Ausrüstung, als er vom rauen Asphalt aufsprang, wie eine zweihundert Pfund schwere Schlange auf Speed. Web spürte, wie mindestens ein Dutzend Kratzer an seinen Beinen, Händen und in seinem Gesicht bluteten. Seine linke Hand kribbelte, als würden dort tausend Wespen eine Party veranstalten. Die Weste war jetzt verdammt schwer geworden, und sein Körper schmerzte bei jeder Bewegung. Web hätte sein Gewehr fallen lassen können, aber er brauchte es noch. Nein, die verfluchte SR75 würde er niemals loslassen.
Web wusste, was das Kind vorhatte. Der letzte Ausweg, die Flucht nach vorn. Der Junge würde quer über den Hinterhof rennen und in einem der gegenüberliegenden Gebäude verschwinden. Er konnte die Geschosse genauso gut hören wie Web. Aber er konnte die Schussbahnen nicht sehen. Er konnte ihnen nicht ausweichen. Trotzdem wusste Web, dass der Junge es versuchen wollte.
Das Kind sprintete los, und Web machte seinen Satz in allerletzter Sekunde, sodass die beiden am Rand der Sicherheitszone aufeinander trafen. Den Zusammenstoß gewann
Web zehn zu eins. Das Kind trat nach ihm, seine knochigen Fäuste schlugen ihm ins Gesicht und gegen die Brust, während sich Webs lange Arme um ihn klammerten. Web zog sich weiter auf die Straße zurück, den Jungen in den Armen. Es war nicht sehr angenehm, mit bloßen Händen auf Kevlar einzuschlagen, daher stellte der Junge die Gegenwehr irgendwann ein und sah Web an. »Ich habe nichts getan. Lassen Sie mich los!«
»Wenn du hier rumrennst, bist du tot!«, schrie Web gegen den Kampflärm an. Er hob seine blutüberströmte Hand. »Ich trage kugelsichere Schutzkleidung, und nicht einmal ich könnte da draußen überleben. Diese Munition würde dich in Stücke zerfetzen.«
Der Junge beruhigte sich, als er Webs Verletzungen sah. Web brachte ihn weiter vom Hinterhof und den Maschinengewehren weg. Jetzt konnten sie wenigstens miteinander reden, ohne sich anschreien zu müssen. Irgendetwas trieb Web dazu, die Schusswunde in der Wange des Jungen zu berühren. »Du hast schon einmal großes Glück gehabt«, sagte er. Der Junge knurrte und riss sich von ihm los. Bevor Web blinzeln konnte, hatte er sich wieselflink aufgerappelt und umgedreht und wollte über die Straße davonlaufen. »Wenn du ihnen im Dunkeln entgegenrennst«, rief Web, »ist deine Glückssträhne vorbei. Sie werden dich von der Straße pusten.«
Der Junge hielt an und drehte sich wieder um. Zum ersten Mal schienen seine Augen Web wirklich wahrzunehmen. Dann warf er einen Blick in Richtung Hinterhof.
»Sind sie tot?«, fragte er.
Statt einer Antwort nahm Web das große Gewehr von der Schulter. Der Junge wich einen Schritt zurück, als er die furchteinflößende Waffe sah.
»Scheiße, was haben Sie mit dem Ding vor?«
»Duck dich und rühr dich nicht von der Stelle«, sagte Web. Er wandte sich wieder dem Hof zu. Jetzt ertönten von allen Seiten
Sirenen. Die Kavallerie ritt ein, aber wie immer zu spät. Jetzt wäre es das Klügste, gar nichts zu tun. Aber damit erreichten sie nichts. Web hatte eine Aufgabe, die er zu Ende bringen musste. Er riss einen Zettel aus dem Notizblock, den er am Gürtel trug und kritzelte hastig etwas auf das Papier. Dann zog er seine Mütze unter dem Helm hervor. »Hier«, sagte er zum Jungen. »Geh langsam die Straße zurück, ohne zu rennen. Halte diese Mütze hoch und gib den Männern, die hierher unterwegs sind, diesen Zettel.« Der Junge nahm die Sachen an. Seine langen Finger krümmten sich um den Stoff der Mütze und das zusammengefaltete Stück Papier. Web zog seine Leuchtpistole aus einer Tasche und lud sie. »Wenn ich schieße, gehst du los, langsam!«, wiederholte Web. »Du darfst auf keinen Fall rennen.«
Der Junge betrachtete den Zettel. Web hatte keine Ahnung, ob er überhaupt lesen konnte. In dieser Gegend konnte man nicht davon ausgehen, dass Kinder wenigstens das lernten, was andernorts als Minimalausbildung galt.
»Wie heißt du?«, fragte Web. Der Junge musste sich unbedingt beruhigen. Wer nervös war, machte Fehler. Und Web wusste, dass die heranstürmenden Männer alles einäschern würden, was ihnen entgegengestürmt kam.
»Kevin«, antwortete der Junge. Als er seinen Namen sagte, wirkte er plötzlich wie das verängstigte kleine Kind, das er in Wirklichkeit war. Und Web machte sich noch größere Vorwürfe, weil er den Jungen mit diesen Anweisungen möglicherweise überforderte.
»Okay, Kevin. Ich bin Web. Wenn du tust, was ich sage, wird alles wieder okay. Du kannst mir vertrauen.« Als er das sagte, wurden Webs Schuldgefühle noch stärker. Web zielte mit der Leuchtpistole in den Himmel, blickte Kevin an und nickte zuversichtlich. Dann schoss er. Die Leuchtkugel war die erste Warnung für die Männer. Der Junge mit dem Zettel wäre die zweite. Der Junge lief los. Er ging, aber in zügigem Tempo.
»Nicht rennen«, schrie Web. Er drehte sich wieder zum Hinterhof um und steckte sein Infrarotsichtgerät auf die Schiene des Gewehrs und blickte hindurch.
Die rote Leuchtkugel tauchte den Himmel in einen blutroten Schein, und vor seinem inneren Auge sah Web, wie die Teams und Scharfschützen innehielten und über diese neue Wendung nachdachten. Das gab dem Jungen genügend Zeit, sie zu erreichen. Kevin würde nicht sterben, wenigstens nicht in dieser Nacht. Bei der nächsten Feuerpause stürmte Web los, rollte über den Boden und brachte das Gewehr auf dem Bauch liegend in Anschlag. Er klappte das zweibeinige Stativ herunter und presste den Kolben fest an die Schulter. Die drei Fenster direkt vor ihm waren seine ersten Ziele. Er konnte das Mündungsfeuer problemlos mit dem bloßen Auge erkennen, aber das Wärmebild ermöglichte es ihm, eine bessere Vorstellung von den erhitzten Silhouetten der MGs zu bekommen. Und die wollte er treffen. Die SR75 stieß ihr donnerndes Gebrüll aus, und ein Patronengurt nach dem anderen explodierte. Web lud ein neues zwanzigschüssiges Magazin nach, zielte und zog den Abzug durch, und vier weitere Maschinengewehre verstummten. Die letzte Stellung feuerte immer noch, als Web weiterkroch und eine Schockgranate warf. Dann wurde es still, bis Web die Magazine beider 45er in die Fensteröffnungen entlud, hinter denen sich nichts mehr rührte. Aus den zwei Waffen fielen die Patronenhülsen wie Fallschirmspringer aus einem Flugzeug. Als er den letzten Schuss abgefeuert hatte, brach Web zusammen und sog kostbare Luft ein. Ihm war so heiß, dass er glaubte, er würde im nächsten Moment einfach so in Flammen aufgehen. Dann öffneten sich die Wolken und entließen einen heftigen Regenschauer. Er blickte sich um und sah einen der Kämpfer, der sich vorsichtig auf den Hinterhof schob. Web wollte ihm zuwinken, aber sein Arm gehorchte ihm nicht mehr. Er hing einfach schlaff an seiner Seite.
Web betrachtete die verstreuten Leichen seines Teams, seiner
Freunde, die auf dem nassen Pflaster lagen. Dann ließ er sich auf die Knie sinken. Er war am Leben, aber eigentlich wollte er es gar nicht sein. Das Letzte, woran sich Web London aus dieser Nacht erinnerte, war der Anblick seiner Schweißtropfen, die in blutig gefärbte Regenpfützen fielen.
KAPITEL 3
Randall Cove war ein sehr großer Mann, der über enorme Körperkräfte verfügte. Außerdem verfügte er über einen bemerkenswerten Straßeninstinkt, den er im Laufe seiner langjährigen Arbeit verfeinert hatte. Er war ein Undercover- Agent des FBI, mittlerweile seit fast siebzehn Jahren. In L.A. hatte er sich in Latino-Drogenbanden eingeschleust, an der texanischmexikanischen Grenze hatte er mit Hispanics zu tun gehabt und in Süd-Florida mit schwergewichtigen Europäern. Die meisten seiner Missionen waren ziemlich aufregend gewesen, und gelegentlich war der Erfolg äußerst knapp ausgefallen. Im Augenblick war er mit einer 40er- Halbautomatik bewaffnet, die mit Hohlspitzgeschossen geladen war, die sich aufspreizten, wenn sie in einen Körper eindrangen. Sie konnten großen Schaden anrichten und führten mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod. Außerdem trug er ein Messer mit gezackter Klinge bei sich, das er dazu einsetzen konnte, blitzschnell lebenswichtige Arterien zu durchtrennen. Er rühmte sich, stets professionelle und zuverlässige Arbeit zu leisten. In diesem Moment wollten irgendwelche Ignoranten ihn als gemeinen Kriminellen verurteilen, der lebenslang eingesperrt werden sollte - oder am besten für seine furchtbaren Sünden hingerichtet werden sollte. Cove wusste, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten steckte, und ihm war auch bewusst, dass seine einzige Möglichkeit darin bestand, sich selbst aus dieser misslichen Lage zu befreien.
Cove saß mit eingezogenem Kopf im Auto und beobachtete, wie die Männer in ihre Wagen stiegen und wegfuhren. Sobald sie an ihm vorbei waren, erhob sich Cove, wartete noch einen Augenblick ab und folgte ihnen dann. Er zog sich die Skimütze tiefer über den frisch geschorenen Kopf. Keine Rastalocken mehr, aber er hatte beschlossen, dass es an der Zeit war, sich davon zu trennen. Die Fahrzeuge hielten ein Stück vor ihm an, und auch Cove blieb stehen. Als er sah, wie die Gruppe wieder ausstieg, holte er seine Nikon aus seinem Rucksack und machte ein paar Fotos. Dann legte er die Kamera weg, zog ein Nachtfernglas hervor und justierte es. Er nickte zufrieden, als er die Männer einen nach dem anderen musterte.
Er atmete tief ein und noch einmal langsam aus. Er ließ sein bisheriges Leben vor seinem inneren Auge Revue passieren, während die Gruppe in einem Gebäude verschwand. Auf dem College war Cove eine größere und schnellere Version von Walter Payton gewesen, des Paradebeispiels des guten Amerikaners aus Oklahoma. Jedes Football-Team überschüttete ihn mit Bargeld und sonstigen Vergünstigungen. Zumindest so lange, bis Kreuzbandrisse in beiden Knien infolge eines bösen Sturzes während eines Demonstrationsspiels vor Scouts großer Vereine ihn von der überragenden Top-Position der garantierten Nummer eins auf die eines Mannes mit völlig normalen Fähigkeiten herabgestuft hatten, an dem kein NFL-Trainer interessiert war. Millionen potenzieller Dollars hatten sich von einem Moment auf den nächsten in Nichts aufgelöst, genauso wie das süße Leben, das er bis zu diesem Zeitpunkt genossen hatte. Er hatte ein paar Jahre lang Trübsal geblasen und nach Entschuldigungen und Mitleid gesucht, während er immer tiefer abgestürzt war, bis es nicht mehr tiefer ging. Dann hatte er sie gefunden. Seine Frau war ihm von Gott höchstpersönlich geschickt worden, davon war er stets überzeugt gewesen. Sie hatte seinen elenden, von Selbstmitleid zerfressenen Kadaver vor dem Ende gerettet. Mit ihrer Hilfe hatte er sich wieder aufgerichtet und sich den geheimen Traum erfüllt, eines Tages wirklich und wahrhaftig zum G-Man zu werden.
In der Bundespolizei war er von einer Abteilung in die andere gesprungen. Zu jener Zeit waren die Chancen für Schwarze noch sehr begrenzt gewesen. Cove war in die Undercover-Arbeit der Drogenbekämpfung gedrängt worden, weil seine Vorgesetzten ihm unverblümt mitgeteilt hatten, dass die meisten der »bösen Jungs« Leute seiner Hautfarbe waren. Du gehst wie sie, du redest wie sie, und du siehst wie sie aus, hatten sie gesagt. Und dem konnte er nicht einmal widersprechen. Die Arbeit war gefährlich genug, um niemals langweilig zu werden. Randall Cove hatte Langeweile schon immer gehasst. Und er schnappte während eines Monats mehr Gauner als die meisten Agenten während ihrer gesamten Laufbahn, und es waren große Fische, die wahren Verdiener, nicht die Kleingeldsammler auf den Straßen, die ständig in der Gefahr lebten, als Drogentote zu enden. Mit seiner Frau hatte er zwei wunderbare Kinder, und er dachte ernsthaft daran, sich aus dieser Welt zu verabschieden, wenn er den Boden unter den Füßen oder Frau und Kinder verlor.
Er schreckte hoch, als die Männer aus dem Gebäude kamen, in die Autos stiegen und losfuhren. Cove heftete sich ihnen wieder an die Fersen. Er hatte noch etwas anderes verloren, das er nie wieder zurückbekommen würde. Sechs Männer waren gestorben, weil er Mist gebaut hatte, weil man ihn wie einen blutigen Anfänger hereingelegt hatte. Sein Stolz war verletzt, und er ärgerte sich schwarz. Und Cove musste ständig an das siebente Mitglied des ausgelöschten Teams denken. Der Mann hatte überlebt, obwohl er eigentlich hätte tot sein müssen. Anscheinend wusste niemand, warum er überlebt hatte, obwohl das Spiel gerade erst begonnen hatte. Cove wollte dem Mann in die Augen sehen und ihn fragen: Wie kommt es, dass Sie noch atmen? Er hatte keinen Zugang zu Web Londons Akte, und wie es schien, würde er in absehbarer Zeit auch keinen dazu erhalten. Ja, Cove gehörte zum FBI, aber zweifellos war jeder davon überzeugt, dass er zum Verräter geworden war. Undercover-Agenten lebten schließlich ständig in nächster Nähe des Abgrundes, nicht wahr? Angeblich waren sie allesamt potenzielle Fälle für die Klapsmühle. Es war eine undankbare
Arbeit, die er all die Jahre geleistet hatte, aber das war in Ordnung, weil er sie für sich selbst gemacht hatte und nicht für irgendjemanden sonst.
Die Autos bogen in eine Einfahrt, und Cove hielt an, machte noch ein paar Fotos und fuhr dann zurück. Das war es für diesen Abend, wie es schien. Er kehrte an den einzigen Ort zurück, an dem er sich jetzt sicher fühlen konnte, und es war nicht seine Wohnung. Als er abbog und Gas gab, schienen zwei Scheinwerfer aus dem Nichts aufzutauchen und sich in seinen Rückspiegel einzubrennen. Das war nicht gut, nicht auf einer Straße wie dieser. Cove hatte es stets nach Möglichkeit vermieden, die Aufmerksamkeit seiner Mitmenschen zu erregen. Er machte kehrt; das Auto hinter ihm tat dasselbe. Okay, jetzt wurde es ernst. Er gab wieder Gas. Sein Verfolger ließ sich nicht abschütteln. Cove griff an sein Gürtelhalfter, zog die Pistole heraus und vergewisserte sich, dass sie entsichert war.
Er starrte in den Rückspiegel und versuchte zu erkennen, mit wie vielen Leuten er es zu tun hatte. Aber es war zu dunkel, da es an dieser Strecke keine Straßenbeleuchtung gab. Die erste Kugel ließ seinen rechten Hinterreifen platzen, die zweite den linken. Während er darum kämpfte, den Wagen unter Kontrolle zu halten, kam ein Laster aus einer Nebenstraße und rammte ihn in die Seite. Wäre das Fenster geschlossen gewesen, hätte Cove sich eine schwere Kopfverletzung an der Scheibe zugezogen. An die Vorderseite des Lasters war ein Schneepflug montiert, obwohl es gar nicht Winter war. Das Fahrzeug beschleunigte und schob Coves Wagen quer über die Straße. Er spürte, dass sein Wagen umzukippen drohte, dann stieß der Laster seine Limousine über die Leitplanke, die eigentlich hier errichtet worden war, um Fahrzeuge daran zu hindern, über die steile Böschung zu stürzen, die sich auf dieser Seite der Straßenkurve befand. Der Wagen kippte um und rollte den steinigen Abhang hinunter. Beide Türen sprangen auf, während sich das Auto immer wieder überschlug und schließlich am Ende der
Böschung landete und in Flammen aufging.
Der Wagen, der Cove verfolgt hatte, hielt an. Ein Mann stieg aus, lief zur verbeulten Leitplanke und blickte nach unten. Er sah das Feuer und die Explosion, als sich die Benzindämpfe entzündeten, dann kehrte er zu seinem Wagen zurück. Beide Fahrzeuge gaben Gas und verließen eilig den Schauplatz.
Unterdessen erhob sich Randall Cove langsam von der Stelle, an die er geschleudert worden war, als die Fahrertür beim ersten Überschlag aufgesprungen war. Er hatte seine Waffe verloren, und es schien, dass er sich ein paar Rippen angeknackst hatte, aber er war am Leben. Er blickte auf das, was von seinem Wagen noch übrig war, und dann hinauf zur Straße, wo die Leute davongerast waren, die ihn zu töten versucht hatten. Dann stand er und stieg mit wackligen Beinen die Böschung hinauf.
Web hielt sich die verletzte Hand, und sein Kopf schien jeden Moment explodieren zu wollen. Es war, als hätte er drei kräftige Schlucke Tequila genommen und müsste sie wieder von sich geben. Das Krankenzimmer war leer. Draußen stand ein Bewaffneter, der darauf achten sollte, dass Web nichts zustieß jedenfalls nicht mehr, als ihm ohnehin schon zugestoßen war.
Web hatte den ganzen Tag und bis tief in die Nacht dagelegen und nachgedacht, was geschehen war. Doch seit man ihn hierher gebracht hatte, war er der Antwort kein Stück näher gekommen. Webs Vorgesetzter hatte bereits vorbeigeschaut, zusammen mit mehreren Leuten von Hotel und einigen Scharfschützen von Whiskey und X-Ray. Sie hatten kaum etwas gesagt, da sie alle noch unter Schock standen und nicht fassen konnten, dass ihnen etwas Derartiges hatte passieren können. Und in ihren Augen hatte Web das Misstrauen gesehen, die Frage, was da draußen mit ihm geschehen war.
»Es tut mir Leid, Debbie«, sagte Web zum Bild von Teddy Riners Witwe. Dasselbe sagte er zu Cynde Plummer, der Frau von Cal, die nun ebenfalls zur Witwe geworden war. Er ging die Liste durch, insgesamt sechs Frauen, die er alle gut kannte. Ihre Männer waren seine Partner, seine Kameraden gewesen.
Er ließ seine verletzte Hand los und berührte damit das metallene Bettgestell. Welch armselige Wunde nach einem solchen Kampf! Er hatte nicht einen direkten Treffer abbekommen. »Nicht ein einziger verdammter Schuss hat mich getroffen«, sagte er zur Wand. »Nicht ein einziger! Ist dir klar, wie unglaubwürdig das klingt?«, schrie er den Infusionsständer an, bevor er wieder verstummte.
»Wir werden sie kriegen, Web.«
Web erschrak über die Stimme, weil er nicht gehört hatte, dass jemand in den Raum gekommen war. Aber zu einer Stimme gehörte selbstverständlich immer ein Körper. Web richtete sich ein wenig auf, bis er den Umriss des Mannes sah. Percy Bates setzte sich auf einen Stuhl neben Webs Bett. Er studierte den Linoleum-Fußboden, als wäre es eine Landkarte, die ihn an den Ort führen würde, an dem alle Antworten zu finden waren.
Es hieß, dass sich Percy Bates in fünfundzwanzig Jahren keinen Deut verändert hatte. Seine gepflegte, eins achtundsiebzig große Erscheinung hatte kein Pfund zu- oder abgenommen. Sein Haar war pechschwarz und wies nicht eine graue Strähne auf, und es war exakt genauso gekämmt wie damals, als er frisch von der Akademie gekommen war und zum ersten Mal die Büros des FBI betreten hatte. Es war, als hätte man ihn in diesem Zustand schockgefroren, und das war mehr als erstaunlich angesichts einer Arbeit, die die meisten Leute vorzeitig altern ließ. In der Bundesbehörde war er schon fast so etwas wie eine Legende. Er hatte großes Unheil unter den Drogenhändlern an der texanischmexikanischen Grenze angerichtet, dann hatte er im Field Office von L.A. die Westküste aufgemischt. Er hatte sehr schnell Karriere gemacht und gehörte gegenwärtig zu den Topleuten im Washington Field
Office, im »WFO«, wie es genannt wurde. Er hatte Erfahrungen in allen größeren Abteilungen der Behörde gesammelt und wusste über alle internen Belange Bescheid.
Bates, der Perce genannt wurde, sprach gewöhnlich sehr leise. Trotzdem konnte er einen Untergebenen mit einem Blick schrumpfen lassen, bis man sich für jeden Quadratzentimeter des Fußbodens schämte, den man für sich beanspruchte. Man war entweder sein bester Kumpel oder sein schlimmster Feind. Wer mit dem Namen Percy aufwuchs, musste vielleicht so werden.
Web hatte schon einige der klassischen Bates-Tiraden über sich ergehen lassen müssen, als er ein direkter Untergebener des Mannes gewesen war, während seines früheren Berufslebens im FBI. Ein großer Teil der Vorwürfe war durchaus berechtigt gewesen, da Web Fehler gemacht hatte und noch Erfahrungen als Agent hatte sammeln müssen. Allerdings suchte sich auch Bates von Zeit zu Zeit einen Sündenbock, wenn etwas schief gelaufen war. Deshalb war Web auch nicht bereit, seine gedämpfte Stimme als Zeichen des Friedens und des Wohlwollens zu verstehen. Doch in der Nacht, als Web sein halbes Gesicht im Kampfgetümmel verloren hatte, war Bates einer der Ersten gewesen, die an sein Bett gekommen waren, und das hatte Web niemals vergessen. Nein, Percy Bates war keine simple Gleichung. Bates und er würden niemals enge Freunde werden, aber auch beim FBI konnte man sich gegenseitig respektieren - mit der nötigen Vorsicht.
»Ich weiß, dass Sie uns bereits die wichtigsten Fakten mitgeteilt haben, aber wir brauchen Ihre vollständige Aussage, sobald Sie dazu in der Lage sind«, sagte Bates. »Sie müssen nichts überstürzen. Nehmen Sie sich Zeit, kommen Sie wieder zu Kräften.«
Die Botschaft war eindeutig. Die Ereignisse waren für alle ein schwerer Schock. Von Bates waren keine Wutausbrüche zu befürchten. Wenigstens vorläufig nicht.
»Mehr Kratzer als alles andere«, antwortete Web murmelnd.
»Es heißt, Sie haben eine Schussverletzung an der Hand. Ihr ganzer Körper ist mit Prellungen und Schürfwunden übersät. Die Ärzte sagen, Sie sehen aus wie jemand, der kräftig mit einem Baseballschläger verdroschen wurde.«
»Nichts«, erwiderte Web und fühlte sich nach diesem einen Wort zutiefst erschöpft.
»Sie müssen sich noch eine Weile ausruhen. Dann nehmen wir Ihre Aussage auf.« Bates erhob sich. »Ich weiß, dass es schwer für Sie sein wird, aber wenn Sie dazu imstande sind, wäre es sehr hilfreich, wenn wir noch einmal an den Ort des Geschehens gehen und Sie uns genau zeigen, was passiert ist.«
Und wie es mir gelungen ist zu überleben? Web nickte. »Das schaffe ich schon.«
»Überstürzen Sie nichts«, wiederholte Bates. »Es wird kein Spaziergang sein. Aber wir müssen es hinter uns bringen.« Er klopfte Web auf die Schulter und ging zur Tür.
Web versuchte sich aufzusetzen. »Perce?« In der Dunkelheit war das Weiß in Bates' Augen das Einzige, was er sehen konnte. Auf Web wirkten sie wie zwei Würfel, die sein weiteres Schicksal bestimmen würden. »Sie sind alle tot, nicht wahr?«
»Alle«, bestätigte Bates. »Sie sind als Einziger übrig geblieben, Web.«
»Ich habe alles getan, was ich konnte.«
Die Tür öffnete und schloss sich, dann war Web wieder allein.
Draußen im Korridor beriet sich Bates mit mehreren Männern, die genauso wie er gekleidet waren: unauffälliger blauer Anzug, weißes Oberhemd mit geknöpftem Kragen, dezente Krawatte, schwarze Schuhe mit Gummisohlen und eine große Pistole in kleinem Halfter.
»Sie wissen, dass diese Sache eine Schlammschlacht in den
Medien auslösen wird«, sagte einer von ihnen. »Sie hat sogar schon angefangen.«
Bates schob sich einen Streifen Kaugummi in den Mund. Es war der Ersatz für die Winston-Zigaretten, mit denen er jetzt zum fünften Mal aufgehört hatte.
»Die Bedürfnisse von irgendwelchen Pressefritzen stehen nicht sehr weit oben auf meiner Prioritätenliste«, sagte er.
»Sie müssen die Journalisten auf dem Laufenden halten, Perce. Wenn Sie's nicht tun, werden sie sich alles Weitere aus den Fingern saugen. Sie glauben nicht, was darüber bereits im Internet steht! Angeblich hängt dieses Massaker entweder mit der apokalyptischen Rückkehr von Jesus zusammen, oder es hat etwas mit einer chinesischen Wirtschaftverschwörung zu tun. Wie kommen diese Leute auf so einen Blödsinn? Damit treiben sie unsere PR-Leute in den Wahnsinn!«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass irgendwer den Mumm aufbringt, uns so etwas anzutun«, sagte ein anderer Mann, der im Staatsdienst grau und fett geworden war. Bates wusste, dass gerade dieser Agent seit mindestens zehn Jahren nicht mehr als den Papierkrieg auf dem Schreibtisch in seinem Büro erlebt hatte, obwohl er gern so tat, als wäre das Gegenteil der Fall. »Weder die Kolumbianer noch die Chinesen, nicht einmal die Russen würden es wagen, sich uns auf diese Weise entgegenzustellen.«
Bates warf dem Mann einen verächtlichen Blick zu. »Es geht immer um uns gegen sie. Wir versuchen immer wieder, die da draußen fertig zu machen. Glauben Sie wirklich, sie würden niemals auf die Idee kommen, es uns eines Tages heimzuzahlen?«
»Mein Gott, Perce, denken Sie doch mal darüber nach! Man hat soeben einen kompletten Trupp unserer Leute abgeschlachtet! Auf unserem eigenen Grund und Boden!«, tobte der Alte entrüstet.
Perce musterte ihn und sah einen Elefanten ohne Stoßzähne, der kurz davor stand, zu sterben und zum Festmahl für die Aasfresser des Dschungels zu werden. »Ich wusste gar nicht, dass wir Besitzansprüche auf diesen Teil von D.C. erhoben haben«, sagte Bates. Er hatte seit vorgestern nicht mehr geschlafen, was sich nun allmählich bemerkbar machte. »Ich hatte eher den Eindruck, es sei ihr Grund und Boden, den wir lediglich als Besucher betreten haben.«
»Sie wissen genau, was ich meine. Was könnte sie zu einem derartigen Frontalangriff bewogen haben?«
»Na, warum mögen sie uns wohl nicht, was meinen Sie? Vielleicht weil wir uns so hartnäckig darum bemühen, die Drogenpipeline zu verstopfen, die ihnen eine Milliarde Dollar pro Tag einbringt? Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sie deswegen ziemlich verärgert sind, Sie Idiot!« Mit diesen Worten trieb Bates den Mann in eine Ecke, doch dann sah er ein, dass der Kerl viel zu harmlos war, um eine Dienstaufsichtsbeschwerde zu riskieren.
»Wie geht es ihm?«, fragte ein anderer Mann. Er hatte blondes Haar und eine rote Nase von einer Grippe.
Bates lehnte sich gegen die Wand, kaute auf dem Kaugummi und zuckte dann mit den Achseln. »Ich glaube, sein Kopf hat mehr darunter gelitten als alles andere. Aber das war zu erwarten.«
»Er hat ziemliches Glück gehabt, wie es scheint«, bemerkte der Mann mit der roten Nase. »Wir können nur mutmaßen, wieso er überlebt hat.«
Es dauerte weniger als eine Sekunde, bis Bates direkt vor ihm stand. Offenbar war er heute nicht der Stimmung, Gefangene zu machen. »Sie bezeichnen es als Glück, wenn Sie zusehen dürfen, wie sechs Leute Ihres Teams vor Ihren Augen in Stücke zerrissen werden? Ist es das, was Sie sagen wollen, Sie verdammtes Arschloch?«
»Um Himmels willen, Perce! So habe ich das nicht gemeint. Das wissen Sie doch ganz genau.« Rotnase bekam einen heftigen Hustenanfall, als wollte er Bates demonstrieren, dass er krank und nicht kampftauglich war.
Bates entfernte sich von ihm. Alle widerten ihn an. »Im Augenblick weiß ich gar nichts. Nein, das nehme ich zurück. Ich weiß, dass Web im Alleingang acht MG-Stellungen ausgeschaltet hat. Und dass er einem weiteren Trupp und einem Straßenkind das Leben gerettet hat. Das weiß ich mit Bestimmtheit.«
»Im vorläufigen Bericht heißt es, dass Web zu keiner Bewegung mehr fähig war.« Dieser Einwurf kam von einem anderen Mann, der sich zu ihnen gesellt hatte, obwohl er rangmäßig weit über allen anderen stand. Zwei Kerle mit steinernen Mienen bildeten das Gefolge des Eindringlings. »Und wir wissen nur das, was Web uns erzählt hat, Perce«, fuhr der Mann fort. Obwohl Percy Bates offensichtlich im Dienstrang unter ihm stand, war es genauso offensichtlich, dass Bates ihm am liebsten den Kopf abgerissen hätte.
»London wird uns noch einiges erklären müssen«, fuhr der Mann fort. »Und wir werden diesen Fall mit größter Aufmerksamkeit untersuchen. Wir werden unsere Augen viel weiter aufhalten als gestern. Die vergangene Nacht war eine Demütigung. So etwas wird nie wieder geschehen. Nicht, solange ich die Verantwortung trage.« Er starrte Bates an, dann fügte er mit der sarkastischen Wucht eines Vorschlaghammers hinzu: »Grüßen Sie London von mir.« Damit stapfte Buck Winters, der Leiter des Washington Field Office, davon, gefolgt von seinen zwei Robotern.
Bates blickte ihm voller Verachtung nach. Winters war einer der Hauptverantwortlichen in Waco gewesen und hatte nach Bates' Meinung durch seine Unfähigkeit entscheidend dazu beigetragen, dass der Einsatz zu einem Debakel geworden war. Aber wie es in großen Organisationen nun einmal zuging, war
Winters gerade aufgrund seiner Inkompetenz immer weiter befördert worden, bis er die Spitze des WFO erreicht hatte. Vielleicht wollte die Behörde nur nicht zugeben, dass sie Mist gebaut hatte, und glaubte, der Welt ihre Unschuld demonstrieren zu können, indem sie jemanden beförderte, der am Waco-Fiasko beteiligt gewesen war. Irgendwann waren wegen der katastrophalen Panne mit David Koresh in Texas viele Köpfe gerollt, aber Buck Winters' Kopf saß immer noch fest auf seinen Schultern. Für Percy Bates war Winters ein Symbol all dessen, was mit dem FBI nicht in Ordnung war.
Bates lehnte sich wieder gegen die Wand, verschränkte die Arme und kaute so heftig auf seinem Wrigley's herum, dass ihm die Zähne wehtaten. Er war überzeugt, dass der alte Buck direkt zum FBI-Chef, zum Generalstaatsanwalt oder vielleicht sogar zum Präsidenten lief. Bates konnte es egal sein, solange all diese Leute ihn in Ruhe ließen.
Die Gruppe löste sich auf, als sich die Männer allein oder zu zweit davonschlichen, bis nur noch Bates und der uniformierte Wachmann übrig waren. Schließlich entfernte sich auch Bates. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und den Blick ins Leere gerichtet. Auf dem Weg nach draußen spuckte er seinen Kaugummi in einen Papierkorb. »Arschlöcher und Idioten«, sagte er. »Alle zusammen.«
KAPITEL 4
Web trug einen blauen Krankenhauskittel und hielt eine Tasche mit seinen persönlichen Sachen in der Hand, als er auf den sonnigen Himmel starrte, der das Fenster seines Krankenzimmers ausfüllte. Der Verband um seinen verletzten Kopf störte ihn; er kam sich vor, als würde er einen Boxhandschuh tragen.
Er wollte gerade die Tür öffnen, um zu gehen, als sie von selbst aufging. Zumindest erschien es Web so, bis er den Mann sah, der sie geöffnet hatte.
»Was machst du denn hier, Romano?«, sagte Web überrascht.
Der Mann nahm Web zunächst gar nicht zur Kenntnis. Er war gut eins achtzig groß und wirkte trotz seiner sehnigen Konstitution sehr kräftig. Er hatte dunkles, gewelltes Haar und trug Jeans, eine alte Lederjacke und eine Baseballkappe der Yankees. Sein FBI-Abzeichen war am Gürtel befestigt, aus dem verschließbaren Halfter ragte der Griff einer Pistole hervor.
Romano musterte Web von oben bis unten. Dann konzentrierte sich sein Blick auf Webs bandagierte Hand, und er zeigte mit dem Finger darauf. »Das ist alles? Das ist deine verdammte Verletzung?«
Web betrachtete seine Hand. »Wärst du glücklicher, wenn ich eine Kugel durch den Kopf bekommen hätte?«
Paul Romano war ein Mitglied des Hotel-Teams und ein Mann, der einem instinktiv Angst einjagte - was einiges über ihn aussagte, da seine Kollegen auch nicht gerade harmlos wirkten. Bei ihm wusste man sofort, woran man war, aber es war kein gutes Gefühl, das er einem vermittelte. Web und er hatten sich nie besonders nahe gestanden - Web vermutete, weil er mehr Leute erschossen hatte als Romano und der sich einfach nicht damit abfinden konnte, dass jemand zäher oder heldenhafter war als er selbst.
»Ich frag dich nur einmal, Web, und ich will eine klare Antwort. Wenn du mich verarschen willst, mache ich dich fix und fertig.«
Web blickte auf den Kerl herab und trat ein Stückchen näher heran, damit seine überlegene Körpergröße noch etwas besser zur Geltung kam. Er wusste genau, dass Romano ihm auch das übel nehmen würde. »Schön, dich zu sehen, Paulie! Hast du mir auch Blumen und Pralinen mitgebracht?«
»Gib mir einfach nur 'ne klare Antwort, Web.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Bist du weggetreten?«
»Ja, Paulie. Irgendwie müssen sich die Maschinengewehre gegenseitig abgeknallt haben.«
»Ich meine, davor. Als das Charlie-Team zu Boden ging. Du warst nicht bei ihnen. Warum?«
Web spürte, wie sein Gesicht warm wurde, und er verfluchte sich selbst dafür. Normalerweise konnte Romano ihm nichts anhaben. Trotzdem wusste Web nicht, was er ihm antworten sollte.
»Irgendwas ist in meinem Kopf passiert, Paulie. Ich weiß auch nicht, was. Aber ich hatte nichts mit dem Hinterhalt zu tun, falls dir etwas Derartiges in den Sinn kommen sollte.«
Romano schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass du zum Verräter geworden bist, Web. Ich frage mich nur, ob du plötzlich durchgeknallt bist.«
»Wenn du gekommen bist, um mir das zu sagen, kannst du dich jetzt wieder verpissen.«
Erneut musterte Romano ihn von oben bis unten, und Web verlor mit jedem Blick ein Stück Selbstbewusstsein. Ohne ein Wort drehte sich Romano um und ging. Web wäre es lieber gewesen, er hätte noch irgendeine Beschimpfung ausgestoßen,
als sich auf diese Weise wortlos zu entfernen.
Web wartete ein paar Minuten ab, dann öffnete er die Tür.
»Was haben Sie vor?«, fragte der Wachmann überrascht.
»Die Ärzte haben mich gesundgeschrieben. Hat man es Ihnen nicht gesagt?«
»Niemand hat mir etwas gesagt.«
Web hob die bandagierte Hand. »Die Regierung bezahlt mir keine weitere Nacht, nur weil ich einen Kratzer an der Hand habe. Und ich habe keine Lust, mir auch nur einen Cent von meinem lausigen Gehalt abziehen zu lassen.« Web kannte den Wachmann nicht, aber er machte den Eindruck, als würde er mit Verständnis auf ein solches Argument reagieren. Web wartete nicht auf eine Antwort, sondern marschierte einfach los. Er wusste, dass der Wachmann keine Handhabe hatte, ihn aufzuhalten. Er würde lediglich seinen Vorgesetzten Meldung über die neue Entwicklung machen, was er bestimmt im gleichen Moment tat.
Web schlich sich durch einen Nebeneingang nach draußen, suchte eine Telefonzelle und rief einen alten Kumpel an. Eine Stunde später saß er in einem dreißig Jahre alten Vorstadthaus in Woodbridge, Virginia. Er wechselte seine Kleidung und zog Jeans, Halbschuhe und ein marineblaues Sweatshirt an. Er riss den Verband herunter und ersetzte ihn durch ein simples Heftpflaster. Er wollte kein Mitleid, nicht, nachdem jetzt sechs seiner besten Freunde im Leichenschauhaus lagen.
Er ging seine Post durch. Es war nichts von Bedeutung dabei, aber er wusste, dass sich das bald ändern würde. Aus dem Versteck im Kamin holte er seine Neun-Millimeter-Ersatzpistole und steckte sie in seine Gürteltasche. Obwohl er niemanden erschossen hatte, war er jetzt ein Fall für die Untersuchungskommission für Schusswaffengebrauch, da Web unzweifelhaft seine Waffe abgefeuert hatte. Sie hatten seine Waffen konfisziert, was einer Amputation seiner Hände gleichkam. Dann war er über seine Rechte belehrt worden, bevor er seine Aussage machen durfte. Diese Prozeduren waren vorschriftsmäßige Routine, aber er kam sich trotzdem wie ein Verbrecher vor. Auf jeden Fall wollte er nicht ohne jegliche Hardware herumlaufen. Er war von Natur aus paranoid und nach dem Massaker an seinen Kameraden obendrein schizoid, sodass er nun sogar in Babys oder Kaninchen eine mögliche Bedrohung sah.
Er ging in die Garage, warf seinen pechschwarzen 1978er- Ford-Mach-One an und fuhr los.
Web hatte zwei Fahrzeuge, den Mach und einen uralten, schweren Suburban, der ihn und das Charlie-Team zu vielen Footballspielen der Redskins, an die Strände von Virginia und Maryland, zu Sauftouren und vielen anderen Unternehmungen entlang der Ostküste transportiert hatte. Jeder Mann hatte seinen festen Platz im Suburban gehabt, gerecht verteilt nach Lebensund Dienstalter. So war es immer geregelt worden, wo Web gearbeitet hatte. Was sie alles in diesem Schlachtschiff erlebt hatten! Jetzt fragte sich Web, wie viel Geld er noch für den Suburban bekommen würde, weil er bezweifelte, dass er dieses Monstrum jemals wieder selbst in Bewegung setzen würde.
Er nahm die Interstate 95 Richtung Norden und kämpfte sich durch den Hindernisparcours der Springneid-Kreuzung, die offensichtlich ein Highway-Planer im Suff entworfen hatte. Nachdem jetzt großmaßstäbliche Ausbesserungsarbeiten begonnen hatten, die mindestens zehn Jahre dauern sollten, konnte sich jeder Autofahrer aussuchen, ob er lachen oder weinen wollte, wenn seine Lebensjahre verflossen, während der Verkehr zentimeterweise vorankam. Web schwebte über die Fourteenth-Street-Brücke, durchquerte den NordwestQuadranten, wo sich alle größeren Sehenswürdigkeiten und die Touristen-Dollars konzentrierten, und erreichte bald einen nicht so netten Teil der Stadt.
Web war Agent des FBI, aber er selbst sah sich gar nicht als solcher. In erster Linie war er ein Mitarbeiter des HRT, des »Hostage Rescue Team«. Das Geiselrettungsteam war die Elitetruppe der Behörde für Noteinsätze. Web trug keine Anzüge. Er verbrachte außerhalb seiner Abteilung nicht viel Zeit mit Kollegen. Er traf nicht erst dann am Schauplatz eines Verbrechens ein, wenn keine Kugeln mehr flogen. Er war gewöhnlich von Anfang an dabei, er rannte, duckte sich, feuerte, verletzte und tötete manchmal. Da der Auswahlprozess ziemlich hart war, arbeiteten nur fünfzig Leute im HRT. Im Durchschnitt blieben sie fünf Jahre in der Abteilung. Web hatte sich dem allgemeinen Trend verweigert und war nun schon im achten Jahr dabei. Es schien, dass die Geiselrettung in letzter Zeit viel häufiger zum Einsatz kam, an Brennpunkten auf der ganzen Welt, wobei die Abteilung die ungeschriebene Regel befolgte, ihre Leute nicht weiter als vier Stunden Autofahrt von der Andrews Air Force Base entfernt in Bereitschaft zu halten. Nun, was das betraf, war für Web jetzt der Ofen aus. Er hatte kein Team mehr.
Web war niemals auf die Idee gekommen, dass er eines Tages als einziger Überlebender dastehen könnte. Diese Vorstellung war einfach absurd. Alle hatten Scherze darüber gemacht, sie hatten sogar makabre Wetten abgeschlossen, wer in einer mondlosen Nacht sterben würde. Web war fast immer der Erste auf der Liste gewesen, weil er stets in vorderster Front gestanden hatte. Jetzt quälte es ihn, dass er nicht wusste, was ihn vor dem siebten Sarg bewahrt hatte. Und das Einzige, was schlimmer war als die Schuldgefühle, war die Schande.
Er fuhr mit dem Mach an den Bordstein und stieg vor der Absperrung aus. Er zeigte den dort postierten Männern seinen Ausweis. Alle reagierten überrascht, ihn hier zu sehen. Web lief in die Nebenstraße, bevor die Reporterarmee ihn abfangen konnte. Seit dem Massaker hatten sie live vom Schauplatz berichtet. Überall standen ihre Übertragungswagen mit den hohen Masten der Satellitenantennen. Web hatte im
Krankenhaus einen Teil der Nachrichten aufgeschnappt. Sie fütterten die Öffentlichkeit immer wieder mit den gleichen Fakten und präsentierten kleine Tabellen und Bilder und sagten mit säuerlicher Miene: »Das ist alles, was wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen. Bleiben Sie dran. Später können wir Ihnen bestimmt mehr berichten, und wenn wir uns etwas aus den Fingern saugen müssen. Ich gebe zurück ins Studio.« Web lief die Straße entlang.
Das Gewitter der vergangenen Nacht hatte sich längst Richtung Atlantik verzogen. Die nachfolgenden Luftmassen waren kühler als in den Wochen davor. Washington war auf einem Sumpf erbaut worden und kam mit Hitze und Luftfeuchtigkeit viel besser zurecht als mit Kälte und Schnee. Wenn es hier schneite und man sah, wie tatsächlich eine Straße geräumt wurde, konnte man sich sicher sein, dass man nur träumte.
Auf halbem Wege traf er Bates.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte Bates.
»Sie haben gesagt, ich soll Ihnen zeigen, was geschehen ist. Hier bin ich.« Bates blickte skeptisch auf Webs Hand. »Verlieren wir keine Zeit, Perce. Jede Minute zählt.«
Web begann an der exakten Stelle, wo der Chevy sie abgesetzt hatte, und ging noch einmal den Weg ab, den sein Trupp genommen hatte. Mit jedem Schritt, den er sich dem Ziel näherte, wuchsen sein Zorn und seine Angst. Die Leichen waren nicht mehr da, aber das Blut. Selbst der heftige Regenguss hatte es offenbar nicht geschafft, alle Spuren zu beseitigen. Web ging im Geist noch einmal jede Bewegung durch, die er gemacht hatte, und jedes Gefühl, das er empfunden hatte.
Die zerstörten Maschinengewehrstellungen wurden von einem Team zerlegt und untersucht, das sich darauf spezialisiert hatte, aus mikroskopischen Krümeln juristische Beweismittel zu fabrizieren. Andere liefen auf dem quadratischen Hof umher, gingen in die Knie, bückten sich, stellten kleine Schilder neben Dingen auf, die am Boden lagen, untersuchten sie und forschten nach Hinweisen auf Antworten. Web hätte gern wenigstens die Fragen gewusst. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass es in der Umgebung der Waffen ausgeprägte Bogen und deutliche Wirbel gab, die nur darauf warteten, von den Fingerabdruckexperten entdeckt zu werden. Wer diesen ausgefeilten Hinterhalt geplant hatte, würde niemals so nachlässig vorgehen.
Web bewegte sich auf Zehenspitzen zwischen den Blutflecken hindurch, als würde er über einen Friedhof laufen - und in gewisser Weise war es ja auch so.
»Die Fenster waren schwarz gestrichen, sodass die Maschinengewehre nicht zu erkennen waren, bevor das Feuer eröffnet wurde. Keine Lichtreflexe auf den Läufen, gar nichts«, sagte Bates.
»Gut zu wissen, dass wir von Profis reingelegt wurden«, meinte Web verbittert.
»Sie haben ganze Arbeit geleistet«, sagte Bates und zeigte auf eine der zerstörten Waffen.
»Das war die SR75. Die hat mir das abgenommen.«
»Es sind Mini-MGs, aus Militärbeständen. Typ Gatling, sechsläufig, auf Stativen montiert, alle drei Beine am Boden festgeschraubt, damit die Feuerposition nicht abweicht. In jede Waffe war ein Patronengurt mit insgesamt viertausend Schuss eingelegt. Die Feuergeschwindigkeit war auf vierhundert pro Minute eingestellt, obwohl dieser Typ ein Maximum von achttausend erreicht.«
»Vierhundert ist schon 'ne ganze Menge. Außerdem waren es insgesamt acht MGs. Das bedeutet, dass einem in sechzig Sekunden dreitausendzweihundert Kugeln um die Ohren fliegen. Ich weiß es genau, weil mich alle bis auf einen Querschläger um wenige Zentimeter verfehlt haben.«
»Bei dieser niedrigen Schussfrequenz konnten die MGs sehr
lange feuern.«
»Das haben sie auch gemacht.«
»Die Energiequelle war elektrisch, und sie waren mit panzerbrechenden Patronen bestückt.«
Web schüttelte nur den Kopf. »Konnten Sie feststellen, wie sie ausgelöst wurden?«
Bates führte ihn zu einer Ziegelwand, die der Straße gegenüberlag, durch die Web gekommen war. Sie verlief im rechten Winkel zu dem verlassenen Mietshaus, das das Ziel ihres Einsatzes gewesen war und von dem eine Hälfte des Dauerfeuers gekommen war, das Charlie ausgelöscht hatte - bis auf Web. Was im Dunkeln unsichtbar gewesen war, ließ sich bei Tageslicht nur wenig besser erkennen.
Web ging in die Knie und betrachtete etwas, das wie ein Lasergerät aussah. Man hatte ein kleines Loch in den Ziegelstein gehauen und den Laser und eine Batterie eingesetzt. Das Loch war recht tief, sodass auf den ersten Blick kaum etwas Ungewöhnliches zu sehen war. Die Scharfschützen hätten es von ihren Posten aus niemals bemerkt, selbst wenn sie danach Ausschau gehalten hätten, und die Voruntersuchungen hatten, soweit Web wusste, keinen Hinweis auf etwas Derartiges geliefert. Der Laser befand sich auf Kniehöhe, und der unsichtbare Lichtstrahl verlief zweifellos über den gesamten Hinterhof, wenn er aktiviert war.
»Wenn der Lichtstrahl unterbrochen wird, beginnen die Waffen zu feuern und hören, mit Ausnahme einer Pause von wenigen Sekunden nach jeder Runde, nicht mehr auf, bis die Munition aufgebraucht ist.« Er sah sich verwirrt um. »Was wäre passiert, wenn ein Hund oder eine Katze oder ein Mensch zufällig hier entlanggelaufen wäre, bevor wir eintrafen?«
Bates' Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel, dass er bereits über diese Möglichkeit nachgedacht hatte. »Ich schätze, dass die Leute in der Umgebung mehr oder weniger diskret gewarnt wurden, damit sie sich fern halten. Tiere wären ein anderes Problem. Also glaube ich, dass der Laser per Fernsteuerung scharf gemacht wurde.«
Web erhob sich. »Also haben sie gewartet, bis wir in unmittelbarer Nähe waren, und dann den Laser aktiviert. Das bedeutet, dass sich jemand nicht allzu weit von hier entfernt aufgehalten hat.«
»Entweder hat er gehört, wie Sie gekommen sind, oder man hat es ihm irgendwie mitgeteilt. Dann musste er nur ein Weilchen abwarten, bis er davon ausgehen konnte, dass Sie den Hinterhof erreicht haben. Dann hat er auf den Knopf gedrückt und sich aus dem Staub gemacht.«
»Wir haben nicht eine einzige Seele im Hof gesehen, und mein ISG hat nirgendwo eine Temperatur von 37 Grad registriert.«
»Sie könnten im Gebäude gewesen sein - verdammt, in jedem dieser Gebäude! Sie halten einfach die Fernbedienung aus dem Fenster und zischen ab.«
»Und weder die Scharfschützen noch Hotel haben etwas gesehen?«
Bates schüttelte den Kopf. »Hotel sagt, sie hätten absolut nichts gesehen, bis der Junge mit Ihrer Nachricht zu ihnen kam.«
Als sie über Hotel sprachen, dachte Web an Paul Romano und fühlte sich noch schlechter als zuvor. Wahrscheinlich war Romano in diesem Moment in Quantico und erzählte allen, dass Web zum Feigling geworden war, der seine Leute in den Tod rennen ließ und nun die Schuld auf einen mentalen Aussetzer schob. »Und Whiskey? Oder X-Ray? Die Scharfschützen müssen doch irgendwas gesehen haben«, sagte Web.
»Sie haben verschiedene Dinge gesehen, aber ich bin noch nicht bereit, darüber zu reden.«
Webs Instinkt riet ihm, nicht weiter auf diesen Punkt einzugehen. Was konnten die Scharfschützen gesagt haben? Dass sie gesehen hatten, wie Web erstarrte, seine Leute weiterlaufen ließ und sich dann zu Boden warf, während seine Kameraden niedergemäht wurden? »Was ist mit der DEA? Sie waren bei Hotel, und irgendwo hatten sie auch noch eine Reserveeinheit stationiert.«
Bates und Web blickten sich an, und Bates schüttelte den Kopf.
Das FBI und die DEA, die Drug Enforcement Administration, waren nicht gerade die dicksten Freunde. Für Web war die Drogenbehörde immer wie der kleine Bruder gewesen, der seinem älteren Bruder gegen das Schienbein trat, bis der Ältere zurückschlug und der kleine Bengel schreiend davonlief, um sich über ihn zu beschweren.
»Dann müssen wir das wohl so akzeptieren, bis wir was Konkreteres in der Hand haben«, sagte Web.
»Scheint so. Hat irgendwer von Ihnen ein Nachtsichtgerät getragen?«
Web verstand sofort die Logik hinter dieser Frage. Mit einer Nachtsichtbrille hätte man den Laserstrahl sehen müssen, als langen, unverkennbaren Lichtstreifen.
»Nein. Ich hab mein ISG aufgesetzt, nachdem die Schießerei begann. Aber im Kampfeinsatz tragen wir keine Nachtsichtbrillen. Der Restlichtverstärker hellt jedes Licht auf, sodass man praktisch blind ist, wenn man die Brille zum Schießen abnehmen muss. Und die Scharfschützen haben während des Angriffs vermutlich auch keine getragen, weil sie die räumliche Wahrnehmung durcheinander bringen.«
Bates deutete mit einem Nicken auf die ausgeschlachteten Gebäude, in denen die Maschinengewehre aufgebaut worden waren. »Die Techniker haben die Waffen untersucht. Jede war mit einem Signalgeber ausgestattet. Sie glauben, dass sie auf ein paar Sekunden Verzögerung eingestellt waren. Die MGs sollten nicht sofort losfeuern, sobald das Charlie-Team den Laser auslöste, sondern erst, wenn sich alle Leute mitten in der Todeszone befanden. Der breite Schusswinkel war auf solche Toleranzen ausgelegt.«
Web wurde plötzlich schwindlig, und er stützte sich mit der Hand an der Mauer ab. Es war, als würde er noch einmal dieselbe Lähmung erleben wie während des verfluchten Angriffs.
»Sie hätten sich etwas mehr Zeit lassen sollen, um sich zu erholen«, sagte Bates und hielt Webs Arm fest, um ihn zu stützen.
»Ich habe mir an scharfen Papierkanten schon schlimmere Verletzungen zugefügt.«
»Ich spreche nicht von Ihrer Hand.«
»Auch mit meinem Kopf ist alles in Ordnung - danke, dass Sie so sehr um mein Wohlergehen besorgt sind«, gab Web zurück. Dann entspannte er sich wieder. »Im Augenblick möchte ich lieber etwas tun, statt nur zu grübeln.«
In der nächsten halben Stunde beschrieb Web alle Personen, denen sie in jener Nacht begegnet waren, und alle Einzelheiten, an die er sich erinnerte, vom Beginn des Einsatzes bis zur letzten abgefeuerten Kugel.
»Glauben Sie, irgendjemand von ihnen könnte für unsere Gegner gearbeitet haben?«, fragte Bates und bezog sich auf die Leute, die sich in der Umgebung des Ziels aufgehalten hatten.
»In dieser Gegend ist alles möglich«, sagte Web. »Offensichtlich gab es irgendwo eine undichte Stelle. Und sie könnte sich an jedem beliebigen Punkt der Hierarchie befunden haben.«
»Ja, es sind viele Möglichkeiten denkbar«, entgegnete Bates. »Gehen wir mal ein paar davon durch.«
Web zuckte mit den Achseln. »Das hier war kein normaler Dreimal-Acht-Fall«, sagte Web und spielte damit auf das aus drei Achten bestehende Signal an, das auf seinem Pager erschien, wenn sämtliche Mitarbeiter der Geiselrettung ihren Arsch in Richtung Quantico in Bewegung setzen sollten. »Es wurde bereits einige Zeit im Voraus entschieden, dass wir gestern zuschlagen sollten. Also haben sich alle in der Zentrale getroffen, um die Ausrüstung und die Befehle in Empfang zu nehmen. Dann fuhren wir mit den Suburbans hinaus. Die Generalprobe fand in Buzzard Point statt, anschließend begaben wir uns zum Zielgebiet. Ein Staatsanwalt hat sich bereitgehalten, falls wir weitergehende Befugnisse benötigten. Die Scharfschützen waren bereits an Ort und Stelle. Sie hatten sich als Lüftungstechniker verkleidet, die angeblich Wartungsarbeiten auf den Dächern zweier Gebäude in der Nähe durchführen sollten. Das Team hat sich wie üblich mit den örtlichen Polizeikräften abgesprochen. Als wir unsere letzte Deckung verlassen hatten, forderte Teddy Riner wegen der ungünstigen Logistik eine Einsatzfreigabe an und bekam sie. Wir wollten die Erlaubnis, ohne lange Rückfragen feuern zu dürfen, wenn es nötig war. Wir wussten, dass es riskant war, frontal gegen das Zielobjekt vorzugehen, und dass wir im Hinterhof möglicherweise Gegenfeuer zu erwarten hatten, aber wir dachten uns, dass niemand mit einem solchen Manöver rechnen würde. Außerdem hatten wir aufgrund der Lage des Gebäudes nicht viele Alternativen. Wir bekamen grünes Licht für den Vorstoß in die Krisenzone, und dann gab TOC den Countdown für den Beginn des Sturmangriffs vor. Es gab für uns nur eine Stelle, wo der Durchbruch erfolgen konnte. Der Plan sah vor, dass wir uns im Gebäude aufteilen und aus zwei Richtungen angreifen sollten, während Hotel und die DEA uns von hinten sicherten. Außerdem gab es noch eine Reserveeinheit und die Scharfschützen, um Widerstand auszuschalten und uns Rückendeckung zu geben. Wir sollten schnell und hart
zuschlagen. Wie immer.«
Die Männer setzten sich auf Abfalleimer. Bates warf eine Kaugummipackung in den Müll, zog eine Schachtel Zigaretten hervor und bot Web eine an, der dankend ablehnte.
»Die örtliche Polizei kannte das Zielobjekt, nicht wahr?«, fragte Bates.
Web nickte. »Jedenfalls die ungefähre Lage. So, dass sie die Umgebung im Auge behalten und abriegeln konnte, damit die Zielpersonen nicht durch Komplizen vorgewarnt wurden, und so weiter.«
»Was schätzen Sie, wie viel Zeit blieb den Anwohnern, falls es hier irgendwo eine undichte Stelle gab?«
»Vielleicht eine Stunde.«
»Eine solche Todesfalle kann niemand innerhalb einer Stunde vorbereiten.«
»Wer war der Undercover-Agent in diesem Fall?«
»Ich muss Ihnen nicht ausdrücklich sagen, dass Sie seinen Namen mit ins Grab nehmen werden.« Bates machte eine kurze Pause, offenbar, um seine Worte zu unterstreichen, dann sagte er: »Sein Name ist Randall Cove. Ein echter Veteran. Er war ganz tief drin. Ich meine, richtig tief, er hat sich quasi durch die Kloaken vorgearbeitet. Ein Afroamerikaner mit einer Figur wie ein Truck, der sich bestens auf den Straßen auskennt. Er hat jede Menge solcher Aktionen durchgezogen.«
»Und was sagt er zu der ganzen Geschichte?«
»Ich kann es nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihn im Moment nicht erreichen kann.« Bates hielt inne, dann setzte er hinzu: »Wissen Sie genau, dass Cove gewusst hat, wann der Angriff erfolgen sollte?«
Web überraschte diese Frage. »Die Frage müssten Sie eigentlich viel besser beantworten können als ich. Ich kann
Ihnen nur definitiv sagen, dass wir keine Mitteilung über einen Undercover-Mann oder irgendwelche Informanten im Zielobjekt erhalten haben. Normalerweise werden wir vorab darüber informiert. Damit wir wissen, wer sie sind und wie sie aussehen, und wir sie genauso wie alle anderen festnehmen und abführen können, sodass die Zielpersonen keinen Verdacht schöpfen und sich nicht an ihnen rächen.«
»Wie viel wussten Sie über das Ziel des Einsatzes?«
»Dass es ein Finanzzentrum der Drogenbosse war. Dass Erbsenzähler vor Ort waren. Gut gesichertes Gebäude. Sie wollten die Buchhalter als potenzielle Zeugen, deshalb sollten wir sie wie Geiseln behandeln. Sie ganz schnell einpacken und rausbringen, bevor irgendwer merkt, was geschieht und sie möglicherweise zum Schweigen bringt. Unser Einsatzplan wurde genehmigt, es gib schriftliche Befehle, wir haben Pläne des Zielobjekts erhalten und in Quantico ein Modell davon gebaut. Wir haben so lange trainiert, bis wir jeden Zentimeter kannten. Man hat uns die Verhaltensregeln diktiert, nichts Ungewöhnliches. Dann haben wir unsere Sachen zusammengepackt und sind in den Suburban gestiegen. Ende der Geschichte.«
»Sie haben doch immer Ihre eigenen Späher dabei«, sagte Bates. Er meinte die Scharfschützen, die das Ziel mit Ferngläsern und anderen Sichtgeräten beobachteten. »Haben die nichts bemerkt?«
»Nichts Außergewöhnliches. Sonst hätte man es uns vorher gesagt. Abgesehen von der Rücksichtnahme auf mögliche Zeugen war es für mich eine ganz normale Razzia in einem Drogenzentrum. Nur dass wir uns diesmal die Zähne ausgebissen haben.«
»Wenn es ein ganz normales Drogenzentrum gewesen wäre, hätte man nicht Ihre Truppe angefordert, um es zu knacken, Web. Das WFO hätte seine eigene SWAT-Einheit einsetzen
können.«
»Nun, man hat uns gesagt, dass das Gelände sehr tückisch sein sollte, und das war's ja auch. Und wir wussten, dass unsere Gegner ziemlich gemein werden können, sodass wir Ausrüstung mitgenommen haben, die die SWAT-Teams sich nicht einzusetzen trauen. Und dann war da die Sache mit den potenziellen Zeugen. Damit war es eindeutig ein Fall für uns. Aber niemand von uns hat damit gerechnet, dass wir auf acht ferngesteuerte Mini-MGs stoßen würden.«
»Offensichtlich war das alles Blödsinn. Man hat uns irgendwelchen Mist erzählt. Bis auf die Maschinengewehre war nichts in diesem Gebäude. Ein reiner Hinterhalt. Es gab keine Buchhalter, keine geschäftlichen Unterlagen, nichts.«
Web rieb mit der Hand über die Einschusslöcher in der Ziegelwand. Viele waren so tief, dass er den Betonkern sehen konnte - panzerbrechende Munition, klar. Das einzig Gute daran war, dass seinen Kameraden ein sehr schneller Tod vergönnt gewesen war. »Die Scharfschützen müssen doch was bemerkt haben!« Er hoffte, dass sie das gesehen hatten, was Web veranlasst hatte, instinktiv zu erstarren. Aber wie sollten sie etwas bemerkt haben?
»Ich hab die Gespräche mit den Leuten noch nicht abgeschlossen«, sagte Bates. Mehr wollte er zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht sagen, und wieder beschloss Web, nicht nachzufragen.
»Wo ist der Junge?« Web zögerte und kramte in seinem Gedächtnis. »Kevin.«
Bates zögerte ebenfalls für einen kurzen Moment. »Verschwunden.«
Webs Muskeln spannten sich an. »Wie? Er ist ein Kind.«
»Ich habe nicht gesagt, dass er sich aus eigenem Antrieb aus dem Staub gemacht hat.«
»Wissen wir, wer er ist?«
»Kevin Westbrook. Zehn Jahre alt. In der Nähe leben ein paar Familienangehörige, die meisten jedoch in staatlichen Unterkünften. Er hat einen älteren Bruder, der sich auf der Straße Big F nennt. Das F steht genau für das, was Sie jetzt denken. Der Anführer einer Straßengang, groß wie ein Baum und so clever wie ein Harvard-MBA. Dealt mit Meth und jamaikanischem Gras, dem richtig guten Zeug. Aber es ist uns nie gelungen, genügend Beweise für eine Anklage zusammenzubekommen. Diese Gegend ist gewissermaßen sein Revier.«
Web streckte die Finger seiner verletzten Hand aus. Das Heftpflaster nahm ihm dieses Kunststück übel, und er ärgerte sich, dass er überhaupt daran gedacht hatte, es zu versuchen. »Ein ziemlich verblüffender Zufall, dass der kleine Bruder des Kerls, der hier das Sagen hat, auf der Straße herumlungerte, als wir vorbeikamen.« Während er über den Jungen redete, hatte Web eine merkwürdige Empfindung, als hätte seine Seele für einen Moment den Körper verlassen, um kurz darauf wieder zurückzukehren. Er dachte, er würde tatsächlich das Bewusstsein verlieren. Allmählich fragte er sich, ob er einen Arzt oder einen Exorzisten konsultieren sollte.
»Nun, er wohnt in dieser Gegend. Und soweit wir herausgefunden haben, hat er nicht gerade ein nettes Zuhause. Wahrscheinlich hält er sich so wenig wie möglich dort auf.«
»Und dieser große Bruder ist ebenfalls verschwunden?«, fragte Web, während sein Gleichgewichtssinn zurückkehrte.
»Nicht dass er gewöhnlich unter seiner offiziellen Adresse anzutreffen ist. Wer in dieser Branche arbeitet, ist normalerweise viel unterwegs. Wir haben nicht genug Beweise, um ihn auch nur wegen ungebührlichen Betragens zu belangen. Aber im Augenblick suchen wir sehr intensiv nach ihm.« Er starrte Web an. »Ist mit Ihnen wirklich alles in Ordnung?«
Web winkte ab. »Wie haben Sie den Jungen verloren?«
»Das ist derzeit noch nicht ganz klar. Wir werden mehr wissen, wenn wir die Untersuchung dieses Wohnviertels abgeschlossen haben. Irgendjemand muss gesehen haben, wie diese Waffen angeliefert wurden, wie die MG-Stellung aufgebaut wurde. Sogar in dieser Gegend ist das ein recht ungewöhnlicher Vorgang.«
»Glauben Sie wirklich, dass Ihnen irgendwer etwas erzählen wird?«
»Wir müssen es versuchen, Web. Wir brauchen nur ein einziges Augenpaar, das etwas gesehen hat.«
Die Männer schwiegen eine Weile. Schließlich blickte Bates mit unbehaglicher Miene auf.
»Web, was ist wirklich geschehen?«
»Was meinen Sie damit? Wie es kommt, dass es nicht wie am Schnürchen lief?«
»Ich habe gesagt, was ich meine!«
Web blickte über den Hof auf die Stelle, wo er zu Boden gegangen war. »Ich habe als Letzter die Straße verlassen. Es war, als könnte ich mich nicht mehr rühren. Zuerst dachte ich, ich hätte einen Schlaganfall. Dann lag ich auf dem Asphalt, bevor die Schießerei begann. Ich weiß auch nicht, warum.« Webs Geist war für einen Moment völlig leer, dann war sein Bewusstsein wieder da, wie bei einem Fernseher, wenn in der Nähe ein Blitz einschlug. »Es hat nur eine Sekunde gedauert, Perce. Dann war alles vorbei. Nur eine Sekunde. Das mieseste Timing der Weltgeschichte.« Er beobachtete Bates, um seine Reaktion darauf einzuschätzen. Die leicht zusammengekniffenen Augen des Mannes verrieten ihm alles, was er wissen wollte.
»Vergessen Sie's. Ich glaub auch nicht dran«, sagte Web. Bates schwieg weiter, und Web beschloss, den zweiten Grund anzusprechen, weswegen er gekommen war. »Wo ist die Fahne?«, fragte er. Bates sah ihn überrascht an. »Die Fahne des Geiselrettungsteams. Ich muss sie nach Quantico zurückbringen.«
Bei jeder Mission des HRT erhielt das dienstälteste Mitglied die Fahne des Teams, die er in seiner Ausrüstung bei sich trug. Nach Abschluss der Mission wurde sie an den Leiter der Geiselrettung zurückgegeben. Und nun war Web das dienstälteste Mitglied des Teams, und ihm fiel diese Aufgabe zu.
»Folgen Sie mir«, sagte Bates.
Auf der Straße parkte ein FBI-Wagen. Bates öffnete die Hintertür des Fahrzeugs, holte eine Fahne heraus, die nach militärischer Art zusammengefaltet war, und reichte sie Web.
Web hielt die Fahne mit beiden Händen und starrte eine Weile auf die Farben, während ihm wieder sämtliche Einzelheiten des Massakers durch den Kopf gingen.
»Sie hat ein paar Löcher«, sagte Bates.
»Haben wir die nicht alle?«, entgegnete Web.
KAPITEL 5
Am folgenden Tag fuhr Web zum Sitz des Geiselrettungsteams in Quantico. Er nahm die Marine Corps Route 4 und kam an der FBI-Akademie vorbei, die wie ein Universitätscampus angelegt war und in der die Leute des FBI und der DEA untergebracht waren. Web hatte dreizehn sehr intensive und stressreiche Wochen seines Lebens an der Akademie verbracht und sich alles eintrichtern lassen, was man als FBI-Agent benötigte. Zur Belohnung hatte Web ein winziges Gehalt bezogen und in einem Schlafraum mit gemeinsamem Bad gewohnt. Er hatte sogar seine eigenen Handtücher mitbringen müssen! Doch Web hatte das alles großen Spaß gemacht, und er hatte beharrlich daran gearbeitet, zu einem hervorragenden FBI-Agenten zu werden, weil er geglaubt hatte, für diesen Job geboren zu sein.
Web hatte die Akademie als frisch gebackener und eingeschworener Agent der Bundespolizei mit seiner Smith & Wesson 357 verlassen. Der Revolver wurde erst beim enormen Druck von neun Pfund ausgelöst. Mit dieser Waffe schoss man sich nur äußerst selten versehentlich in den Fuß. Heutzutage trugen die Rekruten eine 40er-Glock-Halbautomatik mit vierzehnschüssigem Magazin, deren Abzug viel leichter zu betätigen war. Web hatte seine Smith & Wesson mit dem DreiZoll- Bull- Barrel gemocht. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie besser gewesen war.
In den nächsten sechs Jahren hatte Web gelernt, wie sich ein FBI-Agent im Einsatz verhielt. Er hatte sich schwitzend durch einen Berg aus Papierkram gekämpft, Hinweise aufgespürt, Informanten aufgetrieben, Beschwerden bearbeitet, an Abhöranlagen Wache geschoben, ganze Nächte mit Beschattungen verbracht, Fälle bearbeitet und Leute verhaftet, die dringend verhaftet werden mussten. Web war bis an den Punkt gelangt, an dem er in fünf Minuten einen Schlachtplan zusammenschustern konnte, während er mit einem Bucar unterwegs war - wie die behördeneigenen Wagen intern genannt wurden. Er konnte mit hundertachtzig Sachen über den Highway brettern und mit den Knien lenken, damit er die Hände frei hatte, um seine Waffe zu laden. Er hatte gelernt, wie man Verdächtige befragte, sich ein Bild vom Tathergang machte und den Leuten dann bohrende Fragen stellte, um sie zu verunsichern und später besser einschätzen zu können, ob sie gelogen hatten. Und er hatte gelernt, wie er eine Aussage vor Gericht machte, ohne sich von aalglatten Anwälten in die Irre führen zu lassen, die die Wahrheit nicht ans Licht bringen, sondern möglichst tief vergraben wollten.
Seine Vorgesetzten, darunter auch Percy Bates (als Web nach mehreren Jahren im Mittleren Westen ins WFO versetzt worden war), hatten eine Belobigung nach der anderen in seine Personalakte eingetragen. Sie waren von seiner Einsatzbereitschaft und seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten beeindruckt. Und dass er niemals die Nerven verlor. Er hatte sich bei mehreren Gelegenheiten über die Vorschriften hinweggesetzt, was jedoch die meisten guten Agenten taten. Zumindest glaubte er daran, weil einige der FBI-Vorschriften einfach völliger Quatsch waren. Das war auch etwas, das er von Percy Bates gelernt hatte.
Web stellte den Wagen ab, stieg aus und betrat das Gebäude, in dem das Geiselrettungsteam untergebracht war. Keiner, der Augen im Kopf hatte, wäre je auf die Idee gekommen, es als schön zu bezeichnen. Es war ein ruppiges Gebäude, erfüllt von zähen, kampfgestählten Männern, die mehr Tod und Gefahr gesehen hatten, als der Durchschnittsbürger sich vorstellen konnte, die sich nur im privaten Umfeld einen gelegentlichen Zusammenbruch erlaubten. In dieser Abteilung gab es niemanden, der bereitwillig sein Gefühlsleben und seine
Verletzlichkeit offenbarte. Niemand wollte an der Seite eines scheuen, empfindsamen Typen sein Leben mit einer Waffe in der Hand riskieren. Man gab seine warme, kuschelige Seite am Eingang ab und trug während der Arbeit ausschließlich die Maske des Alpha-Männchens. Hier zählten nur die Fähigkeiten und Dienstjahre, und diese beiden Aspekte waren normalerweise, aber nicht immer, gleichwertig.
Web gab dem Leiter des Teams die Fahne zurück. Webs Chef war ein schlanker, muskulöser Mann mit grau meliertem Haar, ein ehemaliger Geiselretter, der die meisten seiner Männer immer noch in die Tasche steckte. Er nahm die Fahne würdevoll entgegen und schüttelte Web die Hand. Da sie in seinem Büro unter sich waren, erlaubte er sich, ihn schließlich zu umarmen. Na ja, dachte Web, wenigstens hier verabscheut man mich nicht wie die Pest.
Das Verwaltungsgebäude war für ein fünfzigköpfiges Personal ausgelegt, doch jetzt war es für einhundert Leute zum zweiten Zuhause geworden. Für sie alle gab es nur zwei Pinkelbecken, sodass die Schlangen selbst für die besten Verbrechensbekämpfer sehr lang waren. Hinter dem Empfangsbereich befanden sich kleine Büros für den Leiter, der den Dienstgrad eines Leitenden Spezialagenten hatte und dem in der Hierarchie die Leiter der Angriffsteams und der Scharfschützen unterstanden. Die Mitarbeiter der Geiselrettung hatten kleine Büros - Zellen, die zu beiden Seiten des Korridors lagen. Es gab nur ein Unterrichtszimmer im ganzen Gebäude, das angesichts der Raumknappheit gleichzeitig als Besprechungsraum diente. An der hinteren Wand befand sich ein Regalbrett mit einer Reihe Kaffeetassen. Jedes Mal, wenn hier ein Hubschrauber landete, vibrierten die Tassen. Dieses Geräusch hatte für Web immer etwas Beruhigendes gehabt. Vermutlich, weil es bedeutete, dass die Leute wohlbehalten heimkehrten.
Er blieb an der Tür zu Ann Lyles Büro stehen. Ann war sechzig Jahre alt, viel älter als die anderen Frauen, die in der Verwaltung arbeiteten. Man konnte sie getrost als Matriarchin und inoffiziellen Mutterersatz der knallharten Kerle bezeichnen, die in der Geiselrettung zu Hause waren. Ein ungeschriebenes Gesetz besagte, dass man in Anns Nähe weder fluchte noch unanständige Worte oder Gesten benutzte. Sowohl Grünschnäbel als auch Veteranen, die dagegen verstießen, wurden schnell zur Zielscheibe von Vergeltungsmaßnahmen, die von Klebstoff im Helm bis zu besonders heftigen Schlägen während des Trainings reichten. Ann war fast von Anfang an für die Abteilung tätig gewesen, nachdem sie zuvor viele Jahre im WFO gearbeitet hatte und in dieser Zeit Witwe geworden war. Sie hatte keine Kinder und widmete sich ganz der Arbeit. Sie hörte den jungen, allein stehenden Agenten zu und gab ihnen vernünftige Ratschläge, wie sie ihre Probleme meistern konnten. Außerdem diente sie als inoffizielle Eheberaterin der Geiselrettung und hatte schon mehrere Scheidungen verhindert. Sie hatte Web jeden Tag im Krankenhaus besucht, während er darauf wartete, wieder ein Gesicht zu bekommen - viel häufiger als seine eigene Mutter. Ann brachte regelmäßig selbst gebackene Kuchen mit ins Büro. Und sie war die zuverlässigste Informationsquelle für alles, was mit dem FBI und dem HRT zu tun hatte. Auch im Antragsdschungel der Bundespolizeibehörde kannte sie sich bestens aus, und wenn die Abteilung etwas brauchte, ganz gleich wie groß oder klein, sorgte Ann dafür, dass sie es bekam.
Web betrat Anns Büro, schloss die Tür und nahm ihr gegenüber am Schreibtisch Platz.
Anns Haar war schon vor Jahren weiß geworden, und ihre Figur war etwas aus dem Leim gegangen, aber in ihren Augen war immer noch ein jugendliches Funkeln, und ihr Lächeln war einfach bezaubernd.
Sie stand auf und schloss Web in die Arme. Er ließ es geschehen, weil er genau das brauchte. Ihre Wangen waren tränenfeucht. Sie hatte den Mitgliedern des Charlie-Teams besonders nahe gestanden. Die Männer hatten sich stets besondere Mühe gegeben, ihr zu zeigen, wie dankbar sie für alles waren, was die Frau für sie tat.
»Du siehst gar nicht gut aus, Web.«
»Hab schon bessere Tage erlebt.«
»So etwas wünsche ich niemandem, nicht einmal meinem schlimmsten Feind«, sagte sie. »Aber du bist wirklich der Letzte, dem so etwas hätte zustoßen sollen, Web. Ich möchte am liebsten nur noch heulen und nie wieder aufhören.«
»Danke, Ann«, sagte Web. »Ich weiß immer noch nicht, was da genau passiert ist. Wirklich. So eine Erstarrung habe ich noch nie erlebt.«
»Web, mein Junge, du hast die letzten acht Jahre deines Lebens mit Schießereien verbracht. Meinst du nicht, dass du irgendwann die Rechnung bekommst? Du bist auch nur ein Mensch.«
»Das ist der Punkt, Ann. Ich soll mehr als nur das sein. Deshalb bin ich bei der Geiselrettung.«
»Du brauchst jetzt eine längere Pause, um dich gründlich auszuruhen. Wann hast du das letzte Mal Urlaub genommen? Erinnerst du dich überhaupt noch daran?«
»Viel dringender brauche ich Informationen, und dich brauche ich, um mir dabei zu helfen.«
Ann nahm diesen Themenwechsel kommentarlos hin. »Ich werde tun, was ich kann. Das weißt du.«
»Ein Undercover-Agent namens Randall Cove. Er ist verschwunden.«
»Der Name kommt mir bekannt vor. Ich glaube, es gab da einen Cove, als ich beim WFO arbeitete. Er wird vermisst, sagst du?«
»Er hat an diesem Fall gearbeitet. Ich schätze, entweder steckte er zu tief drin, oder er wurde enttarnt. Ich brauche alles, was du über ihn finden kannst. Adressen, Decknamen, Kontaktpersonen, alles Drum und Dran.«
»Wenn er in D.C. gearbeitet hat, dürfte er kaum hier in der Nähe wohnen«, sagte Ann. »Für Undercover-Leute gilt die inoffizielle Fünfundzwanzig-Meilen-Regel. Schließlich will man während der Arbeitszeit keinem seiner Nachbarn über den Weg laufen. Bei größeren Aufträgen holt man den Agenten sogar häufig aus einem anderen Teil des Landes.«
»Verstanden. Aber trotz der fünfundzwanzig Meilen gibt es noch 'ne ganze Menge Möglichkeiten. Vielleicht kommen wir an Aufzeichnungen seiner Telefonate, an seinen Schriftwechsel mit dem WFO oder ähnliche Sachen ran. Ich weiß nicht, wie du es immer wieder schaffst, aber ich brauche wirklich alles, was du kriegen kannst.«
»Undercover-Agenten benutzen meistens Einweg- Telefonkarten mit geringem Guthaben, wenn sie in der Zentrale anrufen. Sie kaufen sie in kleinen Geschäften, brauchen sie auf, werfen sie weg und kaufen sich eine neue. So hinterlassen sie die wenigsten Spuren.«
Webs Hoffnungen erloschen. »Also gibt es keine Möglichkeit, etwas herauszufinden?« Er war nie zuvor in die Verlegenheit gekommen, einen Undercover-Agenten aufspüren zu müssen.
Ann schenkte ihm ihr wunderbares Lächeln. »Ach, Web, es gibt immer eine Möglichkeit. Lass mich einfach eine Weile herumstöbern.«
Er sah seine Hände an. »Ich komme mir ein bisschen vor wie ein Texaner in Alamo, den die Mexikaner übersehen haben.«
Ann nickte verständnisvoll. »In der Küche ist frischer Kaffee, und ich habe einen Schoko-Walnuss-Kuchen mitgebracht.
Nimm dir ein großes Stück, Web. Du hast ja kaum noch was auf den Rippen.« Bei ihren nächsten Worten musste Web in ihr wohltuend optimistisches Gesicht blicken. »Und vergiss nie, dass ich hier sitze und aufpasse, was hinter deinem Rücken passiert. Ich weiß, was los ist, Web. Ich höre alles, ob innerhalb oder außerhalb der Stadt. Und niemand, wirklich niemand, wird dir etwas antun, solange ich hier sitze.«
Als er nach draußen ging, fragte sich Web, ob Ann Lyle jemals daran gedacht hatte, ihn zu adoptieren.
Web fand einen unbesetzten Computer und loggte sich in die Datenbank der Abteilung ein. Ihm war die Idee gekommen - auf die sicher auch schon andere gekommen waren -, dass die Vernichtung seines Teams ein simpler Rachefeldzug gewesen sein könnte. Er verbrachte längere Zeit damit, frühere Fälle durchzugehen, in denen die Geiselrettung zum Einsatz gekommen war. Erinnerungen wurden geweckt, an triumphale Siege und furchtbare Fehlschläge. Das Problem war, wenn man alle Leute zusammenzählte, die von einer ihrer Aktionen betroffen waren, und Familienangehörige und Freunde dazurechnete, plus alle Verrückten, die wegen jeder Kleinigkeit ausrasteten, ging die Gesamtzahl sehr schnell in die Tausende. Web würde es jemand anderem überlassen müssen, diese Möglichkeiten zu prüfen. Er war überzeugt, dass die FBIComputer längst diese Datenberge wälzten.
Web ging durch den Hauptkorridor und blieb vor der Fotowand mit den Bildern von früheren Missionen stehen. Hier waren viele atemberaubende Erfolge ausgestellt. Das Motto der Geiselrettung lautete: »Schnell, überraschend und hart zuschlagen.« Und die Bilder waren eine beeindruckende Illustration dieser großen Worte. Web betrachtete das Foto eines Terroristen von der Liste der Meistgesuchten, den man aus internationalem Gewässer gefischt hatte. Man hatte ihn wie eine ahnungslose Krabbe aus ihrem Sandloch gezerrt, vor Gericht gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Es gab Fotos von einer internationalen Eingreiftruppe, die auf einer Drogenfarm in Lateinamerika eingesetzt worden war. Und schließlich war da noch das Bild einer sehr schwierigen Geiselnahme in einem
Verwaltungshochhaus in Chicago. Alle Geiseln wurden gerettet und drei der fünf Geiselnehmer getötet. Bedauerlicherweise lief es nicht immer auf diese Weise ab.
Web verließ das Gebäude und betrachtete den einsamen Baum, der draußen stand. Es war ein Exemplar des Staatsbaums von Kansas, der zum Gedenken an den Geiselretter gepflanzt worden war, der bei einem Übungsunfall ums Leben kam und aus diesem Staat stammte. Jedes Mal, wenn Web an diesem Baum vorbeikam, sagte er ein stummes Gebet auf, dass es der einzige Baum bleiben würde, den sie jemals hier pflanzen mussten. So viel zur Wirksamkeit von Gebeten. Demnächst würde hier ein richtiger Wald entstehen.
Web musste dringend etwas tun, irgendetwas, damit er nicht das Gefühl hatte, ein Versager zu sein. Er ging zum Waffenschrank, nahm sich ein 308er-Gewehr und Munition heraus und ging wieder nach draußen. Er musste sich irgendwie beruhigen, und komischerweise hatte das Schießen genau diese Wirkung auf ihn. Dazu waren Genauigkeit und Konzentration nötig, wodurch alle anderen Gedanken verdrängt wurden, ganz gleich, wie beunruhigend sie waren.
Er kam am früheren Hauptquartier der Geiselrettung vorbei, einem schmalen und hohen Gebäude, das wie ein grandioser Getreidesilo aussah und gar nicht wie die Heimat einer Elitetruppe. Dann blickte er zu den kahlen Hügeln hinüber, wo sich ein Schießstand befand. Es war eine tausend Meter lange Anlage für Gewehrschützen, und die Arbeiter waren gerade dabei, den angrenze nden Wald zu roden, damit der HRT- Komplex weiter wachsen konnte. An dieser Stelle war unter anderem ein neuer überdachter Schießstand geplant. Die grünen Bäume hinter dem Schießstand im Freien hatten auf Web schon immer den Eindruck eines schroffen Kontrastes gemacht: Die schönen Farben der Natur bildeten den Hintergrund für die Übungen, mit denen er seine Fähigkeiten des Tötens perfektionierte. Allerdings stand er auf der Seite der Guten, und damit war das Ganze völlig in Ordnung. Zumindest hatte die Urkunde, die ihm zusammen mit dem Dienstabzeichen verliehen worden war, etwas in dieser Richtung behauptet.
Er stellte seine Ziele auf. Web wollte eine Art Scharfschützen-Poker spielen. Die Karten waren in der Befestigung leicht aufgefächert, sodass von jeder Karte nur ein winziger Teil zu sehen war - abgesehen von der obersten. Die Aufgabe bestand darin, ein möglichst gutes Blatt zusammenzustellen, und zwar so, dass nur die Karten zählten, die man sauber getroffen hatte.
Wenn man eine andere Karte auch nur streifte, zählte die Karte nicht mehr, auf die man geschossen hatte. Und man hatte nur fünf Schüsse. Die Fehlertoleranz war extrem klein. Es war genau die richtige Nerven aufreibende Übung, um sich zu entspannen - vorausgesetzt, man war ein Mitglied des Geiselrettungsteams.
Web stellte sich hundert Meter vom Ziel entfernt auf. Er legte sich flach auf den Boden und stützte das Gewicht seines Oberkörpers und den Schaft der 308 auf einem kleinen Bohnensack ab. Er brachte seinen Körper genau auf die Linie der Rückstoßkraft, damit der Lauf nicht abgelenkt wurde. Seine Hüften waren flach gegen den Boden gepresst, seine Knie auf Schulterbreite gespreizt und die Füße ebenfalls waagerecht ausgerichtet, um sein Profil so klein wie möglich zu halten, falls jemand auf ihn zielte. Web drehte am Rad, bis er die günstigste Einstellung des Zielfernrohrs gefunden hatte, und schätzte den Wind ein. Die Luftfeuchtigkeit war sehr hoch, also gab er noch eine halbe Bogenminute dazu. Als Scharfschütze hatte er jeden Schuss, den er jemals während einer Mission abgefeuert hatte, genau dokumentiert. Diese Aufzeichnungen waren eine wertvolle Informationsquelle über die Einflüsse der Umwelt auf Geschosse, und sie erklärten möglicherweise, warum ein bestimmter Scharfschütze sein Ziel verfehlt hatte. Und nur in diesem Fall wurde das Ganze zu einem Thema. Wenn man sein
Ziel traf, hatte man einfach nur seinen Job gemacht, und man wurde nicht zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Es gab kein Detail, das zu winzig war, wenn es darum ging, auf große Entfernung zu töten. Ein flüchtiger Schatten auf der Linse des Objektivs konnte leicht dazu führen, dass ein nicht hundertprozentig aufmerksamer Scharfschütze eine Geisel und nicht den Übeltäter tötete.
Web hielt den Griff mit leichtem Druck. Er legte den Kolben an die Schulter, presste die Wange gegen den Schaft, stellte noch einmal die Schärfe des Zielfernrohrs ein und hielt den Lauf mit der schwachen Hand fest, um die zweibeinige Stütze der 308 zu stabilisieren. Er holte Atem und entließ ihn langsam wieder. Kein Muskel durfte die Waffe berühren. Muskeln reagierten sprunghaft, deshalb musste Knochen auf Knochen liegen, weil Knochen nicht zuckten. Web hatte als Scharfschütze stets die Hinterhalttechnik eingesetzt. Dazu musste der Schütze warten, bis das Ziel in eine vorher festgelegte Todeszone geriet. Der Schütze legte das Fadenkreuz unmittelbar vor das Ziel und zählte dann die Punkte im Messkreuz, um die Entfernung zum Ziel, den Einfallswinkel und die Geschwindigkeit zu berechnen. Außerdem musste man die Höhe, den Wind und die Luftfeuchtigkeit berücksichtigen, und dann wartete man auf die Beute, wie die sprichwörtliche Spinne im Netz. Man schoss ihr immer in den Kopf, und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Wer einen Kopfschuss erhielt, schoss niemals zurück.
Knochen auf Knochen. Puls bei vierundsechzig. Web entließ ein letztes Mal den Atem, dann berührte sein Finger den Abzug, und er feuerte fünf Schüsse hintereinander ab, mit der ruhigen Konzentration eines Mannes, der dasselbe schon weit über fünfzigtausendmal getan hatte. Diesen Prozess wiederholte er noch viermal, dreimal bei einhundert Metern, und das letzte Pokerblatt spielte er bei zweihundert Metern, was die maximale Entfernung für Scharfschützen-Poker war.
Als er die Ziele überprüfte, musste Web lächeln. Zwei Blätter waren ein Pik-Royal-Flush, die nächsten beiden waren Asse mit König und das Zweihundert-Meter-Blatt war ein Full House. Und keine einzige andere Karte hatte auch nur einen Kratzer. Und er hatte kein Spiel verloren, was im Sprachgebrauch der Abteilung mit einem Fehlschuss gleichzusetzen wäre. Dadurch fühlte er sich etwa zehn Sekunden lang gut, bis die Depression mit der Wucht einer Lawine zurückkehrte.
Er brachte die Waffe in den Schrank zurück und setzte den Rundgang fort. Drüben am Gelände des benachbarten Marine Corps lag die »Yellow Brick Road«, ein höllischer, zwölf Kilometer langer Hindernisparcours mit fünf Meter hohen Strickleitern, Gruben voller Stacheldraht, die nur darauf warteten, dass man ausrutschte und abstürzte, und senkrechten Felswänden. Während seiner Aufnahmeprüfung für die Geiselrettung war Web so häufig über den Parcours gerannt, dass er sich jeden verfluchten Zentimeter eingeprägt hatte. Die Gruppenübungen hatten aus Vierundzwanzig-Kilometer- Märschen bestanden, mit über fünfzig Pfund Gepäck und wertvollen Gegenständen, zum Beispiel Ziegelsteinen, die nicht den Boden berühren durften, denn sonst hatte das Team verloren. Sie waren auch durch eiskaltes, dreckiges Wasser geschwommen und zwanzig Meter hohe Leitern hinaufgeklettert, die direkt zu Gott zu führen schienen. Darauf waren Märsche zum »Heartbreak Hotel« gefolgt, nicht mehr als eine vierstöckige Spritztour, und der freiwillige (ja, klar!) Sprung vom Deck eines alten Schiffes in den James River. Seit Web zur Abteilung gekommen war, hatte man das Heartbreak Hotel mit Führungsseilen und Netzen ausgestattet und ein wenig zahmer gemacht. Jetzt war es zweifellos sicherer, aber seiner Meinung nach machte es nicht mehr so viel Spaß. Trotzdem sollten sich Leute mit Höhenangst erst gar nicht bewerben. Der Sprung aus einem Hubschrauber in einen dichten Wald trennte den Weizen von der Spreu - die Männer von den Kindern. Wenn man sein Ziel verfehlte, konnte es geschehen, dass eine uralte
Eiche intensive Bekanntschaft mit menschlichen Innereien machte.
Und im Verlauf der langen Ausbildung machte jeder Rekrut früher oder später Bekanntschaft mit dem Treibhaus, einem dreistöckigen Betonturm mit stählernen, zugeschweißten Fensterläden. Da die Fußböden innerhalb des Gebäudes nur aus Maschendraht bestanden, war es innerhalb von Sekunden völlig verraucht, wenn man im Erdgeschoss ein Feuer entzündete. Der arme Rekrut wurde im dritten Stock abgesetzt und konnte sich nur auf den Tastsinn und seine Instinkte verlassen, um wieder nach unten und ins rettende Freie zu finden. Wer diese Aufgabe überlebte, wurde mit einem Eimer Wasser ins Gesicht belohnt. Und wenn der Rauch aus seinen Augen gespült war, durfte er es wenige Minuten später ein zweites Mal versuchen, und zwar mit einer hundertfünfzig Pfund schweren Puppe auf dem Rücken.
Und zwischen all dem wurden Zehntausende von Schüssen abgefeuert, Lehrstunden abgehalten, mit denen Einstein seine Schwierigkeiten gehabt hätte, Trainingseinheiten an Fitnessgeräten durchgeführt, an denen manche Olympioniken vor Erschöpfung zusammengebrochen wären. Dazu kamen Nerven aufreibende Übungen, bei denen innerhalb von Sekundenbruchteilen Entscheidungen getroffen werden mussten, nach denen man für immer auf Alkohol und Frauen verzichten, in einem rundum gepolsterten Raum herumkriechen und ausschließlich Selbstgespräche führen wollte. Und auf Schritt und Tritt wurde man von wirklichen Mitarbeitern der Geiselrettung begleitet, die jeden Fehler und jeden Erfolg notierten. Ständig hoffte man, mehr Plus- als Minuspunkte gesammelt zu haben, aber man wusste es nie genau, weil die Ausbilder es einem niemals verrieten. Für diese Leute war man nur der letzte Dreck. Und man wusste, dass sie einen erst dann akzeptieren würden, wenn man die Prüfungen bestanden hatte. Sie würden vermutlich nicht einmal zur Beerdigung kommen, wenn man das Pech hatte, während einer Übung ins Gras zu
beißen.
Irgendwie hatte Web all das überlebt, und nach dem Abschluss der »New Operators Training School«, kurz NOTS, war er als Scharfschütze »eingezogen« worden, worauf er die nächsten zwei Monate an der Scharfschützenschule des Marine Corps verbrachte. Dort hatte er von den besten Lehrern alles über Erkundung und Tarnung, das Verhalten im Kampf und das Töten mit Gewehr und Zielfernrohr gelernt. Danach war Web sieben Jahre lang zuerst Scharfschütze und später Geiselretter gewesen, der sich entweder zu Tode gelangweilt hatte, häufig unter miserablen Bedingungen, oder sich auf der ganzen Welt Schießereien mit den verrücktesten Exemplaren seiner Artgenossen geliefert hatte. Zur Belohnung bekam er jede Art von Waffe oder Munition, die er haben wollte, und ein Gehalt, das ungefähr dem entsprach, was ein Sechzehnjähriger verdienen konnte, wenn er in der Mittagspause Computer programmierte. Insgesamt war es ein ziemlicher cooler Job.
Web lief weiter, bis er den Hangar erreichte, in dem die großen Bell-412-Hubschrauber und die viel kleineren des Typs MD530 untergebracht waren. Letztere wurden im Team als »Kleine Vögel« bezeichnet, weil sie schnell und wendig waren und bei einer Geschwindigkeit von 120 Knoten vier Männer im Innern und weitere vier auf den Kufen transportieren konnten. Web war mit den Kleinen Vögeln in einige extrem schwierige Einsätze geflogen, und die 530er hatten ihn jedes Mal heil nach Hause gebracht. Manchmal hing er dabei kopfüber an einem Seil, das in den Ausleger des Hubschraubers eingeklinkt war. Allerdings war Web nie besonders wählerisch gewesen, auf welche Weise er eine Mission überlebte.
Der Fahrzeugpark lag hinter einem Maschendrahtzaun. Da ein frischer Wind aufgekommen war, blieb Web stehen und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Der Himmel bewölkte sich, als sich eine Gewitterfront näherte, was zu dieser Tageszeit in dieser Jahreszeit regelmäßig geschah. Er ging durch die
Absperrung und setzte sich auf den einzigen gepanzerten Personentransporter des Teams, den die Armee ausgemustert und ihnen überlassen hatte. Sein Blick schweifte über die Reihe der abgestellten Suburbans. Diese Fahrzeuge waren umgebaut worden und verfügten nun über eine Art Feuerwehrleiter, sodass man damit an ein Gebäude heranfahren und über die Leiter - Überraschung! - direkt in ein Verbrechernest im fünften Stock gelangen konnte. Da standen Lastwagen, mit denen sie ihre Ausrüstung transportierten, Jet-Skis, Catering-Fahrzeuge und ein Boot mit fester Hülle und aufblasbarem Deck, das von Navy-SEALs entworfen worden war. Das Ding war mit einem Chrysler V- 8 in zweifacher Ausfertigung ausgestattet, was sich ungefähr so anfühlte, als ob man sich in einem Gebäude hielt, das gerade mit einer Abrissbirne zerlegt wurde. Web war bei zahlreichen Gelegenheiten damit gefahren - und hatte diese Einsätze sogar überlebt!
Sie hatten alles da, ob sie Ausrüstung für einen Dschungelangriff oder eine Arktisexpedition benötigten. Sie trainierten für alle Eventualitäten, sie benutzten alles, was sie hatten. Trotzdem konnten sie jederzeit vom Zufall überrascht werden, vom tollpatschigen Glück eines unterlegenen Gegners oder durch die sorgsame Planung und das Insiderwissen eines Verräters.
Es begann zu regnen, also suchte Web im Innern des Trainingsgebäudes Schutz. Es war wie ein großes Lagerhaus angelegt, mit langen Gängen, die Hotelkorridore simulieren sollten, und beweglichen, gummiverkleideten Wänden. Es erinnerte sehr an eine Studiohalle in Hollywood. Wenn sie das Glück hatten, an den Grundriss eines Zielobjekts zu gelangen, wurde er hier rekonstruiert, damit sie den Einsatz unter realistischen Bedingungen trainieren konnten. Die letzten Kulissen, die sie hier aufgebaut hatten, waren die für die Mission gewesen, bei der Charlie ausgelöscht worden war. Als Web die Bauten musterte, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er das Innere ihres Zielobjekts niemals gesehen hatte. Sie hatten die Vordertür nie erreicht. Er hoffte, dass diese Kulissen bald demontiert wurden, damit sie sich auf die nächste Mission vorbereiten konnten. Es hätte nicht schlimmer kommen können.
Die Gummiwände waren dazu da, die Kugeln zu absorbieren, weil die Geiselrettung häufig mit echter Munition trainierte. Treppen bestanden aus Holz, sodass es nicht zu Querschlägern kam. Das Team hatte jedoch feststellen müssen - zum Glück ohne ernsthafte Verletzungen -, dass die Nägel im Holz eine Kugel auf unberechenbaren Bahnen zurückprallen lassen konnte. Web kam an dem nachgebauten Flugzeugrumpf vorbei, an dem sie das Vorgehen bei einer Geiselnahme üben konnten. Das Modell hing an den Dachsparren und ließ sich in unterschiedliche Höhen hieven.
Wie viele imaginäre Terroristen hatte er hier drinnen schon erschossen? Das Training hatte sich gelohnt, denn er hatte echte Geiselnehmer getötet, die in Rom ein amerikanisches Flugzeug in ihre Gewalt gebracht hatten. Sie hatten angeordnet, zuerst in die Türkei und dann nach Manila weiterzufliegen. Web und seine Leute waren zwei Stunden, nachdem die Entführung bekannt geworden war, von der Andrews Air Force Base aufgebrochen und hatten sich ihnen an die Fersen geheftet. Sie waren dem entführten Flugzeug in ihrer USAF C141 gefolgt, bis die Terroristen in Manila gelandet waren, um die Maschine aufzutanken. Sie hatten zwei getötete Geiseln nach draußen geworfen, beide Amerikaner, eine davon ein vierjähriges Mädchen. Es sollte ein politisches Statement sein, wie sie stolz bekannt gaben. Es war das letzte Statement, das sie jemals abgeben sollten.
Der Start des entführten Flugzeugs war zuerst durch das Wetter und dann durch ein technisches Problem verzögert worden. Gegen Mitternacht Ortszeit hatten Web und das Charlie-Team die Maschine in der Verkleidung von Technikern bestiegen. Drei Minuten später waren fünf Terroristen tot und die restlichen Geiseln in Sicherheit. Web hatte einen mit seiner 45er durch die Diet-Coke-Dose erschossen, aus der der Kerl gerade trank. Bis zum heutigen Tag brachte er es nicht fertig, dieses Zeug zu trinken. Doch er hatte es nie bedauert, geschossen zu haben. Das Bild der Leiche eines unschuldigen kleinen Mädchens auf dem Rollfeld - für Web spielte es keine Rolle, ob sie Amerikanerin, Iranerin, Japanerin oder sonst was war - genügte ihm als Motivation, dieser Form von Menschenverachtung weiterhin mit der Waffe entgegenzutreten. Diese Kerle konnten mit jeder weltpolitischen Unterdrückung argumentieren, sie konnten sämtliche großen und allwissenden Gottheiten aus dem Warenhaus der Religion beschwören, sie konnten jede verrückte Rechtfertigung aus dem Hut zaubern, die sie benötigten, um ihre Bomben explodieren und ihre Waffen sprechen zu lassen. Für Web zählte all das gar nichts, wenn sie dabei unschuldige Menschen töteten. Er würde weiterhin gegen sie kämpfen, solange sie auf diesem Globus ihren perversen Tanz der Gewalt aufführten; denn wo immer sie es taten, dort konnte auch er ihnen entgegentreten.
Web ging durch kleine gummiverkleidete Zimmer, in denen Poster mit Verbrechern aufgestellt waren, die Waffen auf ihn richteten. Instinktiv zielte er mit dem Finger auf sie und feuerte imaginäre Schüsse ab. Wenn man es mit einem bewaffneten Gegner zu tun hatte, konzentrierte man sich stets auf die Hände, niemals auf die Augen, denn in der gesamten Menschheitsgeschichte war noch niemand durch Blicke getötet worden. Als Web seine »Waffe« sinken ließ, musste er grinsen. Es war alles so einfach, wenn man eigentlich gar nicht bedroht wurde.
Aus einem anderen Raum hörte er, wie sich etwas bewegte. Er schaute hinein und sah einen Mann, der ein ärmelloses Shirt und Tarnanzug-Hosen trug und sich den Schweiß von den muskulösen Armen wischte. Lange Seile hingen von der Decke. Hier übten die Männer ihre Fähigkeiten im Seilklettern. Web sah zu, wie der Mann dreimal hinauf- und hinunterkletterte, mit geschickten und fließenden Bewegungen. Die Muskelstränge in seinen Armen und Schultern spannten und entspannten sich.
Als er damit fertig war, trat Web ein. »Mensch, Ken!«, sagte er. »Gönnst du dir niemals einen freien Tag?«
Ken McCarthy drehte sich zu Web um, und Web hätte seinen Blick nicht gerade als freundlich bezeichnet. McCarthy war einer der Scharfschützen gewesen, die über der Straße postiert waren, als das Charlie-Team im Hagel der 50er-Munition zu Boden gegangen war. Er war ein Schwarzer, vierunddreißig Jahre alt, in Texas geboren und ein Soldat, der im Dienst für Onkel Sam die ganze Welt gesehen hatte. Er war ein ehemaliger SEAL, aber er legte nicht die eklatante Großspurigkeit an den Tag, zu der die meisten SEALs neigten. Obwohl er nur eins achtundsiebzig maß, konnte er im Liegen einen Truck stemmen und hatte schwarze Gürtel in drei verschiedenen Kampfsportarten. Er war der geschickteste Wasserkämpfer, den die Geiselrettung jemals gehabt hatte, und er konnte jemandem auf tausend Meter Entfernung eine Kugel genau zwischen die Augen jagen, während er auf einem Baumast hockte. Mit drei Jahren Dienstzeit war er ein Veteran des HRT, er verhielt sich ruhig und blieb meistens allein. Er beteiligte sich nicht an den makabren Scherzen, mit denen sich die meisten Geiselretter die Zeit vertrieben. Web hatte ihm Dinge beigebracht, die McCarthy noch nicht wusste oder mit denen er Schwierigkeiten gehabt hatte, und im Gegenzug hatte McCarthy ihm einige seiner bemerkenswertesten Tricks verraten. Soweit Web wusste, hatte McCarthy nie ein Problem mit ihm gehabt, doch sein Blick deutete an, dass sich das möglicherweise geändert hatte. Vielleicht hatte Romano alle anderen gegen Web aufgehetzt.
»Was machst du hier, Web? Ich dachte, du wärst noch im Krankenhaus und kurierst deine Verletzungen aus.«
Web kam dem Mann einen Schritt näher. Es gefiel ihm nicht, wie McCarthy zu ihm sprach, aber er verstand, woher seine
Worte kamen. Web verstand auch, welche Probleme Romano mit ihm hatte. So war es eben. Man erwartete, dass jeder seinen Job machte, und zwar perfekt. Web hatte dieses Ziel verfehlt. Gut, er hatte die MGs ausgeschaltet, aber erst anschließend. Das zählte für diese Männer nicht.
»Ich vermute, du hast alles gesehen.«
McCarthy zog sich die Arbeitshandschuhe aus und rieb sich die dicken, schwieligen Finger. »Ich hätte mich ja in die Straße abgeseilt, aber die Einsatzzentrale hat uns angewiesen, unseren Posten nicht zu verlassen.«
»Du hättest uns nicht helfen können, Ken.«
McCarthy blickte immer noch auf seine Füße. »Irgendwann haben wir den Befehl zum Aufbruch bekommen. Hat zu lange gedauert. Haben uns mit Hotel getroffen. Hat viel zu lange gedauert. Wir haben immer wieder angehalten, haben versucht, euch über Funk zu erreichen. TOC hatte keinen Schimmer, was los war. Die Be fehlskette war zusammengebrochen. Aber das alles weißt du vermutlich längst.«
»Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf das, was wirklich geschah.«
McCarthy setzte sich auf eine Gummimatte und zog die Knie an. Er blickte zu Web auf. »Hab gehört, du bist etwas später auf den Hof gekommen. Du bist gestürzt oder etwas in der Art.«
Oder etwas in der Art. Er setzte sich neben McCarthy. »Die MGs wurden durch einen Laser ausgelöst, aber der Laser wurde vermutlich per Fernsteuerung aktiviert, damit die 50er nicht vorzeitig abgefeuert werden oder das falsche Ziel treffen. Irgendwer muss in der Nähe gewesen sein, um das Signal zu geben.« Web ließ die Worte im Raum hängen, während er weiterhin den Blick auf McCarthy fixierte.
»Ich habe schon mit dem WFO geredet.«
»Daran zweifle ich nicht.«
»Das ist ein laufender AFO-Fall, Web«, sagte er. Damit war die Untersuchung eines Angriffs auf einen Bundesbeamten gemeint - in diesem Fall sogar auf mehrere gleichzeitig.
»Auch das weiß ich, Ken. Hör mal, ich bin mir nicht ganz sicher, was mit mir geschehen ist. Ich hatte es nicht so geplant. Ich habe getan, was ich konnte.« Web holte tief Luft. »Und wenn ich es jetzt irgendwie ungeschehen machen könnte, würde ich es sofort tun. Aber nun muss ich damit leben, Ken, jeden Tag meines restlichen Lebens. Ich hoffe, dass du das verstehen kannst.«
McCarthy hob den Kopf, und sein feindseliger Gesichtsausdruck verschwand.
»Da war nichts, worauf wir hätten schießen können, Web. Nichts, was die Scharfschützen aus dem Weg hätten räumen können. All das Training und keine Party, auf der wir damit hätten angeben können. Wir hatten drei Jungs auf dem Dach über dem Hof, und kein einziger konnte die Mini- MGs auch nur ansatzweise ins Visier nehmen. Verdammt, sie hatten Angst zu schießen, weil sie dachten, sie könnten dich mit einem Querschläger erwischen.«
»Was war mit dem Kind? Habt ihr den Jungen gesehen?«
»Den kleinen schwarzen Jungen? Ja. Als er die Straße herunterkam, mit deiner Mütze und dem Zettel.«
»Wir sind ihm schon begegnet, als wir hineingingen.«
»Ihr müsst uns die Sicht versperrt haben. Und das Licht hat sich genau auf der Straße gespiegelt, sodass wir kaum etwas sehen konnten.«
»Okay, was ist mit den anderen Typen? Den Drogendealern?«
»Ein Scharfschütze hatte sie ständig im Visier. Sie haben sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt. Erst als die Schießerei losging, sind sie weggelaufen. Jeffries sagte, sie wirkten genauso überrascht wie alle anderen. Als die
Einsatzzentrale uns grünes Licht gab, haben wir unseren Posten verlassen.«
»Was ist dann passiert?«
»Wie ich schon sagte, wir haben uns mit Hotel zusammengetan. Wir sahen die Leuchtkugel, hielten an und schwärmten aus. Dann kam der Junge zu uns. Wir haben deine Warnung gelesen. Everett und Palmer gingen weiter, als Kundschafter. Viel zu spät.« McCarthy hielt inne, und Web sah, wie eine einzelne Träne über das Gesicht mit den jugendlichen Zügen lief. Ein ganz normales Gesicht, wie es Web auch einmal besessen hatte.
»Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine solche Ballerei gehört, Web. Und ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt.«
»Du hast deinen Job gemacht, Ken, mehr kann man von dir nicht erwarten.« Nach einer kurzen Pause fuhr Web fort: »Anscheinend haben sie den Jungen verloren. Weißt du etwas darüber?«
McCarthy schüttelte den Kopf. »Ein paar Leute von Hotel haben sich um ihn gekümmert. Romano und Cortez, glaube ich.«
Schon wieder Romano. Scheiße, das bedeutete, dass Web noch einmal mit ihm reden musste. »Was habt ihr gemacht?«
»Ich ging zusammen mit ein paar anderen auf den Hinterhof. Wir haben dich gesehen, aber du warst schon weggetreten.« Wieder senkte er den Blick. »Und wir haben die Überreste von Charlie gesehen.« Er blickte zu Web auf. »Einige Scharfschützen haben mir erzählt, was du dort gemacht hast, Web. Sie haben dich gesehen und können immer noch nicht glauben, was du geleistet hast. Sie meinten, vielleicht ist es der Beweis, dass das Glück mit den Iren ist. Ich glaube nicht, dass ich es geschafft hätte, noch einmal hineinzugehen.«
»Doch, das hättest du, Ken. Und du hättest es viel besser
hingekriegt als ich.«
McCarthy reagierte mit offensichtlicher Überraschung auf dieses Lob.
»Hast du den Jungen gesehen, als du aus dem Hof zurückkamst?«
McCarthy dachte nach. »Ich erinnere mich, dass er auf einem Mülleimer saß. Zu diesem Zeitpunkt tauchten alle anderen auf.«
»Hast du gesehen, dass sich irgendwelche Anzugträger um den Jungen gekümmert haben?«
Wieder dachte McCarthy nach. »Nein, ich erinnere mich nur dunkel, dass Romano mit irgendwem sprach. Das ist alles.«
»Hast du irgendwen erkannt?«
»Du weißt, dass wir nicht allzu häufig mit den normalen Beamten zu tun haben.«
»Und was ist mit der DEA?«
»Mehr kann ich dir nicht sagen, Web.«
»Du hast mit Romano geredet?«
»Kurz.«
»Glaube nicht alles, was du hörst, Ken. Das ist ungesund.«
»Auch das, was ich von dir höre?«, fragte McCarthy spitz.
»Auch das.«
Als er in den Wagen stieg und Quantico verließ, wurde Web klar, dass er noch sehr viel zu tun hatte. Offiziell war dies gar nicht sein Fall, aber andererseits hatte er mehr damit zu tun als jeder andere. Doch zuvor musste er etwas anderes erledigen. Etwas, das noch wichtiger war als die Suche nach den Leuten, die sein Team in den Hinterhalt gelockt hatten. Und er musste herausfinden, was aus einem kleinen Jungen geworden war, der ein Loch in der Wange und kein Hemd hatte.
KAPITEL 6
Sechs Beerdigungen. Web nahm innerhalb von drei Tagen an sechs Beerdigungen teil. Bei der vierten konnte er schon keine einzige Träne mehr vergießen. Er ging in die Kirche oder das Trauerhaus und hörte zu, wie sich Leute, die er größtenteils nicht kannte, über gefallene Männer unterhielten, die er in mancher Hinsicht besser als sich selbst gekannt hatte. Es war, als wären ihm sämtliche Nerven ausgebrannt worden, gemeinsam mit einem Teil seiner Seele. In gewisser Weise fühlte er sich nicht mehr in der Lage, angemessen zu reagieren. Er befürchtete, dass er in lautes Gelächter ausbrechen würde, obwohl er trauern sollte.
Bei den Gottesdiensten waren die Hälfte der Särge geöffnet, die übrigen nicht. Einige der Toten hatten mit der Größe und Lage ihrer Wunden etwas mehr Glück gehabt und konnten daher der Trauergemeinde präsentiert werden. Doch wenn Web in bleiche, eingefallene Gesichter und auf reglose, geschrumpfte Leichen in Metallkisten starrte, wenn er Blumenduft einatmete und das Schluchzen der anderen hörte, wünschte er sich, er könnte sich ebenfalls einfach in eine Kiste legen und begraben lassen, um endlich Ruhe vor allem zu haben. Ein Heldenbegräbnis - es gab schlimmere Möglichkeiten, im Gedächtnis der Leute zu bleiben.
Er hatte seine Hand wieder in einen Verband gewickelt, weil er sich schuldig fühlte, wenn er sich ohne die Spur einer Verletzung zwischen den Trauernden bewegte. Er wusste, dass es erbärmlich war, wenn er sich über solche Dinge Gedanken machte, aber er fühlte sich wie ein wandelnder Schlag ins Gesicht der Überlebenden. Sie wussten schließlich nur, dass Web London irgendwie davongekommen war und sich kaum mehr als einen Kratzer zugezogen hatte. War er getürmt? Hatte er seine Kameraden dem Tod überlassen? In den Gesichtern mancher
Leute sah er genau diese Fragen. War dies das ewige Schicksal des einzigen Überlebenden?
Die Trauerprozessionen waren an endlosen Reihen aus Männern und Frauen in Uniform und anderen in gepflegten Anzügen und Schuhen des FBI vorbeigezogen. Motorräder führten die Kolonnen an, Bürger säumten die Straßen, und überall hingen die Fahnen auf Halbmast. Der Präsident kam mit einem großen Teil des Kabinetts, und viele weitere Prominente fanden sich ein. Ein paar Tage lang sprach die gesamte Welt von nichts anderem als dem Massaker an sechs tapferen Männern in einer kleinen Straße. Über den siebten Mann wurde kaum gesprochen, und dafür war Web die meiste Zeit sehr dankbar. Trotzdem fragte er sich, wie lange dieser Aufschub noch anhalten konnte.
Die Stadt Washington war tief erschüttert. Aber nicht ausschließlich wegen des Schicksals der getöteten Männer. Denn die Folgerungen waren äußerst beunruhigend. Wurden die Verbrecher immer dreister? Tat die Polizei nicht genug für die öffentliche Sicherheit? Verlor das Kronjuwel der amerikanischen Verbrechensbekämpfung, das FBI, seinen Glanz? Die Nachrichtensender im Mittleren Osten und China schienen sich daran zu ergötzen, über ein neues Beispiel der schweren Unruhen in der westlichen Welt berichten zu können, die das arrogante Amerika eines Tages in die allzu weichen Knie zwingen würde. Zweifellos wurde in den Straßen von Bagdad, Teheran, Pjöngjang und Peking gejubelt, weil die bösen USA durch eine von den Medien angeheizte Krise nach der nächsten erschüttert wurden. Die Experten auf amerikanischem Boden warnten vor so vielen absurden Szenarien, dass Web gar nicht mehr in die Zeitung schauen oder einen Fernseher oder das Radio einschalten wollte. Aber wenn man ihn fragen würde, hätte er gesagt, dass es mit der gesamten Welt - nicht nur mit
den USA - schon seit einiger Zeit den Bach runterging.
Das Kreuzfeuer hatte zum Glück etwas nachgelassen, obwohl der Grund dafür eine andere furchtbare Tragödie war. Ein japanisches Verkehrsflugzeug war vor der Pazifikküste abgestürzt. Die Überreste von dreihundert im Meer schwimmenden Leichen waren eindeutig interessanter als eine bereits mehrere Tage alte Geschichte über eine Gruppe getöteter FBI-Agenten. Und dafür war Web ebenfalls dankbar. Lasst uns in Frieden trauern.
Er hatte inzwischen dreimal Bericht erstattet, im Hoover Building und im WFO, vor unterschiedlichen Gruppen von Ermittlern. Sie waren mit Notizblock, Kugelschreibern und Diktiergeräten ausgerüstet gewesen, einige der jüngeren Agenten sogar mit Laptops. Sie hatten Web viel mehr Fragen gestellt, als er Antworten hatte. Doch jedes Mal, wenn er gesagt hatte, dass er nicht wusste, warum er erstarrt und dann zu Boden gegangen war, hatten die Stifte aufgehört, über Papier zu kritzeln, hatten die Finger aufgehört, die Tasten zu bearbeiten.
»Als Sie >erstarrt< sind, wie Sie sagen, haben Sie da etwas gesehen? Etwas gehört, das Sie zu dieser Reaktion veranlasst hat?« Der Mann hatte in monotonem Tonfall gesprochen, der für Web nur ein winziges Stückchen unterhalb offener Ungläubigkeit lag.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie wissen es wirklich nicht? Sie wissen nicht, ob Sie erstarrt sind?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich meine, warum ich es getan habe. Warum ich mich nicht mehr rühren konnte. Es war, als wäre ich plötzlich gelähmt.«
»Aber Sie haben sich wieder gerührt, nachdem Ihr Team das Leben verloren hatte?«
»Ja«, räumte Web ein.
»Was hat sich geändert, dass Sie wieder dazu in der Lage waren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und als Sie in den Hinterhof kam, stürzten Sie?«
»Richtig.«
»Unmittelbar, bevor die Maschinengewehre das Feuer eröffneten«, sagte ein anderer Ermittler.
Web konnte seine eigene Antwort kaum hören. »Ja.«
Die Stille, die auf diese spärlichen Erwiderungen folgte, war wie ein schwerer Hieb in seine ohne hin angeschlagenen Eingeweide.
Während jeder Befragung hatte Web die Hände auf den Tisch gelegt, jedem Fragenden unverwandt ins Gesicht gesehen, und eine leicht vorgebeugte Haltung eingenommen. Diese Männer waren allesamt professionelle und erfahrene Inquisitoren. Web wusste, wenn er den Blick abwandte, sich zurücklehnte, sich am Kopf kratzte oder, was noch viel schlimmer war, die Arme verschränkte, dann würden sie unverzüglich schlussfolgern, dass er ihnen etwas vorlog. Web war keineswegs unehrlich, auch wenn er ihnen nicht die ganze Wahrheit sagte. Aber wenn er ihnen erzählte, dass der Anblick eines kleinen Jungen eine unheimliche Wirkung auf ihn gehabt hatte, vielleicht auf unerklärliche Weise seine Bewegungslosigkeit veranlasst hatte, was ihm das Leben gerettet hatte - oder dass er sich danach unendlich schwer gefühlt hatte, als wäre er in Beton gegossen, um sich Sekunden später wieder frei bewegen zu können -, dann konnte er seinen Job bei der Bundespolizei vergessen. Die Führungskräfte mochten es überhaupt nicht, wenn Agenten irrationale Kommentare abgaben.
Aber er hatte noch einen dicken Pluspunkt auf seiner Guthabenseite. Die MG-Stellungen hatten sich schließlich nicht von selbst zerstört. Die Kugeln aus seinem Gewehr sprachen eine deutliche Sprache. Und die Scharfschützen hatten alles gesehen, und er hatte das Hotel-Team gewarnt und obendrein den Jungen aus der Todeszone gerettet. Web legte großen Wert darauf, diese Punkte anzusprechen. Er wollte dafür sorgen, dass es allen bewusst war. Ihr könnt mich treten, während ich am Boden liege, meine Freunde, aber nicht zu kräftig. Immerhin bin ich trotz allem ein Held.
»Bald ist mit mir wieder alles in Ordnung«, hatte Web zu ihnen gesagt. »Ich brauche nur noch etwas Zeit. Dann bin ich wieder okay.« Und in einem entsetzten Augenblick dachte Web, dass er ihnen nach einem langen Tag möglicherweise die erste Lüge erzählt hatte.
Sie würden ihn nötigenfalls noch einmal vorladen, teilten sie ihm mit. Vorläufig sollte er gar nichts tun. Er sollte sich alle Zeit nehmen, die er brauchte, um sich wieder zu fangen. Das FBI hatte ihm die Hilfe eines Beraters angeboten, eines professionellen Psychologen. Sie hatten sogar darauf bestanden, dass er Hilfe in Anspruch nahm, und Web versprach, dass er es tun würde, obwohl im FBI immer noch jeder mit einem Stigma behaftet war, der solche Hilfe benötigte. Wenn alles wieder in Ordnung war, sagte man Web, würde er einem anderen Angriffs- oder Scharfschützen-Team zugewiesen werden, sofern er es wünschte, bis ein neues Charlie-Team zusammengestellt war. Wenn nicht, konnte er eine andere Arbeit innerhalb der Behörde übernehmen. Es wurde sogar davon geredet, dass man ihm gestatten sollte, in ein »Büro seiner Wahl« zu wechseln, worauf er die Möglichkeit hatte, von diesem Posten aus direkt in den Ruhestand zu gehen. Diese Prozedur war normalerweise altgedienten Agenten vorbehalten und stellte ein deutliches Zeichen dar, dass das FBI völlig unsicher war, was es mit ihm anstellen sollte. Offiziell steckte Web mitten in einer administrativen Ermittlung, die sich möglicherweise zu einem ausgewachsenen Fall entwickelte, je nachdem, was die Untersuchungen ergaben.
Jedenfalls war Web bislang noch nicht über seine Rechte belehrt worden, was sowohl gut als auch schlecht war. Es war gut, weil eine solche Belehrung bedeutet hätte, dass er verhaftet war, und es war schlecht, weil alles, was er während der Befragungen sagte, zivil- oder strafrechtlich gegen ihn verwendet werden konnte. Der einzige Fehler, den er begangen hatte, war anscheinend der Umstand, dass er überlebt hatte. Und die Schuldgefühle, die sich daraus ergaben, waren erheblich schlimmer als alles andere, was das FBI ihm vielleicht hätte vorwerfen können.
Natürlich würde er alles bekommen, was er wollte, wurde Web gesagt. Alle waren seine Freunde. Er konnte sich voll und ganz auf ihre Unterstützung verlassen.
Wenn Web fragte, wie die Ermittlungen vorankamen, bekam er keine Antwort. Also hatte die uneingeschränkte Unterstützung doch ihre Grenzen.
»Werden Sie wieder gesund«, hatte ein anderer zu ihm gesagt. »Nur darauf sollten Sie sich konzentrieren.«
Am Ende des letzten Gesprächs gab es noch eine abschließende Frage. »Wie geht es Ihrer Hand?«, wollte der Mann wissen. Web kannte ihn nicht, und obwohl die Frage harmlos klang, war da etwas in seinen Augen, das in Web den Wunsch erweckte, ihm einen kräftigen Kinnhaken zu verpassen. Doch dann sagte Web nur, dass alles in Ordnung war, bevor er den Ermittlern dankte und ging.
Auf dem Rückweg von der letzten Befragung war er an der Ehrenwand des FBI vorbeigekommen, an der Tafeln für jeden FBI-Angehörigen hingen, der im Dienst sein Leben gelassen hatte. Demnächst würde es zu einer größeren Erweiterung kommen, der größten in der gesamten Geschichte der Bundesbehörde. Web hatte sich schon häufiger gefragt, ob er eines Tages hier enden würde, auf einer Tafel aus Holz und Messing zusammengefasst und an diese Wand gehängt.
Die Buchstaben FBI standen offiziell auch für Fidelity,
Brauery and Integrity - »Treue, Mut und Redlichkeit«. Doch im Augenblick hatte Web nicht das Gefühl, dass auch nur eine dieser Eigenschaften auf ihn zutraf.
KAPITEL 7
Francis Westbrook war ein Hüne von Mann mit der Größe und dem Körperumfang eines Footballspielers. Unabhängig vom Wetter oder der Jahreszeit bestand seine Lieblingskleidung aus kurzärmligen tropischen Seidenhemden, hellen Hosen und Halbschuhen aus Wildleder, die er ohne Socken trug. Sein Schädel war kahl, die großen Ohren waren mit Diamantsteckern besetzt und die riesigen Finger mit Goldringen geschmückt. Er war eigentlich gar kein Dandy, aber es gab nun einmal nicht viele Dinge, die er sich vom Geld aus seinen Geschäften kaufen konnte, ohne dass sich das Gesetz oder, schlimmer noch, die Finanzbehörde dafür interessierte. Außerdem gefiel es ihm, gut auszusehen.
Im Augenblick fuhr Westbrook im Fond einer großen Mercedes-Limousine mit schwarz getönten Scheiben. Links von ihm saß seine rechte Hand, Antoine Peebles. Der Fahrer war ein großer, athletisch gebauter junger Mann namens Toona, und auf dem Beifahrersitz befand sich sein Sicherheitschef Clyde Macy, der einzige Weiße in Westbrooks Mannschaft. Es war nicht zu übersehen, dass der Mann diese Auszeichnung stolz zur Schau trug.
Peebles hatte einen gepflegten Bart und die Haare im Afrolook frisiert. Er war klein und untersetzt, aber sein ArmaniAnzug und die Designer-Sonnenbrille standen ihm gut. Er machte eher den Eindruck eines Hollywood-Angestellten als den eines Handlangers im Dienst eines Drogenbosses. Macy sah aus wie ein lebendes Skelett, bevorzugte schwarze und geschäftsmäßige Kleidung und hätte aufgrund seines kahl geschorenen Kopfes leicht für einen Neonazi gehalten werden können.
Diese Männer bildeten den inneren Kreis von Westbrooks kleinem Imperium. Der Imperator hielt eine Neun-MillimeterPistole in der rechten Hand und schien nach irgendjemandem zu suchen, gegen den er sie einsetzen konnte. »Erzähl mir doch noch mal, wie du Kevin verloren hast!« Er blickte Peebles an und schloss den Griff noch fester um die Pistole, die er vor kurzem entsichert hatte. Peebles schien es bemerkt zu haben und zögerte nicht mit einer Antwort. »Wenn du genügend Leute abgestellt hättest, um ihn rund um die Uhr im Auge zu behalten, hätten wir ihn niemals verloren. Nachts zieht er manchmal los. Und in jener Nacht ist er losgezogen und nicht mehr zurückgekommen.«
Westbrook schlug sich klatschend auf den gewaltigen Oberschenkel. »Er war in dieser Nebenstraße. Die FBI-Leute hatten ihn, und jetzt haben sie ihn nicht mehr. Irgendwie hat er sich in die Sache eingemischt, und es ist in meinem verdammten Hinterhof passiert.« Er schlug mit der Pistole gegen die Wagentür und brüllte: »Ich will Kevin wiederhaben!«
Peebles warf ihm einen nervösen Blick zu, während Macy überhaupt keine Reaktion zeigte.
Westbrook legte eine Hand auf die Schulter des Fahrers. »Toona, du wirst ein paar Jungs zusammentrommeln und jede Ecke dieser verdammten Stadt absuchen, hast du verstanden? Ich weiß, dass ihr es schon mal getan habt, aber jetzt werdet ihr es noch mal tun. Ich will diesen Jungen gesund und unversehrt zurückhaben, hast du verstanden? Gesund und unversehrt - und komm erst zurück, wenn du es geschafft hast. Hast du mich verstanden, Toona?«
Toona warf einen Blick in den Rückspiegel. »Ja, ich habe dich verstanden.«
»Eine abgekartete Sache«, sagte Peebles. »Nur um dir die Schuld in die Schuhe zu schieben.«
»Meinst du, das wüsste ich nicht? Weil du auf dem College warst, meinst du offenbar, du wärst schlau und ich blöd! Ich weiß, dass die FBI-Leute mir wegen dieser Sache an den Arsch wollen. Ich weiß, was auf der Straße geredet wird. Irgendwer versucht, alle Gruppen zusammenzubringen, fast wie in einer Gewerkschaft, aber sie wissen, dass ich nicht mitmachen werde, und das wirft ihre Pläne über den Haufen.« Westbrooks Augen waren gerötet. In den letzten achtundvierzig Stunden hatte er kaum geschlafen. Daraus bestand sein Leben: Es war die Hauptaufgabe jedes Tages, die Nacht zu überleben. Und jetzt konnte er nur daran denken, wo sich dieser Junge herumtreiben mochte. Er stand unmittelbar vor dem Abgrund, das spürte er genau. Er hatte gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, aber trotzdem war er nicht darauf vorbereitet gewesen.
»Wer auch immer Kevin hat, wird es mich wissen lassen. Schließlich wollen sie was von mir. Sie wollen, dass ich mich ihnen anschließe, genau das wollen sie.«
»Und wirst du ihnen geben, was sie wollen?«
»Sie können alles haben, was sie wollen. Hauptsache, ich krieg Kevin wieder.« Er verstummte und blickte aus dem Fenster, auf die Straßen und Ecken und billigen Bars, an denen sie vorbeikamen, all die Winkel, in die die Fühler seiner Drogengeschäfte reichten.
Auch in den Vorstädten, wo das große Geld war, machte er gute Geschäfte. »Ja, so ist es. Wenn ich Kevin wiederkriege, bring ich die Schweine alle um. Eigenhändig.« Er zielte mit der Pistole auf einen nicht vorhandenen Feind. »Ich werde mit den Knien anfangen und mich dann langsam hocharbeiten.«
Peebles warf Macy, der immer noch keine Reaktion zeigte, einen misstrauischen Blick zu. Es war, als wäre er aus Stein. »Nun, bislang hat niemand Kontakt zu uns aufgenommen«, sagte Peebles.
»Das wird noch kommen. Sie haben sich Kevin nicht geschnappt, um Basketball mit ihm zu spielen. Sie wollen mich. Nun, hier bin ich, sie müssen nur zur Party kommen. Ich bin für die Party bereit, es kann losgehen, verdammt noch mal.« Westbrook beruhigte sich ein wenig. »Es heißt, dass einer der Bullen im Hof nicht die Kurve gekratzt hat. Richtig?«
Peebles nickte. »Web London.«
»Es heißt, es waren Maschinengewehre. Kaliber fünfzig. Wie konnten sie einen der Bullen verfehlen?« Als Peebles mit den Schultern zuckte, wandte sich Westbrook an Macy. »Was hast du darüber gehört, Mace?«
»Im Augenblick kann niemand etwas Genaues sagen, aber wie ich gehört habe, hat sich der Kerl gar nicht in den Hinterhof getraut. Er hat Schiss bekommen, ist durchgedreht oder so was in der Art.«
»Durchgedreht oder so was in der Art«, wiederholte Westbrook. »Okay, du siehst zu, dass du was über diesen Kerl rauskriegst. Ein Kerl, der so 'ne Ballerei übersteht, hat einiges zu erzählen. Zum Beispiel, wo Kevin ist.« Er sah seine Männer der Reihe nach an. »Wer die FBI-Leute abgeknallt hat, hat auch Kevin. Darauf könnt ihr Gift nehmen.«
»Nun, wie ich schon sagte, wir hätten ihn rund um die Uhr bewachen können«, warf Peebles ein.
»Was für ein beschissenes Leben soll das sein?«, fragte Westbrook. »So soll er nicht leben, nicht meinetwegen. Aber wenn die Bullen meinen Arsch wollen, werde ich ihnen zeigen, in welcher Richtung sie wirklich suchen sollten. Aber wir haben keine Ahnung, wo das sein könnte. Nachdem sechs FBI-Leute tot sind, dürften sie kaum bereit sein, sich auf einen Handel einzulassen. Sie wollen jemanden haben, den sie fertig machen können, aber ich werde es nicht sein. Ich nicht.«
»Es ist nicht gesagt, dass die Leute, die Kevin haben, ihn wieder freigeben wollen«, sagte Peebles. »Ich weiß, dass du es nicht gern hörst, aber wir wissen nicht einmal, ob Kevin überhaupt noch am Leben ist.«
Westbrook ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. »O doch,
er lebt! Kevin passiert so leicht nichts. Jedenfalls jetzt noch nicht.«
»Warum bist du dir so sicher?«
»Ich weiß es einfach, und mehr musst du gar nicht wissen. Du musst nur versuchen, so viel wie möglich über diesen FBI-Kerl rauszukriegen.«
»Web London.«
»Genau. Und wenn er nicht hat, was ich von ihm haben will, dann wird er sich wünschen, er wäre zusammen mit seinen Leuten gestorben. Gib Gas, Toona. Wir haben Geschäfte zu erledigen.«
Der Wagen fuhr in die Nacht hinaus.
KAPITEL 8
Web benötigte einige Tage, um einen Termin mit einem Psychiater zu machen, der häufiger für das FBI arbeitete, aber unabhängig war. Die Bundespolizei hatte eigene entsprechend ausgebildete Leute, aber Web war jemand von außen lieber. Er hielt es für keine gute Idee, vor einem internen Seelenklempner sein Innenleben auszubreiten. Wenn man einem Mitarbeiter etwas erzählte, erfuhr es letztlich die Behörde, auch wenn es nicht rechtens war. Zumindest ging Web davon aus. Die Schweigepflicht konnte man in der Pfeife rauchen.
Das FBI lebte größtenteils noch im Mittelalter, wenn es um die geistige Gesundheit seiner Mitarbeiter ging, und daran waren die Agenten vermutlich genauso schuld wie die gesamte Organisation. Wer für das FBI arbeitete und unter Stress litt oder Probleme mit Alkohol oder anderen Substanzen hatte, behielt es für sich und versuchte selbst damit klarzukommen. So war es zumindest noch bis vor wenigen Jahren gewesen. Die Agenten der alten Schule wären genauso wenig auf die Idee gekommen, bei einem Berater Hilfe zu suchen, wie sie ohne Waffe auf die Straße gegangen wären. Wenn ein Agent professionelle Hilfe in Anspruch nahm, erfuhr niemand davon, und es wurde schon gar nicht darüber geredet. Wer es tat, war in gewisser Weise mit einem Makel behaftet, und die Indoktrination, die man als Mitglied der Behörde mitgemacht hatte, schien gleichzeitig eine stoische Gelassenheit und ein hartnäckiges Unabhängigkeitsgefühl zu bewirken, das sich nur schwer überwinden ließ.
Dann hatten die Gewaltigen beschlossen, dass der Stress der Arbeit, der sich in zunehmender Alkohol- und Drogenabhängigkeit und steigender Scheidungsrate niederschlug, nicht mehr ignoriert werden konnte. Ein
Angestellten-Hilfsprogramm wurde initialisiert. Jede Abteilung erhielt einen entsprechenden Koordinator und Berater. Wenn der interne Berater mit der Problematik überfordert war, überwies er den Patienten an einen anerkannten außenstehenden Experten. Genau das hatte Web beantragt. Das Hilfsprogramm war außerhalb der Behörde kaum bekannt, und Web hatte nie irgendein schriftliches Dokument gesehen, das seine Existenz bewiesen hätte. Es wurde eigentlich nur hinter vorgehaltener Hand darüber geredet. Obwohl Anstrengungen unternommen wurden, herrschten immer noch die alten Vorurteile vor.
Die psychiatrischen Praxen befanden sich in einem Hochhaus in Fairfax County in der Nähe von Tyson's Corner. Web hatte schon mit Dr. O'Bannon zu tun gehabt, einem der Psychiater, die hier arbeiteten. Das erste Mal vor einigen Jahren, als die Geiselrettung zu Hilfe gerufen worden war, um eine Hand voll Schüler einer Privatschule in Richmond, Virginia, zu retten. Ein Haufen paramilitärischer Typen, die zu einer Gruppe gehörten, die sich »Freie Gesellschaft« nannte, wollte anscheinend eine arische Kultur verwirklichen, und zwar durch ihre individuelle Vorstellung von einer ethnischen Säuberung. Sie waren in die Schule gestürmt und hatten sofort zwei Lehrer getötet. Der folgende Waffenstillstand hatte fast vierundzwanzig Stunden angehalten. Als sich die Anzeichen häuften, dass die Leute wieder ihre Waffen einsetzen würden, griff schließlich die Geiselrettung ein. Alles lief perfekt, bis irgendjemand die »Freie Gesellschaft« informierte, dass die Geiselrettung zuschlagen wollte. Bei der folgenden Schießerei wurden fünf der Neonazis getötet und zwei Geiselretter verletzt. Und Web hatte es besonders schwer erwischt. Und eine weitere Geisel war zu Tode gekommen, ein zehnjähriger Junge namens David Canfield.
Web wäre es beinahe gelungen, das Kind in Sicherheit zu bringen, als plötzlich das Chaos losbrach. Das Gesicht des toten Jungen hatte Web so häufig in seinen Träumen heimgesucht, dass er freiwillig professionelle Beratung in Anspruch genommen hatte. Zu jener Zeit hatte es noch kein Angestellten- Hilfsprogramm gegeben, also hatte sich Web in aller Diskretion O'Bannons Adresse von einem anderen Agenten besorgt, der bei diesem Psychiater in Behandlung war. Es war eine der schwierigsten Unternehmungen gewesen, die Web je in Angriff genommen hatte, weil er damit in letzter Konsequenz zugab, dass er nicht mehr mit seinen Problemen fertig wurde. Er hatte niemals mit seinen Kollegen von der Geiselrettung darüber gesprochen, und er hätte sich lieber die Zunge ausgerissen, als zu offenbaren, dass er in psychiatrischer Behandlung war. Die anderen hätten es als Schwäche betrachtet, und dafür war in seinem Metier kein Platz.
Die Mitarbeiter der Geiselrettung hatten ein weiteres Mal mit psychologischen Beratern zu tun gehabt, und in diesem Fall war es ein kompletter Schlag ins Wasser gewesen. Nach dem Waco- Debakel hatte die Bundespolizei mehrere Psychiater geschickt, die sich nicht individuell, sondern mit der gesamten Gruppe der betroffenen Männer getroffen hatten. Das Ergebnis hätte etwas unglaublich Komisches gehabt, wenn der Anlass nicht so tragisch gewesen wäre. Es war das letzte Mal, dass die Behörde etwas probiert hatte.
Das letzte Mal war Web bei O'Bannon gewesen, als seine Mutter gestorben war. Nach mehreren Sitzungen war er zu der Erkenntnis gelangt, dass sich diese Problematik wohl nie restlos auflösen ließ, worauf er O'Bannon angelogen und behauptet hatte, mit ihm wäre wieder alles in Ordnung. Er machte O'Bannon deswegen keinen Vorwurf, denn kein Arzt konnte dieses Trauma hinbiegen. Dazu wäre schon ein Wunder nötig gewesen.
O'Bannon war klein und stämmig und trug häufig einen Rollkragenpullover, der sein Mehrfachkinn noch stärker betonte. Web erinnerte sich, dass O'Bannons Händedruck schlaff war, obwohl er sehr freundlich wirkte. Trotzdem wäre Web bei ihrer ersten Begegnung am liebsten sofort wieder zur Tür hinausgerannt. Stattdessen war er O'Bannon in sein Büro gefolgt und hatte sich in äußerst gefährliche Gewässer begeben.
»Wir werden Ihnen schon helfen, Web. Es braucht nur etwas Zeit. Es tut mir Leid, dass wir uns in einer so schwierigen Situation begegnen, aber die Leute kommen nur selten zu mir, wenn alles bestens ist. Das ist wohl das Schicksal meines Berufsstandes.«
Web sagte, dass er Verständnis dafür hatte, aber trotzdem verlor er den Mut. Offenkundig hatte O'Bannon kein Wunder in der Tasche, mit dem er Webs Welt wieder in den Normalzustand zurückversetzen konnte.
Sie hatten im Büro des Psychiaters Platz genommen. Es gab keine Couch, aber ein kleines Sofa, das jedoch nicht lang genug war, um sich darauf auszustrecken. O'Bannon erklärte es als »den größten populären Irrtum, was unseren Beruf betrifft. Nicht jeder Psychiater hat eine Couch.«
O'Bannons Praxis wirkte steril, mit weißen Wänden, sachlicher Einrichtung und nur sehr wenigen persönlichen Gegenständen. Web fühlte sich hier genauso gemütlich, als würde er in der Todeszelle sitzen und darauf warten, endlich auf dem elektrischen Stuhl Platz nehmen zu dürfen. Sie begannen mit Smalltalk, anscheinend, damit Web lockerer wurde. Neben O'Bannon lagen Block und Kugelschreiber bereit, aber er nahm beides nie zur Hand.
»Das werde ich später machen«, hatte O'Bannon gesagt, als Web ihn fragte, warum er sich nichts notierte. »Jetzt reden wir einfach nur miteinander.« Seine Augen huschten unruhig hin und her, was Web irritierte, obwohl die Stimme des Mannes sanft und beruhigend war. Nach einer Stunde war die Sitzung zu Ende, und Web hatte nicht das Gefühl, dass sie irgendetwas erreicht hatten. Er wusste mehr über O'Bannon als dieser über Web. Sie hatten keinen der Punkte angesprochen, mit denen
Web Probleme hatte.
»Alles braucht seine Zeit«, hatte O'Bannon gesagt, als er seinen Besucher nach draußen führte. »Keine Sorge, es kommt schon noch. Wir sollten nichts überstürzen. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.«
Web wollte ihn fragen, wie lange es in diesem Fall dauern würde, Rom zu erbauen, aber er verzichtete darauf und verabschiedete sich. Unmittelbar danach war Web überzeugt gewesen, dass er nie wieder in die kahle Praxis des untersetzten Mannes zurückkehren würde. Aber dann hatte er es doch getan. Und O'Bannon war im Verlauf mehrerer Sitzungen die Probleme mit ihm durchgegangen und hatte Web dazu gebracht, sich damit auseinander zu setzen. Web jedoch hatte nie den kleinen Jungen vergessen, der kaltblütig abgeknallt worden war, während Web ganz in seiner Nähe gewesen war und ihn doch nicht hatte retten können. Allerdings wäre es kein gutes Zeichen gewesen, wenn man so etwas irgendwann vergessen konnte.
O'Bannon hatte Web erzählt, dass er und seine Kollegen in der psychiatrischen Praxis sich seit Jahren um die Mitarbeiter des FBI kümmerten und Agenten geholfen hatten, zahlreiche Krisen zu bewältigen. Das hatte Web überrascht, weil er davon ausgegangen war, dass er einer von sehr wenigen war, die professionelle Hilfe in Anspruch nahmen. O'Bannon hatte ihn nur angesehen und gesagt: »Nur weil die Leute nicht darüber reden, heißt das nicht, dass sie keine Probleme haben oder nicht das Bedürfnis verspüren, sich zu bessern. Agenten, die den Kopf in den Sand stecken, sind tickende Zeitbomben, die nur auf den Moment der Explosion warten.«
Jetzt fragte sich Web, ob er eine solche Zeitbombe war. Er ging zu den Aufzügen hinüber, wobei ihm jeder Schritt schwerer fiel als der vorherige.
Da er in Gedanken ganz woanders war, wäre er beinahe mit einer Frau zusammengestoßen, die aus der anderen Richtung kam. Er entschuldigte sich und drückte auf den Knopf, um den Aufzug zu holen. Sie stiegen gemeinsam in die Kabine. Web wählte sein Stockwerk und trat zurück. Als sie nach oben fuhren, warf Web der Frau einen Blick zu. Sie war von durchschnittlicher Größe, schlank und sehr attraktiv. Er schätzte sie auf Ende dreißig. Sie trug einen grauen Hosenanzug, unter dem der Kragen einer weißen Bluse hervorsah. Ihr Haar war schwarz, gewellt und kurz geschnitten, und sie hatte kleine Ohrklipps. Ihre langen Finger schlossen sich fest um den Griff ihres Aktenkoffers, wie Web bemerkte. Schließlich war es sein Beruf, auch scheinbar unwichtige Details zu beachten, weil diese kleinen Dinge sehr häufig seine Zukunft bestimmten.
Der Aufzug hielt in Webs Stockwerk, und er stellte mit leichter Überraschung fest, dass die Frau ebenfalls hier ausstieg. Doch dann erinnerte er sich, dass sie auch keinen Knopf für ein anderes Stockwerk gedrückt hatte. So viel zu seiner Aufmerksamkeit für winzige Details. Er folgte ihr auf dem Weg zum Büro, in das er bestellt war. Sie blickte sich zu ihm um.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Ihre Stimme war tief und präzise und wirkte irgendwie aufgeschlossen und beruhigend auf ihn. Web bemerkte das ungewöhnlich dunkle Blau ihrer Augen, die groß, traurig und durchdringend waren. Der Blick dieser Augen konnte einen bannen.
»Ich will nur zu Dr. O'Bannon.«
»Haben Sie einen Termin?«
Offenbar verfügte sie über eine gesunde Portion Misstrauen, dachte Web. Ihm war klar, dass es das gute Recht einer Frau war, misstrauisch zu reagieren, wenn sie mit einem fremden Mann zu tun hatte. Er hatte die hässlichen Resultate vieler solcher Begegnungen gesehen, und diese Bilder konnte man niemals vergessen.
»Ja, für neun Uhr, Mittwochvormittag. Ich bin etwas zu früh dran.«
Sie bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. »So könnte man es ausdrücken. Heute ist Dienstag.«
»Scheiße«, murmelte Web und schüttelte erschöpft den Kopf. »Anscheinend brauche ich wirklich dringend einen Termin... Entschuldigung, falls ich Sie belästigt habe.« Er drehte sich um und war fest davon überzeugt, dass er nie wieder an diesen Ort zurückkehren würde.
»Verzeihen Sie, aber Sie kommen mir irgendwie bekannt vor«, sagte die Frau. Web drehte sich langsam zu ihr um. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber ich weiß, dass ich Ihr Gesicht schon einmal gesehen habe.«
»Wenn Sie hier arbeiten, wundert es mich nicht. Ich war schon ein paar Mal bei Dr. O'Bannon.«
»Nein, nicht hier. Ich glaube, es war im Fernsehen.« Dann fiel bei ihr der Groschen. »Sie sind Web London, der FBI-Agent, nicht wahr?«
Er wusste zunächst nicht, was er sagen sollte, während sie ihn einfach nur anstarrte und offenbar darauf wartete, dass er ihre Feststellung bestätigte. »Ja.« Web blickte den Korridor entlang. »Sie arbeiten hier?«
»Ich habe hier mein Büro.«
»Also sind Sie auch eine Seelenklempnerin?«
Sie streckte ihm die rechte Hand entgegen. »Ich ziehe die Bezeichnung Psychiaterin vor. Claire Daniels.«
Web schüttelte ihr die Hand, dann standen sie eine Weile verlegen da.
»Ich könnte Kaffee aufsetzen, wenn Sie eine Tasse möchten«, sagte sie schließlich.
»Machen Sie sich keine Umstände.«
Sie schloss die Tür auf, und Web folgte ihr ins Büro.
Sie nahmen im kleinen Vorzimmer Platz und tranken Kaffee. Web blickte sich im leeren Büro um.
»Haben Sie heute geschlossen?«
»Nein, die meisten Leute kommen nicht vor neun.«
»Es überrascht mich immer wieder, dass Sie keine Sekretärin oder Sprechstundenhilfe haben.«
»Nun, wenn man sich bei einer fremden Person anmelden muss, weil man eine psychiatrische Behandlung benötigt, kann das sehr beklemmend sein. Wir wissen, wann wir einen Termin haben, und wenn es klingelt, wissen wir, dass ein Patient eingetroffen ist. Dann nehmen wir ihn persönlich in Empfang. Wir haben dieses gemeinsame Wartezimmer, weil es manchmal nicht anders geht, aber in der Regel versuchen wir zu vermeiden, dass hier draußen mehrere Patienten sitzen. Auch das kann sehr beklemmend sein.«
»Ich stelle mir gerade vor, wie die Leute hier sitzen und >Rat mal, welche Psychose ich habe?< spielen.«
Sie lächelte. »Genau. Dr. O'Bannon hat diese Praxis vor mehreren Jahren eröffnet und legt großen Wert darauf, dass die Patienten sich hier wohl fühlen. Wir wollen verhindern, dass Menschen, die ohnehin Probleme haben, zusätzlich verstört werden.«
»Also kennen Sie Dr. O'Bannon recht gut.«
»Ja. Ich habe sogar eine Weile für ihn gearbeitet. Dann hat er vor einiger Zeit seine Lebenssituation neu geordnet, und nun arbeitet jeder von uns für sich, obwohl wir uns immer noch diese Büroräume teilen. So gefällt es uns wesentlich besser. Er ist sehr gut. Er ist bestimmt in der Lage, Ihnen zu helfen.«
»Meinen Sie?«, sagte Web ohne eine Spur von Hoffnung.
»Ich denke, ich habe genau wie die übrige Bevölkerung dieses Landes verfolgt, was geschehen ist. Es tut mir sehr Leid um Ihre Kollegen.«
Web trank schweigend einen Schluck Kaffee.
»Falls Sie überlegen«, sagte Claire, »ob Sie warten wollen - Dr. O'Bannon lehrt heute an der George Washington University. Er wird den ganzen Tag nicht ins Büro kommen.«
»Kein Problem. Ich habe mich im Termin geirrt. Vielen Dank für den Kaffee.« Er stand auf.
»Mr London, soll ich ihm sagen, dass Sie heute hier waren?«
»Nennen Sie mich Web. Nein, ich glaube auch nicht, dass ich morgen wiederkomme.«
Claire stand ebenfalls auf. »Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?«
Er zeigte auf die Kaffeetasse. »Sie haben mir bereits etwas Gutes getan.« Web atmete tief durch. Es wurde Zeit, dass er von hier verschwand. »Was haben Sie in der nächsten Stunde vor?«, fragte er und war gleichzeitig verblüfft, dass diese Worte über seine Lippen kamen.
»Nur Papierkram«, sagte sie hastig. Sie hatte den Blick gesenkt, und ihr Gesicht war leicht gerötet, als hätte er sie gerade zum Schülerball eingeladen und sie aus einem ihr unerfindlichen Grund sein Angebot angenommen.
»Was halten Sie davon, sich stattdessen mit mir zu unterhalten?«
»Das geht nicht. Sie sind Dr. O'Bannons Patient.«
»Dann eben nicht von Arzt zu Patient, sondern von Mensch zu Mensch.« Web hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ihm diese Worte in den Sinn kamen.
Sie zögerte einen Moment, dann forderte sie ihn auf zu warten. Sie betrat ein Büro und kehrte einige Minuten später zurück. »Ich habe versucht, Dr. O'Bannon in der Universität zu erreichen, aber niemand wusste, wo er sich aufhält. Ich kann Sie nicht beraten, wenn ich vorher nicht mit ihm gesprochen habe. Das müssen Sie verstehen, Web. So etwas tut man einfach nicht.
Ich will meinem Kollegen nicht ins Handwerk pfuschen.«
Web setzte sich unvermittelt. »Es gäbe doch sicherlich eine Rechtfertigung.«
Sie dachte kurz darüber nach. »Höchstens, wenn Ihr behandelnder Arzt nicht verfügbar wäre und Sie eine akute Krise hätten.«
»Er ist nicht verfügbar und ich stecke in einer Krise, so wahr mir Gott helfe.« Web sagte die Wahrheit, denn er fühlte sich, als wäre er wieder im Hinterhof, als könnte er sich nicht rühren, als wäre er völlig hilflos und nutzlos. Web war sich nicht mehr sicher, ob es ihm gelingen würde, aufzustehen und zu gehen, wenn sie ihn erneut zurückweisen sollte.
Stattdessen führte sie ihn zu ihrer Praxis, ließ ihn eintreten und schloss die Tür. Web sah sich um. Der Unterschied zwischen Claire Daniels' Büro und dem von O'Bannon war frappierend. Die Wände waren nicht grellweiß, sondern mattgrau, und statt der kargen Einrichtung gab es hier feminine Blümchenvorhänge. Überall hingen Bilder, hauptsächlich Porträts, vermutlich von Familienmitgliedern. Die Urkunden an der Wand bestätigten Claires beeindruckende akademische Leistungen: Abschlüsse der Universitäten Brown und Columbia und ein medizinisches Zeugnis von Stanford. Auf einem Tisch stand eine Glasflasche mit dem Etikett »Therapie in der Flasche«. Auf weiteren Tischen befanden sich Kerzen und in zwei Ecken Kaktuslampen. Über Regale und den Fußboden waren mehrere Dutzend Stofftiere verstreut. Vor einer Wand stand ein Ledersessel. Und Claire Daniels hatte tatsächlich eine Couch!
»Möchten Sie, dass ich mich dort setze?« Er zeigte darauf und versuchte angestrengt, seine Nerven unter Kontrolle zu behalten. Plötzlich wünschte er sich, er würde keine Waffe tragen, weil er das Gefühl hatte, allmählich die Selbstbeherrschung zu verlieren.
»Eigentlich sitze ich lieber auf der Couch, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Er ließ sich in den Sessel fallen und sah zu, wie sie ihre Slipper gegen Hausschuhe austauschte, die neben der Couch standen. Der Anblick ihrer nackten Füße löste in Web eine überraschende Reaktion aus. Nichts Sexuelles; er dachte vielmehr an die blutige Haut im Hof, die Überreste des CharlieTeams. Claire setzte sich auf die Couch, nahm Block und Stift vom Tisch und zog die Kappe des Filzschreibers ab. Web atmete ein paar Mal schnell ein und aus, um seine Nerven zu beruhigen.
»O'Bannon macht sich während der Sitzung keine Notizen«, bemerkte er.
»Ich weiß«, erwiderte sie mit einem ironischen Lächeln. »Ich glaube, mein Gedächtnis ist nicht so gut wie seins. Tut mir Leid.«
»Ich habe Sie nicht einmal gefragt, ob Sie auf der Liste der vom FBI anerkannten Psychologen stehen. Ich weiß es nur von O'Bannon.«
»Ich bin ebenfalls anerkannt. Und ich muss Ihre Vorgesetzten von dieser Sitzung in Kenntnis setzen. FBI-Vorschrift.«
»Aber nicht über den Inhalt dieser Sitzung.«
»Nein, natürlich nicht. Nur dass wir miteinander geredet haben. Grundsätzlich gilt in dieser Situation die gleiche Schweigepflicht wie bei normalen Therapiegesprächen.«
»Grundsätzlich?«
»Es gibt einige Besonderheiten. Wegen des außergewöhnlichen Jobs, den Sie machen.«
»O'Bannon hat es mir erklärt, als ich zu ihm kam, aber ich schätze, es ist mir nie so richtig klar geworden.«
»Zum Beispiel bin ich verpflichtet, Ihre Vorgesetzten zu informieren, falls während einer Sitzung etwas offenbart wird, das eine Gefahr für Sie oder andere darstellen könnte.«
»Das klingt vernünftig.«
»Finden Sie? Nun, ich meine, diese Vorschrift ist Ihnen gegenüber nicht besonders fair. Was der eine als harmlos einstuft, stellt für einen anderen möglicherweise eine ernsthafte Gefahr dar. Aber damit Sie's wissen - ich bin noch nie in die Verlegenheit gekommen, Meldung machen zu müssen, und ich arbeite schon seit langem mit Leuten vom FBI, von der DEA und anderen Behörden.«
»Was müssen Sie sonst noch melden?«
»Der zweite wichtige Punkt sind Drogenabhängigkeit und dergleichen.«
»Richtig. Damit nimmt es die Bundespolizei peinlich genau«, sagte Web. »Selbst wenn man Mittel nimmt, die frei verkäuflich sind, muss man es melden. Das kann manchmal ziemlich nervig sein.« Er blickte sich um. »Ihre Praxis ist viel gemütlicher eingerichtet. O'Bannons Büro erinnert mich an einen Operationssaal.«
»Jeder von uns hat seinen individuellen Ansatz.« Sie hielt inne und starrte auf seine Hüftgege nd.
Web folgte ihrem Blick und bemerkte, dass sich dort seine Windjacke geöffnet hatte und der Griff seiner Pistole sichtbar war. Er zog den Reißverschluss der Jacke zu, und Claire blickte auf ihren Notizblock.
»Entschuldigung. Es ist nicht das erste Mal, dass ich einem bewaffneten Agenten gegenübersitze. Aber ich vermute, wenn man so etwas nicht jeden Tag sieht...«
»...können sie einem einen ganz schönen Schrecken einjagen«, vervollständigte er den Satz.
Dann betrachtete er das überall verstreute Spielzeug.
»Was machen Sie mit den Stofftieren?«
»Ich habe viele Kinder als Patienten«, sagte sie und fügte hinzu: »Leider. Mit den Tieren fühlen sie sich etwas wohler.
Und um ehrlich zu sein, geben sie auch mir ein besseres Gefühl.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, dass Kinder einen Psychiater benötigen.«
»Die meisten leiden unter Essstörungen. Bulimie oder Magersucht. Meistens liegt es an Konflikten mit den Eltern. Also muss man das Kind und die Eltern behandeln. Es ist nicht leicht, als Kind in dieser Welt zu leben.«
»Für Erwachsene ist es auch nicht gerade das Paradies.«
Sie bedachte ihn mit einem Blick, den Web als sehr abschätzend empfand. »Sie haben in Ihrem Leben eine Menge durchgemacht.«
»Mehr als manche, weniger als andere. Sie werden mich hoffentlich nicht diesem Test mit dem Farbklecks unterziehen, oder?« Er sagte es in scherzhaftem Tonfall, obwohl er es in Wirklichkeit ernst meinte.
»Die Psychologen arbeiten mit Rorschach-Tests, Persönlichkeitstests und neurologischen Untersuchungen. Ich bin nur eine bescheidene Psychiaterin.«
»Ich musste ein MMPI machen, als ich zum Geiselrettungsteam kam.«
»Das Minnesota Multiphasic Personality Inventory. Dieser Test ist mir bekannt.«
»Damit sollen die Verrückten aussortiert werden.«
»So könnte man 's ausdrücken. Hat es funktioniert?«
»Einige haben den Test nicht bestanden. Ich habe schnell erkannt, worum es eigentlich ging, und mich einfach hindurchgelogen.«
Claire Daniels hob die Augenbrauen, und ihr Blick wanderte wieder zu der Stelle, wo sich seine Waffe befand. »Das beruhigt mich.«
»Ich glaube, der Unterschied ist mir nicht ganz klar. Zwischen
Psychologen und Psychiatern, meine ich.«
»Ein Psychiater muss vier Jahre an der medizinischen Fakultät studieren. Danach müssen Sie drei Jahre Praktikum in der Psychiatrie eines Krankenhauses machen. Ich habe außerdem ein mehrjähriges Praktikum in der forensischen Psychiatrie absolviert. Seitdem arbeite ich in privaten Praxen. Als Ärzte können Psychiater auch Medikamente verschreiben, was Psychologen in der Regel nicht dürfen.«
Web verschränkte immer wieder nervös die Hände.
Claire, die ihn aufmerksam beobachtete, sagte: »Soll ich Ihnen erzählen, wie ich bei meiner Arbeit vorgehe? Wenn Sie alles wissen, was Sie wissen möchten, können wir weitermachen. Einverstanden?«
Web nickte, und sie lehnte sich gegen das Polster der Couch.
»Als Psychiaterin muss ich alles über normales menschliches Verhalten wissen, damit ich erkenne, wenn bestimmte Verhaltensweisen außerhalb der Norm liegen. Ich nenne Ihnen ein offensichtliches Beispiel, mit dem Sie zweifellos vertraut sind, nämlich Serienkiller. In der Mehrheit der Fälle wurden die Betreffenden als Kinder regelmäßig auf schreckliche Weise missbraucht. Und sie zeigen während ihrer Jugend recht klare Verhaltensmuster. Sie kompensieren ihre Wut, indem sie kleine Tiere quälen und so die Grausamkeit, die ihnen zugefügt wird, auf Lebewesen übertragen, die ihnen wehrlos ausgeliefert sind. Dann gehen sie auf größere Tiere über und richten ihre Aggression auf andere Ziele, während sie älter, stärker und mutiger werden. Und schließlich landen sie im Erwachsenenalter bei Menschen. Dieser Ablauf ist eine recht vorhersehbare Entwicklung.
Solche Abläufe muss man kennen. Ferner muss man die Fähigkeit besitzen, sozusagen mit einem dritten Ohr zuzuhören. Menschliche Kommunikation ist immer vielschichtig, in jeder vordergründigen Aussage schwingen weitere Botschaften mit.
Ein Psychiater trägt viele Hüte, manchmal mehrere gleichzeitig. Es kommt darauf an, zuzuhören, ich meine, wirklich zuzuhören, was man gesagt bekommt, mit Worten, mit Körpersprache und so weiter.«
»Gut. Wie würden Sie also bei mir vorgehen?«
»Normalerweise lasse ich den Patienten zunächst einen allgemeinen Fragebogen ausfüllen, aber ich denke, das ersparen wir uns. Von Mensch zu Mensch«, setzte sie mit einem sehr warmen Lächeln hinzu.
Web spürte, wie die Hitze in seinem Bauch allmählich nachließ.
»Aber wir sollten kurz auf Ihren Hintergrund eingehen, die üblichen Grundinformationen. Damit können wir dann weitermachen.«
Web stieß seufzend den Atem aus. »Im März werde ich achtunddreißig. Ich war auf dem College und bin dann irgendwie an die University of Virginia gekommen und habe tatsächlich meinen juristischen Abschluss geschafft. Danach habe ich etwa sechs Monate im Büro des Staatsanwalts von Alexandria gearbeitet, bis ich erkannte, dass dieses Leben nichts für mich war.
Zusammen mit einem Kumpel beschloss ich, mich beim FBI zu bewerben. Es war im Grunde nur eine Laune. Wir wollten einfach mal schauen, ob wir es schaffen. Ich wurde angenommen, er nicht. Ich habe die Akademie überlebt und es dreizehn Jahre beim FBI ausgehalten. Ich fing als Spezialagent an und arbeitete in verschiedenen Abteilungen und Büros im ganzen Land. Vor etwas über acht Jahren bewarb ich mich beim HRT. Das Hostage Rescue Team gehört seit kurzem zur CIRG, der Critical Incident Response Group, die für Schwerverbrechen zuständig ist.
Beim Auswahlprozess wird einem der Arsch aufgerissen, und neunzig Prozent der Bewerber schaffen es nicht. Zuerst machen sie einen mit Schlafentzug fertig, dann wird man bis zur totalen körperlichen Erschöpfung gehetzt, und dann zwingen sie einen, in kürzester Zeit Entscheidungen zu treffen, bei denen es um Leben oder Tod geht. Man wird darauf gedrillt, im Team zu arbeiten und sich für das Team zu opfern, aber der Konkurrenzdruck ist trotzdem hoch, weil es nur wenige Stellen gibt. Es war alles andere als ein Spaziergang. Ich habe gesehen, wie ehemalige Navy-SEALs, Leute aus Spezialeinheiten, sogar von der Delta Force, zusammenbrachen, weinten, ohnmächtig wurden, halluzinierten, zu Selbstmördern oder Amokläufern werden wollten, nur damit die Folter aufhört. Wie durch ein Wunder habe ich all das überstanden und danach fünf Monate an der NOTS verbracht, der New Operators Training School. Abkürzungen sind bei der Bundespolizei äußerst beliebt, falls Sie es noch nicht bemerkt haben. Wir sind in Quantico stationiert. Zurzeit bin ich Kämpfer.« Claire machte einen verwirrten Eindruck. »Das HRT besteht aus Blauen und Goldenen Einheiten, in jeder gibt es vier Teams. Sie sind identisch aufgebaut, damit wir gleichzeitig zwei Krisen an verschiedenen Orten bewältigen können. Die Hälfte der Teams besteht aus Kämpfern, Angriffsgruppen, die andere Hälfte sind Scharfschützen. Die Scharfschützen werden an der Marine Corps Scout Sniper School ausgebildet. Wir werden abwechselnd in beiden Bereichen trainiert. Ich habe als Scharfschütze angefangen. Das bedeutet, dass man wirklich die Arschkarte gezogen hat, aber seit das HRT 1995 umorganisiert wurde, ist es deutlich besser geworden. Trotzdem liegt man immer noch wochenlang in Matsch, Regen und Schnee herum, spioniert das Ziel aus und versucht die Schwachstellen der Gegner ausfindig zu machen, damit man sie später leichter töten kann. Oder man kann ihnen auf diese Weise das Leben retten, wenn man bei der Beobachtung feststellt, in welcher Situation sie voraussichtlich nicht zurückschießen werden. Man wartet auf die beste Gelegenheit zum Schuss, aber man weiß nie, ob dieser
Schuss einen Feuersturm entfachen wird.«
»Das klingt, als hätten sie so etwas schon einmal erlebt.
»Einer meiner ersten Einsätze fand in Waco statt.«
»Ich verstehe.«
»Im Augenblick bin ich dem Charlie-Team der Blauen Einheit zugeteilt.« War ich, stellte Web in Gedanken richtig. Es gab kein Charlie-Team mehr.
»Also sind Sie gar kein FBI-Agent im eigentlichen Sinn.«
»Doch, das sind wir alle. Man muss mindestens drei Jahre in der Behörde gearbeitet haben und außergewöhnliche Leistungen vorweisen können, um sich überhaupt für die Geiselrettung bewerben zu dürfen. Wir haben die gleichen Hundemarken, die gleichen Ausweise. Aber die Leute vom HRT bleiben unter sich, haben ihre eigenen Einrichtungen und keine weiteren Pflichten außerhalb der Geiselrettung. Wir trainieren gemeinsam. Grundfähigkeiten, Knots, CQB.«
»Was meinen Sie damit?«
»Knots umfasst das Kampf- und Schusswaffentraining. CQB steht für Close Quarters Battle, den Nahkampf. Schusswaffen und CQB sind die Fähigkeiten, die am schnellsten verkümmern, also werden sie ständig trainiert.«
»Klingt sehr militärisch.«
»Stimmt. Aber wir sind auch sehr militärisch organisiert. Wir wechseln zwischen Einsatzbereitschaft und Training. Wenn man in Einsatzbereitschaft ist und ein Auftrag kommt, zieht man los. Zwischen den aktiven Einsätzen beschäftigt man sich mit Spezialprojekten und Spezialübungen, zum Beispiel Seilklettern, Hubschraubereinsätze, SEAL-Training, erste Hilfe. Aber auch Überlebenstraining; das heißt, wir stapfen durch Feld und Wald und versuchen zurechtzukommen. Unsere Tage sind alles andere als langweilig, glauben Sie mir.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Claire.
Web betrachtete seine Schuhe, und sie schwiegen eine Weile.
»Fünfzig Alpha-Männchen auf einem Haufen ist manchmal gar nicht so gut«, sagte er lächelnd. »Wir versuchen uns ständig gegenseitig zu übertreffen. Kennen Sie diese Übungswaffen, die elektrische Pfeile verschießen und den Getroffenen lähmen?«
»Ja, ich hab davon gelesen.«
»Nun, wir haben einmal einen Wettbewerb veranstaltet, bei dem es darum ging, wer nach einem solchen Treffer am schnellsten wieder auf die Beine kommt.«
»Großer Gott!«, rief Claire.
»Ich weiß, es ist verrückt«, gab er zu. »Ich habe nicht gewonnen. Ich ging zu Boden, als wäre ich von einem Footballspieler gerammt worden. Aber das gehört irgendwie zu unserer Mentalität. Extreme Konkurrenz.« Er wurde wieder etwas ernster. »Aber wir machen unsere Arbeit gut. Und unsere Arbeit ist nicht einfach. Wir machen das, was kein anderer tun möchte. Unser offizielles Motto lautet >Leben rettenc. Und damit sind wir meistens erfolgreich. Wir versuchen, jede Eventualität zu berücksichtigen, aber es gibt immer jede Menge Fehlerquellen. Ob wir Erfolg haben oder nicht, könnte letztlich von einer Türkette abhängen, mit der wir nicht gerechnet haben, während wir eine Wohnung stürmen, oder ob wir nach links oder rechts gehen oder ob wir nicht schießen, wenn wir hätten schießen sollen. Und wenn heutzutage irgendein Kerl einen Kratzer abbekommt, nur weil er versucht hat, uns abzuknallen, fängt sofort das große Geschrei an, und man fordert, dass im FBI Köpfe rollen müssen. Wenn ich nach Waco den Dienst quittiert hätte, wäre mein Leben vielleicht völlig anders verlaufen.«
»Warum haben Sie es nicht getan?«
»Weil ich über eine ganze Reihe besonderer Fähigkeiten verfügte, die ich dazu benutzen konnte, unschuldige Bürger zu schützen. Um dieses Land vor Menschen zu schützen, die seinen
Bürgern etwas antun wollen.«
»Klingt sehr patriotisch. Manche Zyniker könnten Sie auffordern, diese Philosophie noch einmal gründlich zu überdenken.«
Web starrte sie einige Sekunden an, bevor er antwortete. »Wie viele von diesen Fernsehkommentatoren haben schon einmal erlebt, wie ein durchgeknallter Asozialer auf Meth ihnen eine abgesägte Schrotflinte an den Kopf hält und überlegt, ob er sie ins Jenseits schicken soll oder nicht? Oder wie man irgendwo im Niemandsland der USA auf das Ende wartet, während ein selbst ernannter Jesus-Jünger, der in seinem heiligen Buch gelesen zu haben glaubt, es sei völlig richtig, die Kinder seiner Anhänger zu missbrauchen, das gesamte Land auf seinen Psycho-Trip mitnehmen will und sein Leben im fünfzehnminütigen Ruhm eines Feuerballs beschließt? Wenn die Zyniker irgendein Problem mit meiner Motivation oder meinen Methoden haben, sollen sie sich selbst um diese Idioten kümmern. Sie würden keine zwei Sekunden überleben. Sie erwarten Perfektion von denen, die auf der Seite der Guten stehen, in einer Welt, in der es das Gute und die Perfektion einfach nicht gibt. Die Bösen könnten tausend Babys die Köpfe abreißen, und ihre Anwälte würden trotzdem Zeter und Mordio schreien, wenn man ihnen während der Festnahme auch nur den Arm umdreht. Gut, die hohen Tiere in der Bundespolizei machen Fehler, wenn sie Befehle geben, und einige von ihnen sollten nicht auf diesen Posten sitzen, weil sie einfach inkompetent sind. Ich war nicht in Ruby Ridge, aber dieser Einsatz war von der ersten Minute an ein Desaster, und es war in erster Linie die Schuld der Feds, dass viele unschuldige Menschen sterben mussten. Aber letztlich sind es Leute wie ich, die diese Befehle befolgen und denen man die Eier abschneidet, weil sie es wagen, ihr Leben zu riskieren, um das zu tun, was sie für das Richtige halten, und für dieses Privileg ein lächerliches Gehalt beziehen. Das ist meine Welt, Dr. Daniels. Willkommen in der Hölle.«
Web atmete tief durch, spürte, wie er zitterte, und blickte dann zu Claire hinüber, die genauso erschüttert aussah, wie er sich fühlte. »Tut mir Leid«, sagte er schließlich. »Ich bin wohl so etwas wie ein patriotischer Idiot, wenn es um diese Dinge geht.«
Claire machte einen zerknirschten Eindruck. »Ich glaube, ich sollte mich entschuldigen. Ich bin überzeugt, dass Sie Ihre Arbeit häufig als undankbar empfinden.«
»Ja, in diesem Augenblick empfinde ich sie genau so.«
»Erzählen Sie mir von Ihrer Familie«, sagte sie nach einer weiteren verlegenen Schweigepause.
Web lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, während er wieder in schneller Folge ein- und ausatmete. Vierundsechzig Schläge pro Minute, Web. Das ist alles, was du brauchst, Mann. Vierundsechzig. Das kann doch nicht so schwer sein. Er beugte sich vor. »Klar. Kein Problem. Ich bin ein Einzelkind.
Ich wurde in Georgia geboren. Wir sind nach Virginia gezogen, als ich um die sechs Jahre alt war.«
»Und wer ist in diesem Fall wir? Ihre Mutter und Ihr Vater?«
Web schüttelte den Kopf. »Nein, nur meine Mutter und ich.«
»Und Ihr Vater?«
»Er ist nicht mitgekommen. Der Staat hatte ihn für längere Zeit verpflichtet.«
»War er bei der Armee?«
»Das nicht. Er saß im Gefängnis.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Keine Ahnung.«
»Hat es Sie nie interessiert?«
»Wenn, dann hätte ich es bestimmt herausfinden können.«
»Okay. Sie zogen also nach Virginia. Was geschah dann?«
»Meine Mutter hat wieder geheiratet.« »Und wie war Ihre Beziehung zu Ihrem Stiefvater?«
»Gut.«
Claire sagte nichts, sondern wartete offenbar darauf, dass er mehr erzählte. Als er es nicht tat, sagte sie: »Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung zu Ihrer Mutter.«
»Wir haben keine Beziehung mehr. Sie ist jetzt seit neun Monaten tot.«
»Woran ist sie gestorben? Falls Sie mir diese Frage gestatten.«