»Ich habe mein komplettes Team verloren, Perce. Es wäre mir schon lieb, wenn ich über alles in Kenntnis gesetzt würde.«

Bates beugte sich vor und verschränkte die Hände. »Er hat in Kalifornien an einem Fall gearbeitet. Unter strengster

Geheimhaltung, weil es mit der Russenmafia zu tun hatte, und diese Kerle jagen einem eine Rakete in den Hintern, wenn man im falschen Moment hustet. Im Vergleich zu ihnen sind die italienischen Mafiosi Vorschulkinder.« Bates verstummte.

»Und?«

»Und dann wurde er enttarnt. Sie haben seine Familie ausfindig gemacht.«

»Und sie getötet?«

»Abgeschlachtet trifft es besser.« Bates räusperte sich. »Ich habe die Fotos gesehen.«

»Wo war Cove?«

»Sie haben für ein Ablenkungsmanöver gesorgt, damit sie freie Hand hatten.«

»Und gegen ihn haben sie nichts unternommen?«

»Sie haben es versucht, später. Sie haben gewartet, bis er seine Familie unter die Erde gebracht hatte, nett und rücksichtsvoll, wie sie sind. Und als sie wiederkamen, wartete Cove auf sie.«

»Und dann hat er sie getötet?«

Bates blinzelte in schneller Folge, und Web bemerkte plötzlich ein Muskelzucken am linken Auge des Mannes.

»Ich habe auch diese Fotos gesehen«, sagte er nur.

»Und die Bundespolizei hat diesen Kerl einfach weitermachen lassen? Ich dachte immer, Agenten, deren Familien getötet wurden, sollten vorzeitig pensioniert werden.«

Bates breitete resignierend die Arme aus. »Genau das wurde ihm angeraten, aber er wollte nicht. Er wollte weiterarbeiten. Und ich kann Ihnen sagen, dass dieser Mann anschließend länger und härter arbeitete als jeder andere Undercover-Mann, den wir jemals hatten. Man hat ihn aus Kalifornien abgezogen und ins WFO versetzt. Glauben Sie mir, der Mann ist in Bereiche vorgedrungen, zu denen wir nie zuvor Zugang hatten.

Dass wir in den letzten Jahre jede Menge Schwerverbrecher verurteilen konnten, ist in erster Linie Randall Coves Verdienst.«

»Klingt ganz nach einem Helden.«

Endlich konnte Bates seinen Tic beruhigen. »Er ist unorthodox, und er arbeitet meistens allein, was den hohen Tieren in der Behörde gar nicht gefällt. Ich kann nicht behaupten, dass es seiner Karriere nicht geschadet hätte. Andererseits hat das FBI außer dem Undercover-Einsatz kaum Verwendung für jemanden wie ihn, und ich bin mir sicher, dass er auch das gewusst hat. Aber er hat sich unersetzlich gemacht. Wir haben ihm jederzeit Rückendeckung gegeben. Die Guten dürfen sich alles erlauben, und der Mann hat seinen Auftrag immer erfüllt. Bis jetzt.«

»Und dass die Russen seine Familie aufspüren konnten - irgendwelche Hinweise, dass irgendeine Panne im FBI dafür verantwortlich war?«

Bates zuckte mit den Schultern. »Cove schien keinen Verdacht in dieser Richtung zu haben. Seitdem war er ständig im Einsatz.«

»Sie kennen sicher das Sprichwort, dass die Rache ein Gericht ist, das am besten kalt genossen wird.«

Wieder zuckte Bates mit den Schultern. »Schon möglich.«

Allmählich steigerte sich Web immer mehr hinein. »Wissen Sie, mir sträuben sich gerade sämtliche Nackenhaare, wenn ich daran denke, dass ein solcher Kerl weiter in den Diensten des FBI stand, sodass er mein Team direkt auf den Weg in die Hölle führen konnte, um den Tod seiner Frau und seiner Kinder zu rächen. Gibt es bei Ihnen überhaupt keine Qualitätskontrolle für solche durchgeknallten Typen?«

»Erde an Web: Undercover-Agenten sind aus anderem Holz geschnitzt. Ihr Leben ist eine ständige Lüge, und manchmal rutschen sie zu tief in diesen Sumpf. Dann wechseln sie die

Seite oder werden von ganz allein verrückt. Deshalb tauscht das FBI solche Leute regelmäßig aus und gibt ihnen neue Aufträge oder die Gelegenheit, ihre Batterien aufzuladen.«

»Und hat man das auch mit Cove gemacht? Ihn auch nur einmal in Urlaub geschickt, damit er seine Rastalocken wieder aufladen kann? Oder ihn zu einem professionellen Berater geschickt, nachdem er seine Familie unter die Erde gebracht hatte?« Bates sagte dazu nichts. »Oder hat er so gute Arbeit geleistet, dass er einfach weitermachen durfte, bis er schließlich durchdrehte und an meinem Team Rache nahm?«

»Darüber werde ich nicht mit Ihnen diskutieren.«

»Was wäre, wenn ich Ihnen sage, dass ich mich nicht von Ihnen verarschen lasse?«

»Was wäre, wenn ich Ihnen sage, dass Sie einen Schritt zu weit gehen?«

Die Männer starrten sich eine Weile an, bis ihre Wut verrauchte.

»Und seine Informanten? Waren sie ebenfalls sauber?«, fragte Web.

»Cove hat sich nie in die Karten blicken lassen. Nur er hatte Zugang zu seinen Informanten, sonst niemand. So ist es beim FBI eigentlich nicht üblich, aber wie ich schon sagte, an seinen Resultaten ließ sich nicht aussetzen. Er hat nach seinen Regeln gespielt.«

»Wissen wir etwas mehr über das Ziel seines letzten Einsatzes? Sie sagten, es sei das Finanzzentrum irgendeines Drogenunternehmens gewesen. Wessen?«

»Nun, in diesem Punkt gibt es unterschiedliche Ansichten.«

»Wunderbar, Perce! Ich liebe es, wenn Sie sich klar und deutlich ausdrücken!«

»Unsere Arbeit ist nicht gerade eine exakte Wissenschaft, Web. Das Gebiet, in das Ihr Team geschickt wurde, wird hauptsächlich von einer Gruppe beherrscht, der von Big F. Aber das habe ich Ihnen bereits gesagt.«

»Also war es sein Geschäft, das wir in diesem Gebäude ausheben sollten.«

»Cove war nicht dieser Ansicht.«

»Er wusste es nicht genau?«

»Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Verbrecher normalerweise nicht mit Ausweisen herumlaufen, auf denen steht, welcher Bande sie angehören?«

»Und welcher Ansicht war Cove?«

»Dass dieses Finanzzentrum einem wesentlich größeren Fisch gehörte. Möglicherweise dem Drogenring, der den Handel mit Oxycodon in Washington kontrolliert. Haben Sie schon mal von diesem Zeug gehört?«

Web nickte. »Die Jungs von der DE A in Quantico reden den ganzen Tag von nichts anderem. Man muss den Stoff nicht im Labor zusammenbrauen und muss sich keine Sorgen machen, wie man es heimlich an den Mann bringt. Man muss nur den Handel zentral organisieren, was überhaupt keine Schwierigkeit ist, und schon hat man die Lizenz zum Gelddrucken.«

»Ein kriminelles Nirvana«, setzte Bates trocken hinzu. »Das Zeug ist eins der stärksten und am häufigsten verschriebenen Schmerzmittel, die derzeit auf dem Markt erhältlich sind. Es blockiert die Schmerzimpulse der Nerven und vermittelt einem ein euphorisches Gefühl. Normalerweise wirkt es zwölf Stunden lang, aber wenn man die Retardtabletten zerkleinert oder raucht, bekommt man einen Kick, der ähnlich intensiv wie bei Heroin sein soll. Außerdem kann ein solcher Missbrauch zu Atemstillstand führen, was relativ häufig auftritt.«

»Hübsche Nebenwirkung. Wollen Sie mir damit sagen, Sie haben keine Ahnung, wer Coves Insider-Informant gewesen sein könnte?«

Bates klopfte auf die Akte, die vor ihm lag. »Wir haben ein paar Vermutungen. Was ich jetzt sage, ist völlig inoffiziell.«

»Zurzeit gebe ich mich auch mit Gerüchten und Lügen zufrieden.«

»Da Cove ziemlich tief in die Organisation eingedrungen ist, vermuten wir, dass sein Informant ziemlich weit oben sitzt. Er war an Westbrook dran, als er zufällig auf die Oxy-Sache stieß. Aber ich gehe davon aus, dass die Person, die ihm geholfen hat, Westbrooks Ring zu infiltrieren, ihn auch auf diese neue Entwicklung aufmerksam gemacht hat. Antoine Peebles ist Westbrooks oberster Finanzverwalter. Er führt ein ziemlich strenges Regime, und er ist der Hauptgrund, warum wir Westbrook bislang noch nichts anhaben konnten. Das sind Westbrook und Peebles.« Er schob zwei Fotos herüber.

Web sah sie sich an. Westbrook war ein Riese. Er war sogar noch größer als Cove. Er wirkte, als hätte er einen Krieg mitgemacht. Selbst auf dem zweidimensionalen Papier starrten seine Augen mit einer Intensität, wie sie für Überlebende typisch war. Peebles dagegen machte einen völlig anderen Eindruck.

»Westbrook ist ein Schlachtross. Peebles sieht aus, als hätte er gerade seinen Abschluss in Stanford gemacht.«

»Richtig. Er ist recht jung, und wir vermuten, Peebles vertritt den neuen Typ von Drogenunternehmern, nicht so gewalttätig, sondern mehr aufs Geschäft konzentriert - und verdammt ehrgeizig. In der Szene geht das Gerücht, dass jemand versucht, alle lokalen Großhändler unter einem Dach zu vereinigen, um den Handel zu rationalisieren und günstigere Bedingungen vereinbaren zu können. Ein Geschäft im großen Stil.«

»Klingt so, als könnte Antoine danach streben, nicht nur oberster Finanzverwalter, sondern oberster Chef zu werden.«

»Vielleicht. Westbrook dagegen ist auf der Straße groß geworden. Ihm kann keiner mehr etwas vormachen, aber wir haben gehört, dass er möglicherweise versucht, aus dem Drogengeschäft auszusteigen und sich zur Ruhe zu setzen.«

»Peebles dürfte andere Ziele verfolgen, wenn er derjenige ist, der hinter der Neuorganisation der lokalen Drogenszene steckt. Aber wenn er wertvolle Informationen an Cove weitergibt, verhält er sich nicht so, wie man es von einem Thronerben erwarten würde. Wenn er das Geschäft kaputtmacht, hätte er nichts mehr, was er übernehmen könnte.«

»Das ist allerdings ein Problem«, schloss Bates.

»Wer gehört sonst noch dazu?«

»Westbrooks Muskelmann. Clyde Macy.«

Bates reichte ihm ein Foto von Macy. Vorsichtig ausgedrückt machte der Mann den Eindruck, als gehörte er in eine Todeszelle. Macy war so weiß, dass er beinahe anämisch aussah: ein Skinhead mit ruhigen und gleichzeitig gnadenlosen Augen, die Web automatisch an die schlimmsten Serienkiller denken ließ, mit denen er im Laufe seiner Karriere zu tun gehabt hatte.

»Wenn Jesus diesem Kerl begegnet wäre, hätte er sofort die Polizei zu Hilfe gerufen.«

»Anscheinend arbeitet Westbrook nur mit Profis«, bemerkte Bates.

»Wie passt Macy zu den schwarzen Brüdern? Er sieht eher aus wie ein Neonazi.«

»Dieser Eindruck täuscht. Anscheinend mag er nur keine Haare. Wir wissen nicht genau, was er gemacht hat, bevor er nach Washington kam. Wir konnten es ihm nie nachweisen, aber wir vermuten, dass er Fußsoldat für verschiedene Drogenbosse war, die inzwischen auf Staatskosten in Joliet untergebracht sind. Danach schloss er sich Westbrooks Truppe an. Er hat sich auf der Straße einen guten Ruf als loyaler und extrem gewalttätiger Mitarbeiter erworben. Ein Geistesgestörter, aber

auf seine Art ein Profi.«

»Also genau die richtige Qualifikation für einen Kriminellen.«

»Seine erste große Tat bestand darin, den Kopf seiner Großmutter mit einem Hackbeil zu spalten, weil sie ihm beim Abendessen immer zu kleine Portionen gab, wie er behauptete.«

»Wie kommt es, dass er nach so einem Mord immer noch frei herumläuft?«

»Er war erst elf Jahre alt und verbrachte einige Zeit in einer Jugendstrafanstalt. Seitdem konnten ihm außer drei Geschwindigkeitsübertretungen keine weiteren Verbrechen nachgewiesen werden.«

»Netter Kerl. Was dagegen, wenn ich diese Fotos behalte?«

»Bedienen Sie sich. Aber wenn Sie Macy n einer dunklen Gasse - oder auch auf einer hell erleuchteten Straße begegnen, rate ich Ihnen, lieber vorsichtig zu sein.«

»Ich bin Geiselretter, Perce. Kerle wie ihn verspeise ich zum Frühstück.«

»Klar! Reden Sie sich das ruhig weiter ein!«

»Wenn Cove wirklich so gut ist, wie Sie sagen, ist er nicht in irgendeinen Hinterhalt getappt. Da ist noch etwas anderes im Gange.«

»Vielleicht, aber jeder macht mal einen Fehler.«

»Konnten Sie bestätigen, dass Cove keine Ahnung hatte, wann unser Einsatz starten sollte?«

»Ja. Cove wurde nicht über den Termin informiert.«

»Warum nicht?«

»Man wollte vermeiden, dass irgendwo etwas durchsickert, und er sollte sich sowieso nicht im Gebäude aufhalten. Also bestand kein Grund, ihn zu informieren.«

»Toll! Sie haben nicht mal Ihrem eigenen Undercover-

Agenten vertraut! Aber das schließt nicht aus, dass er die Information aus einer anderen Quelle bekommen hat. Vielleicht vom WFO?«

»Oder vom HRT?«, gab Bates zurück.

»Und dass sich dort potenzielle Zeugen befanden... kam auch diese Info von Cove?« Bates nickte. »Wissen Sie, Perce, es wäre nett gewesen, wenn wir ebenfalls über diese Details informiert gewesen wären.«

»Es bestand kein Grund, Sie darüber in Kenntnis zu setzen. Für Ihren Einsatz waren diese Details nicht notwendig.«

»Wie können Sie arrogantes Arschloch das beurteilen, wenn Sie nicht den leisesten Schimmer haben, wie ich meine Arbeit erledige?«

»Muss ich Sie erneut davor warnen, meine Geduld und Freundlichkeit nicht überzustrapazieren?«

»Macht sich denn niemand Gedanken darüber, dass bei dieser Aktion sechs Männer getötet wurden?«

»Von höherer Warte betrachtet lautet die Antwort Nein. Nur Leuten wie Ihnen und mir ist es keineswegs gleichgültig.«

»Gibt es sonst noch etwas, das ich nicht wissen muss?«

Aus dem großen Aktenstapel zog Bates einen recht dicken Ordner, dem er einen braunen Umschlag entnahm und ihn öffnete. »Warum haben Sie mir nichts davon gesagt, dass Harry Sullivan Ihr Vater ist?«

Web stand auf und holte sich eine neue Tasse Kaffee. Eigentlich hatte er gar keinen zusätzlichen Koffeinschub nötig, aber auf diese Weise konnte er sich eine gute Antwort oder eine Lüge ausdenken. Als er sich wieder setzte, studierte Bates immer noch die Unterlagen. Schließlich blickte er zu Web auf und ließ keinen Zweifel daran, dass er die Dokumente erst aus der Hand geben würde, wenn er eine Antwort auf seine Frage bekommen hatte.

»Ich habe ihn nie als meinen Vater betrachtet. Unsere Wege trennten sich, als ich noch keine sechs Jahre alt war. Für mich ist er ein Fremder.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Wann haben Sie es herausgefunden?« Bates' Finger wanderte über eine Seite der Dokumente. »Erst, als ich Ihre komplette Personalakte aus dem Archiv holte. Wenn ich mir sein Straf- und Haftregister ansehe, überrascht es mich ehrlich gesagt, dass er überhaupt Zeit hatte, Ihre Mutter zu schwängern. Es ist eine ziemlich dicke Akte«, setzte er hinzu.

Web hätte Bates am liebsten die Akte aus den Händen gerissen und wäre damit nach draußen gestürmt. Aber er blieb sitzen, starrte auf die Blätter und wartete. Das geschäftige Treiben im Raum nahm er gar nicht mehr wahr. Es ging nur noch um ihn, um Bates und um die Informationen über seinen Vater.

»Warum sind Sie plötzlich so sehr an einem >Fremden<, wie Sie ihn bezeichnet haben, interessiert?«, fragte Bates.

»Ich schätze, ab einem bestimmten Alter spielen solche Dinge plötzlich eine Rolle.«

Bates legte den Umschlag wieder in die Akte und schob die kompletten Unterlagen zu Web hinüber. »Viel Spaß beim Lesen.«

 

KAPITEL 25

 

Das Erste, was Web bemerkte, als er zum Motel zurückkehrte, war eine frische Ölpfütze auf dem Parkplatz, den er benutzt hatte. Im Grunde war es nichts Ungewöhnliches, da ein anderer Gast dort seinen Wagen abgestellt haben konnte, auch wenn sich der Parkplatz direkt vor Webs Zimmer befand. Bevor er die Tür öffnete, untersuchte er das Schloss, während er tat, als würde er nach seinem Zimmerschlüssel kramen. Leider konnte Web mit seinen Mitteln nicht feststellen, ob sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte oder nicht. Es war nicht aufgebrochen worden, aber wer sich mit solchen Dingen auskannte, konnte die einfache Verriegelung in kürzester Zeit überwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Web öffnete die Tür und hatte die andere Hand an den Griff seiner Waffe gelegt. Er benötigte etwa zehn Sekunden, um festzustellen, dass sich niemand in dem kleinen Zimmer aufhielt. Alles war noch so, wie er es zurückgelassen hatte, und sogar die Papiere in dem Karton, den er vom Dachboden seiner Mutter mitgenommen hatte, waren allem Anschein nach nicht angerührt worden.

Web hatte jedoch fünf unauffällige Fallen im Zimmer installiert, von denen drei zugeschnappt waren. Im Laufe der Jahre hatte Web dieses System verfeinert, und er benutzte es immer, wenn er unterwegs war. Der Unbekannte, der sein Zimmer durchsucht hatte, war gut, aber nicht vollkommen. Das war ein tröstlicher Gedanke, ungefähr so, als wüsste man, dass der Vier-Zentner-Kerl, mit dem man sich gleich prügeln würde, ein empfindliches Kinn hatte und gelegentlicher Bettnässer war.

Es war schon seltsam, dass jemand sein Zimmer durchsucht hatte, während er bei Bates gewesen war. Web hatte noch nie zu naiven Illusionen über das Leben geneigt, da er zu viel

Schlimmes gesehen hatte, nicht nur als Erwachsener, sondern bereits als Kind. Doch er hatte immer geglaubt, dass er sich wenigstens auf das FBI und all die Leute verlassen konnte, die die Behörde jenseits der Vorschriften und technischen Ausrüstung mit Leben erfüllten. Zum ersten Mal in seiner Berufslaufbahn war dieses Vertrauen nun erschüttert worden.

Er packte seine wenigen Sachen ein und saß fünf Minuten später wieder in seinem Wagen. Er fuhr zu einem Restaurant in der Altstadt von Alexandria, parkte an einer Stelle, die er durch die Fenster des Restaurants beobachten konnte, bestellte sich eine Mahlzeit und beschäftigte sich mit Harry Sullivans Leben.

Bates hatte nicht übertrieben. Webs Vater war in einigen der besten Besserungsanstalten des Landes zu Gast gewesen, hauptsächlich im Süden, wo es die hervorragendsten Menschenkäfige gab, wie Web wusste. Die Vergehen seines Vaters waren zahlreich, aber es war ein klares Leitmotiv zu erkennen. Es waren stets finanzielle Gaunereien im kleineren Maßstab, von Unterschlagung bis Betrug. Den Vernehmungsund Gerichtsprotokollen in der Akte konnte Web entnehmen, dass die wirksamsten Waffen seines Alten die Zunge und eine Chuzpe waren, die jedes akzeptable Maß bei weitem überstieg.

Die Unterlagen enthielten mehrere Fotos seines Vaters, von vorn, von links und von rechts, jede Aufnahme mit der Kennziffer für die Verbrecherdatei versehen. Web hatte schon viele Schnappschüsse von verhafteten Personen gesehen, die allesamt einen verblüffend ähnlichen Eindruck machten. Die Delinquenten wirkten erschüttert und entsetzt und schienen bereit, sich die Pulsadern aufzuschneiden oder eine Kugel in den Kopf zu jagen. Doch Harry Sullivan lächelte auf allen Fotos. Der Mistkerl grinste, als hätte er trotz seiner Verhaftung die Polizei übers Ohr gehauen. Aber sein Vater war mit der Zeit sichtlich alt geworden. Er war nicht mehr der gut aussehende junge Mann von den Fotos aus dem Karton vom Dachboden. Die letzte Serie zeigte einen sehr alten Mann, der immer noch lächelte, auch wenn er weniger Zähne hatte. Es gab keinen Grund für Web, warum ihm dieser Mann etwas bedeuten sollte, aber trotzdem war es nicht leicht für ihn, seinen allmählichen Verfall auf dem Fotopapier mitzuerleben.

Als Web in einigen Gerichtsprotokollen las, musste er an einigen Stellen unwillkürlich lachen. Aus den Dialogzeilen schälte sich das Bild eines gewieften Betrügers heraus, der alle Register zog, um es seinen Anklägern so schwer wie möglich zu machen.

»Mr Sullivan«, fragte ein Anwalt, »ist es wahr, dass Sie in der fraglichen Nacht...«

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, mein Junge, aber welche Nacht soll das noch gleich gewesen sein? Mein Gedächtnis hat leider schon etwas nachgelassen.«

Web glaubte zu sehen, wie der Anwalt die Augen verdrehte, als er antwortete: »Die Nacht zum sechsundzwanzigsten Juni, Mr Sullivan.«

»Ach, diese Nacht! Erzählen Sie weiter, mein Junge. Sie machen das richtig gut! Ich bin sicher, dass Ihre Mutter verdammt stolz auf Sie ist.«

An dieser Stelle hatte der Protokollant in Klammern die Bemerkung »Gelächter im Gerichtssaal« eingefügt.

»Mr Sullivan, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich nicht Ihr Junge bin!«, sagte der Anwalt.

»Tut mir Leid, wirklich, das ist mir einfach so rausgerutscht. Ich hab's keinesfalls böse gemeint, mein Junge. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht so richtig, wie ich Sie anreden soll. Auf der Fahrt vom Gefängnis zu diesem schönen Gerichtsgebäude habe ich gehört, wie man Sie mit Bezeichnungen bedachte, die ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind an den Kopf werfen würde. Namen, bei denen sich meine arme gottesfürchtige Mutter im Grabe herumdrehen würde. Man hat Ihre Ehre und Menschlichkeit in den Schmutz gezogen, und das ist nicht gut!«

»Es ist mir ziemlich gleichgültig, wie ich von Verbrechern bezeichnet werde, Mr Sullivan.«

»Entschuldigen Sie, mein Junge, aber die schlimmsten Sachen kamen von den Wachmännern. «

»Erneutes Gelächter«, hatte der Protokollant vermerkt. Schallendes, tosendes Gelächter, vermutete Web, wenn er nach der Menge der folgenden Ausrufezeichen ging.

»Können wir jetzt fortfahren, Mr Sullivan?«, sagte der Anwalt.

»Ach, was soll das Getue! Nennen Sie mich einfach Harry! So hat man mich genannt, seit mein irischer Arsch auf dieser Welt ist.«

»Mr Sullivan!« Diese zwei Worte stammten vom Richter, las

Web, und darin schien eine kräftige Portion Belustigung zu stecken, obwohl Web sich auch irren konnte. Aber der Nachname des Richters war O'Malley, und möglicherweise war ein Punkt, den er und Harry Sullivan gemeinsam hatten, der Hass auf die Engländer.

»Ich werde Sie ganz bestimmt nicht Harry nennen«, sagte der Anwalt, und Web konnte sich lebhaft den entrüsteten Gesichtsausdruck des Mannes vorstellen. Möglicherweise schäumte er sogar vor Wut, dass er mit einem gewöhnlichen Kriminellen ein solches Gespräch führen musste und die Lacher zudem auf seine Kosten gingen.

»Nun, mein Junge, ich weiß, dass es Ihr Job ist, mich alten, kranken Mann in eine kalte, dunkle Zelle zu bringen, wo Menschen ohne Würde und Rücksichtnahme behandelt werden. Und das alles nur wegen eines winzigen Missverständnisses, an dem vielleicht nicht mehr als ein schlechtes Gehör oder ein oder zwei Gläser Bier mehr schuld sind, als ich hätte trinken sollen. Aber Sie dürfen mich trotzdem Harry nennen, denn obwohl Sie diese dumme Geschichte zu Ende bringen müssen, gibt es keinen Grund, warum wir nicht Freunde bleiben können.«

Als Web den Bericht über dieses spezielle Kapitel im Leben seines Vaters zu Ende las, musste er mit einiger Befriedigung feststellen, dass die Geschworenen Harry Sullivan in allen Punkten freigesprochen hatten.

Das letzte Verbrechen, für das sein Vater verurteilt worden war, hatte ihm zwanzig Jahre eingebracht, mit Abstand seine längste Haftstrafe. Davon hatte er inzwischen vierzehn Jahre verbüßt, und zwar in einem Gefängnis in South Carolina, von dem Web wusste, dass es nur einen Schritt von der Hölle entfernt war. Damit hatte er noch sechs Jahre vor sich, falls er nicht auf Bewährung entlassen wurde oder - was viel wahrscheinlicher war - hinter Gittern starb.

Web aß das letzte Stück Pastrami und trank sein Bier aus. Er hatte noch eine Akte vor sich. Er brauchte nicht lange, sie zu lesen, und anschließend war Web noch erstaunter und verwirrter als zuvor.

Das FBI hatte hervorragende Arbeit geleistet; die Leute hatten wirklich jeden Stein umgedreht. Wenn sie den Hintergrund eines Mitarbeiters durchleuchteten, blieb in der Tat nichts unberücksichtigt! Wenn man sich auf irgendeine Stelle in der Bundespolizeibehörde bewarb, redeten sie mit jeder Person, mit der man während seines ganzen Lebens jemals Kontakt gehabt hatte. Mit dem ersten Grundschullehrer, mit dem späteren Klassenlehrer und sogar mit dem hübschen Mädchen, das man zum Abschlussball ausgeführt und mit dem man anschließend geschlafen hatte. Und die Ermittler hatten zweifellos auch mit dem Vater des Mädchens gesprochen, vor dem man sich für sein unmoralisches Betragen hatte rechtfertigen müssen, als die Sache herausgekommen war, obwohl es seine angeblich unschuldige kleine Tochter gewesen war, die einem die Kleider vom Leib gerissen und sogar die extragleitfähigen Kondome mitgebracht hatte. Mit dem Leiter der Pfadfindertruppe, mit allen angeheirateten Verwandten, mit dem Bankdirektor, der den Kreditantrag für das erste Auto abgelehnt hatte, mit der Frau, die einem die Haare schnitt - nichts, absolut nichts war heilig, wenn das FBI einer Sache auf den Grund ging. Also war es kein Wunder, dass die Leute auch Harry Sullivan aufgespürt hatten.

Er hatte kurz zuvor seine neue Zelle im Altersruhesitz in South Carolina bezogen, als er Besuch von den Agenten bekommen und ihnen seinen Senf zu Web London, seinem Sohn, gegeben hatte. »Mein Sohn.« Diese Worte hatte Harry Sullivan während des Gesprächs vierunddreißig Mal benutzt. Web wusste es, weil er sich die Zeit nahm, genau nachzuzählen.

Harry Sullivan lobte »seinen Sohn« in den allerhöchsten Tönen, obwohl er ihn nur während der ersten sechs Jahre seines Lebens gekannt hatte. Aber laut Harry Sullivan konnte ein waschechter Ire die Qualitäten seines Sohnes von Anfang an beurteilen, seit dem Tag, als er zum ersten Mal ohne Windeln herumgelaufen war. Und sein Sohn hatte die Qualitäten eines hervorragenden FBI-Agenten, dafür würde er seine Hand ins Feuer legen. Und wenn sie wollten, dass er nach Washington kam, um es den hohen Tieren persönlich zu versichern, dann wäre er jederzeit dazu bereit. Auch wenn er in Hand- und Fußfesseln hingeführt würde, könnte er diese Versicherung voller Stolz abgeben. Auf der ganzen Welt gab es nichts, das zu gut für »meinen Sohn« wäre.

Web las weiter, und sein Kopf senkte sich immer tiefer herab, bis er bei Harry Sullivans letztem dokumentierten Satz beinahe auf die Tischkante schlug. Die »Herren Agenten« sollten doch bitte »meinem Sohn« ausrichten, dass sein Vater in all den Jahren jeden Tag an ihn gedacht hatte, dass er immer in seinem Herzen gewesen war. Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich war, dass sie jemals wieder zusammenkamen, wollte Harry Sullivan seinen Sohn wissen lassen, dass er ihn liebte und nur das Beste für ihn wollte. Und er sollte nicht zu schlecht über seinen Vater denken, weil sich die Dinge ungünstig entwickelt hatten. Er wäre den Herren Agenten zutiefst verbunden, wenn sie seinem Sohn das alles mitteilen könnten. Es würde ihm eine

Freude sein, ihnen ein oder zwei Bier auszugeben, falls sie jemals die Gelegenheit dazu erhalten sollten. Dafür standen die Aussichten derzeit nicht sehr günstig, wenn man seine gegenwärtige Lebenssituation betrachtete, aber man konnte ja nie wissen.

Nun, man hatte Web nie etwas Derartiges ausgerichtet. Bis zu diesem Augenblick hatte Web diesen Bericht niemals zu Gesicht bekommen. Verdammtes FBI! Gab es nirgendwo etwas Freiraum für eine freiere Auslegung der Vorschriften? Musste wirklich alles im Gleichschritt und auf ausgetretenen Pfaden abmarschiert werden? Trotzdem hätte Web diese Informationen schon vor Jahren bekommen können, wenn er es wirklich gewollt hätte. Aber er hatte es nie gewollt.

Der nächste Gedanke ließ Webs Gesichtszüge versteinern. Wenn Claire Daniels seine Akte vom FBI bekommen hatte, war sie vielleicht schon mit einigen oder sämtlichen Informationen über Harry Sullivan vertraut. Wenn ja, warum hatte sie dann darauf verzichtet, es ihm zu sagen?

Web klappte den Aktenordner zu, bezahlte seine Rechnung und kehrte zum Vic zurück. Er fuhr zu einem Fahrzeugpark der Bundespolizei, wechselte den Wagen gegen einen Grand Marquis jüngeren Baujahrs aus und verließ das Gelände durch eine andere Ausfahrt, die von der Straße, über die er gekommen war, nicht zu sehen war. Das FBI war nicht gerade reichlich mit Bucars ausgestattet, aber Web hatte den Verantwortlichen überzeugen können, dass er etwas Besseres verdient hatte als der Verwaltungsbeamte mit zwanzig Jahren Büroerfahrung in der Zentrale, der den Wagen normalerweise benutzte. Wenn irgendjemand damit ein Problem habe, hatte Web gesagt, solle er sich an Buck Winters wenden. »Denn der«, hatte er hinzugefügt, »ist mein bester Freund.«

 

KAPITEL 26

 

Bates hielt sich immer noch in der Einsatzzentrale auf, als jemand den Raum betrat. Bates blickte auf und bemühte sich, seine Bestürzung nicht zu offen zu zeigen.

Buck Winters nahm ihm gegenüber Platz. Die Falten in seinem Anzug entsprachen exakt den ungeschriebenen FBIVorschriften, und der Glanz auf seinen spitzen Schuhen war genauso vorbildlich. Sein Einstecktuch saß so akkurat, dass es aussah, als hätte er es mit Hilfe eines Lineals ausgerichtet. Er war groß, breitschultrig, hatte freundliche und intelligente Gesichtszüge und war das Paradebeispiel des perfekten FBIAgenten. Vielleicht war er nur aus diesem Grund so weit in der Hierarchie aufgestiegen.

»Ich habe gesehen, wie London vor kurzem dieses Gebäude verließ.«

»Er hat sich nur seine neuen Befehle abgeholt.«

»Oh, davon bin ich überzeugt.« Winters legte seine Hände flach auf den Tisch und schien Bates' Gesicht in allen Details zu studieren. »Warum liegt Ihnen so viel an diesem verdammten Kerl?«

»Er ist ein guter Agent. Und wie Sie selbst sagten, war ich so etwas wie sein Mentor.«

»Darauf wäre ich an Ihrer Stelle nicht allzu stolz.«

»Er hat häufiger als Sie oder ich für das FBI sein Leben aufs Spiel gesetzt.«

»Er ist ein Hitzkopf. Alle Geiselretter sind Hitzköpfe. Sie ziehen ihr eigenes Ding durch, sie pfeifen einfach auf uns, als wären sie etwas Besseres. In Wirklichkeit sind sie nur ein Haufen Schläger, die es gar nicht abwarten können, ihre großen Kanonen einzusetzen.«

»Wir sind alle ein großes Team, Buck. Die Geiselretter sind eine Spezialeinheit, die Aufgaben übernimmt, welche kein anderer übernehmen kann. Okay, sie sind ziemlich großspurig, aber wer ist das nicht? Letztlich sind wir alle FBI-Agenten und verfolgen ein gemeinsames Ziel.«

Winters schüttelte den Kopf. »Ist das wirklich Ihre Überzeugung?«

»Ja, wirklich. Wenn nicht, wäre ich gar nicht mehr hier.«

»Außerdem waren die Kerle für einige der schwärzesten Momente des FBI verantwortlich.«

Bates warf die Akte auf den Tisch. »Damit liegen Sie völlig falsch. Wir schicken sie in den Kampf, alles muss ruckzuck gehen, und wenn dann etwas schief läuft, ist meistens irgendein idiotischer Befehl von oben daran schuld. Und die Jungs in der ersten Reihe, von denen nur erwartet wird, dass sie Befehle ausführen, hätten Ihnen sofort sagen können, dass es niemals funktioniert. Trotzdem kriegen sie anschließend die Prügel. Es überrascht mich viel mehr, dass sie noch nicht verlangt haben, von unserer Behörde abgetrennt zu werden.«

»Sie haben sich nie an den Spielen beteiligt, die man beherrschen muss, wenn man höher hinauswill, Perce. Sie sitzen hier ganz oben im Glaskäfig - oder, in Ihrem Fall, im eisernen Käfig. Das sollten Sie nicht vergessen.«

»Ich bin mit meinem Platz ganz zufrieden.«

»Ein guter Rat unter Freunden: Wenn Sie aufhören, höher hinaufzuklettern, werden Sie irgendwann abstürzen.«

»Vielen Dank für diese Lebensweisheit«, sagte Bates kurz angebunden.

»Ich habe Ihre Berichte über den Stand der Ermittlungen bekommen. Offen gesagt, ich finde sie sehr dürftig.«

»Das entspricht den Ergebnissen der Ermittlung.«

»Wie steht es um Cove? In diesem Punkt waren Sie besonders

vage.«

»Weil es kaum etwas zu berichten gibt.«

»Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass jeder Undercover-Agent, der sich so lange nicht mehr gemeldet hat, entweder tot ist oder die Seite gewechselt hat und wir landesweit nach ihm fahnden sollten.«

»Cove hat nicht die Seite gewechselt.«

»Sie haben also mit ihm gesprochen? Komisch, davon habe ich in Ihren Berichten nichts gelesen.«

»Ich tappe immer noch im Dunkeln. Aber ich habe in der Tat Informationen von Cove erhalten.«

»Und was sagt Ihr erlauchter Undercover-Mann zu diesem Chaos?«

»Er glaubt, dass man ihn in die Irre geführt hat.«

»Das ist ja 'n Ding!«, erwiderte Winters sarkastisch.

»Und er sagt, dass er sich eine Weile nicht zurückmelden will, weil er glaubt, dass die Ratte irgendwo im FBI sitzt.« Bates starrte Winters an, als er das sagte, obwohl er gar nicht genau wusste, warum er es tat. Schließlich rechnete er nicht damit, dass Winters die undichte Stelle war, oder? »Er weiß alles über die Fälle, bei denen Informationen nach außen gesickert sind, und über die verpatzten Missionen. Er glaubt, dass der jüngste gescheiterte HRT-Einsatz zu dieser Serie gehört.«

»Interessante Theorie. Aber ich vermute, dass er keinen einzigen Beweis dafür hat.«

»Zumindest hat er mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt«, antwortete Bates, und als Winters ihn weiterhin ansah, als erwarte er eine Auskunft, fuhr er fort: »Buck, ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, und ich möchte Ihre legendäre Weitsicht nicht mit nebensächlichen Details versperren. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie es als Erster erfahren, wenn sich etwas Größeres ergibt. Dann können Sie damit vor die Medien gehen.«

Winters konnte der Sarkasmus in dieser Bemerkung nicht entgangen sein, aber er schien es vorzuziehen, nicht darauf einzugehen. »Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, haben Sie und Cove einmal sehr eng zusammengearbeitet. In Kalifornien, nicht wahr?«

»Wir haben zusammengearbeitet.«

»Ungefähr zu der Zeit, als seine Familie getötet wurde.«

»Richtig.«

»Eine Katastrophe für das FBI.«

»Ich hatte eigentlich gedacht, dass es eher eine Katastrophe für die Familie Cove war.«

»Mich hat damals die Art und Weise irritiert, wie sich die Sache entwickelt hat. Nach meinen Informationen soll Cove festgestellt haben, dass sich in diesem Gebäude das Finanzzentrum eines Drogenrings befindet.«

»Und das HRT wurde gerufen, um es zu stürmen«, sagte Bates. »Darin sollten sich potenzielle Zeugen befinden. Die Geiselrettung ist darauf spezialisiert, solche Leute heil herauszuholen.«

»Und dann haben die Jungs wirklich eine tolle Leistung gebracht! Sie haben es nicht einmal geschafft, selber am Leben zu bleiben.«

»Sie wurden in einen Hinterhalt gelockt.«

»Daran besteht kein Zweifel. Aber wie? Wer ist daran schuld wenn es nicht Cove war?«

Bates dachte an sein Treffen mit Randall Cove auf dem Friedhof zurück. Cove war überzeugt gewesen, dass es im FBI eine undichte Stelle gab, die für alle Fehlschläge der letzten Zeit verantwortlich war. Bates musterte Winters eine Weile. »Nun, um eine solche Aktion zu planen, müsste jemand über interne Informationen der höchsten Geheimhaltungsstufe verfügen.«

Winters lehnte sich zurück. »Interne FBI-Informationen, wollen Sie damit sagen?«

»Mit >intern< meine ich intern.«

»Das ist eine sehr gewagte Behauptung, Bates.«

»Ich behaupte gar nichts. Ich habe nur auf eine Möglichkeit hingewiesen.«

»Es wäre wesentlich einfacher, einen Undercover-Agenten umzudrehen.«

»Sie kennen Randall Cove nicht.«

»Und Sie kennen ihn vielleicht zu gut. Also sehen Sie möglicherweise den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.«

Bates schwieg.

Winters stand auf. »Ich will keine Überraschungen, Bates. Sie unternehmen nichts, bevor Sie mich nicht rechtzeitig informiert haben. Ist das klar?«

Als Winters ging, murmelte Bates leise: »So klar wie Waco, Buck.«

Web war mit seinem Wagen unterwegs, als Ann Lyle anrief.

»Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich wollte dir etwas Handfestes anbieten.«

»Schon gut. Ich habe gerade offizielles FBI-Material über Cove bekommen. Was allerdings nicht gerade einfach war.«

»Nun, ich hätte hier jemanden.«

»Wen? Cove?«

»Ich bin gut, aber so gut nun auch wieder nicht, Web. Ich konnte einen Polizei-Sergeant ausfindig machen, der einer von Coves ständigen Kontaktmännern war, als er vor Jahren im WFO arbeitete.«

»Ein Polizist als Kontaktmann für einen Undercover- Agenten? Wieso das?«

»Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass Untercover-Leute

einen Vertreter der örtlichen Polizei als Mittelsmann benutzen, Web. Jedenfalls hatte Cove während seines ersten Aufenthalts in Washington so einen Vertrauten. Und der Mann ist bereit, mit dir zu reden.«

Web fuhr an die Seite, schnappte sich Papier und Stift und notierte sich den Namen von Sonny Venables, dem Kontaktmann, der immer noch die Uniform der Washingtoner Polizei trug. Er arbeitete im Ersten Distrikt. Ann gab ihm auch die Telefonnummer.

»Ann, hat sich sonst jemand für Venables interessiert, der an diesem Fall arbeitet?«

»Sonny hat nichts in dieser Richtung gesagt, und ich glaube, er hätte es erwähnt, wenn es so wäre. Es liegt schon längere Zeit zurück, dass er Coves informeller Kontaktmann war. Die meisten dürften gar nichts davon wissen. Auch wenn Sonny Venables ein hervorragender Polizist ist«, setzte sie hinzu.

»Es klingt, als würdest du ihn gut kennen.«

»Mein lieber Web, du bist schon genauso lange wie ich im Verein. Da ist es völlig normal, wenn man viele Leute kennt. Ich habe häufig mit der Washingtoner Polizei zusammengearbeitet.«

»Und Venables ist bereit, mit mir zu reden? Warum?«

»Er sagte dazu nur, dass er von dir gehört hätte. Und ich habe mich für dich ins Zeug gelegt.«

»Aber wir wissen nicht, wie er zu dieser Sache steht?«

»Ich denke, es ist deine Aufgabe, das herauszufinden.« Ann legte auf.

Web wählte die Nummer, die er sich notiert hatte. Der Gesprächsteilnehmer war nicht erreichbar, sodass Web seinen Namen und seine Handynummer hinterließ.

Venables rief ihn zwanzig Minuten später zurück, und sie machten einen Termin für den Nachmittag. Bei der Gelegenheit stellte Web ihm bereits eine Frage, und Venables versprach, dass er versuchen wollte, sich darum zu kümmern. Wenn der Mann brauchbare Informationen über Cove hatte, konnte Web diese Spur vielleicht weiterverfolgen.

Doch noch etwas brachte ihn ins Grübeln. Warum hatte Bates mit keinem Wort erwähnt, dass Cove schon vor seiner Zeit in Kalifornien im WFO tätig gewesen war? Nicht dass es von eminenter Wichtigkeit gewesen wäre. Schließlich hatte Bates zugelassen, dass Web einen Blick in Coves Akte warf, und vielleicht wäre Web bei näherem Hinsehen automatisch darauf gestoßen. Er hatte einfach nicht genug Zeit gehabt, die gesamte Lebensgeschichte des Mannes gründlich zu studieren. Trotzdem, warum hatte Bates nichts davon gesagt?

Venables hatte Web vorgeschlagen, dass sie sich am frühen Nachmittag in einer Bar trafen, die in seinem Revier lag. Daran war nichts Ungewöhnliches. Web wusste, dass man auf diese Weise seinen Durst stillen und vielleicht irgendeine Information aufschnappen konnte, die einem später nützlich sein konnte. Polizisten neigten dazu, ihre Zeit effizient zu nutzen.

Sonny Venables war weiß, Mitte vierzig und mit fast zwanzig Jahren Dienstzeit ein Veteran der Verbrechensbekämpfung. Das erfuhr Web, während sie sich ein Bier bestellten. Der Mann war über eins achtzig groß und kräftig gebaut. Einen solchen Körper bekam man nur, wenn man regelmäßig Gewichte stemmte. Er trug eine Baseballkappe mit der Aufschrift ALLE ANGLER KOMMEN IN DEN HIMMEL und eine Lederjacke mit einem NASCAR-Logo auf dem Rücken. Sein Hals war fast so dick wie sein großer Kopf. Er sprach mit einem bodenständigen näselnden Südstaatenakzent, und Web bemerkte den Abdruck einer runden Kautabakdose in der hinteren Tasche seiner Jeans, als sie durch die Bar zu einem Tisch gingen. Sie fanden einen ruhigen Winkel und setzten sich.

Venables erzählte Web, dass er in der Nachtschicht arbeitete. Er mochte es, weil es aufregender war. »Werd aber demnächst Schluss machen, wenn ich meine zwanzig Jahre voll habe. Werd mich zur Ruhe setzen, angeln gehen, Bier trinken und Autorennen ansehen, wie es die meisten guten Polizisten tun.« Er lächelte über seine Worte und nahm einen tiefen Schluck vom Red-Dog-Bier. Aus der Jukebox lamentierte Eric Clapton endlos über Layla. Web sah sich um. Im Hinterzimmer spielten zwei Männer Pool-Billard. Auf der Einfassung des Tisches standen mehrere Bud Lights und ein Stapel Zwanzig-Dollar- Noten. Die Spieler sahen gelegentlich zu ihnen herüber, ließen sich aber nicht anmerken, ob sie Venables oder Web oder beide kannten.

Venables musterte Web über den Rand seines Bierglases. In sein Gesicht hatten sich so viele Falten gegraben, dass man ihn spontan als lebenserfahrenen Mann einstufte. Einen, der viele Dinge gesehen hatte, vor allem viele schlechte Dinge, wahrscheinlich genauso wie Web.

»Die Jungs vom HRT waren mir schon immer ein Rätsel.«

»Was soll daran rätselhaft sein? Wir sind ganz normale Polizisten, die nur ein paar Spielzeuge mehr zur Verfügung haben.«

Venables lachte. »Respekt! Ich hab ein paar FBI-Kumpels, die es beim Geiselrettungsteam versucht haben und anschließend mit eingekniffenem Schwanz zurückkamen. Sie meinten, sie würden lieber ein Baby auf die Welt bringen, nur mit einem Stück Holz zwischen den Zähnen, um die Schmerzen auszuhalten.«

»Wenn ich nach den Bildern gehe, die ich von Randall Cove gesehen habe, hätte er es beim HRT zu etwas bringen können.«

Venables beobachtete interessiert den Schaum auf seinem Bier. »Wahrscheinlich fragen Sie sich, was Randy Cove mit einem Redneck-Typen wie mir gemeinsam gehabt haben könnte.«

»Ich habe flüchtig überlegt, ob ich Ihnen so eine Frage stellen soll.«

»Wir sind zusammen aufgewachsen, an einem Seitenarm des Mississippi, der so winzig ist, dass er nicht mal einen Namen hat. Wir haben ständig zusammen Sport getrieben, aber da unten gab es sonst auch nicht viel zu tun. Und unser kleines Kaff war zwei Jahre in Folge Footballmeister des Staates. Und wir haben zusammen in Oklahoma gespielt.« Venables schüttelte den Kopf. »Randy war der beste Running-Back, den ich jemals gesehen habe, und die Sooners hatten mehr davon, als man meinen sollte. Ich war Fullback. Zuerst String, dann drei Jahre Running, genauso wie er. Hab bei jedem Spiel für Randy blockiert. Hab mich wie 'ne Dampflock ins Getümmel gestürzt, und fand es richtig toll, auch wenn ich jetzt allmählich die Nachwirkungen spüre. Wissen Sie, man musste Cove nur ein bisschen Luft machen, und schon ist der Junge losgestürmt. Während ich mich noch aus dem Knäuel von Armen und Beinen befreite, war er längst in der End-Zone, obwohl meistens noch ein paar gegnerische Spieler an ihm hingen. Im letzten Schuljahr waren wir sogar Landesmeister, aber nur, weil Randy in unserem Team war. Wir mussten den Ball nur Randy Cove zuspielen, und er hat alles Weitere erledigt.«

»Klingt nach einer dauerhaften Freundschaft.«

»Richtig. Ich hatte nicht das Talent zum Profifootballer, aber Randy auf jeden Fall. Alle - ich meine wirklich alle - wollten ihn haben.« Hier verstummte Venables und strich mit den Fingern über die Tischplatte. Web beschloss, einfach abzuwarten, was der Mann erzählte. »Ich war bei dem Demonstrationsspiel dabei, bei dem er sich die Knie verletzte. Wir beide wussten sofort, was los war. Es war nicht wie heute, wo man die Sache einfach in Ordnung bringen lässt und ein Jahr später wieder so gut wie neu auf dem Spielfeld steht. Seine Karriere war vorbei. Einfach so. Mann, für ihn gab's nichts anderes als Football! Wir hockten auf dem Rasen und haben fast eine Stunde lang zusammen geheult. Das hab ich nicht mal bei der Beerdigung meiner Mutter gemacht! Randy war ein toller Kerl.« »Er war?«

Venables spielte mit dem Pfefferstreuer, dann lehnte er sich zurück und schob seine Kappe etwas höher nach oben, wobei eine Strähne seines lockigen grauen Haars zum Vorschein kam.

»Ich vermute, Sie wissen, was mit seiner Familie passiert ist«, sagte Venables.

»Ich habe einiges darüber gehört. Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was Sie wissen?«

»Was gibt's da zu erzählen? Das FBI hat Mist gebaut, und deshalb hat Randy Frau und Kinder verloren.«

»Sie hatten damals noch Kontakt mit ihm?«

Venables machte den Eindruck, als hätte er Web am liebsten sein Bier ins Gesicht geschleudert. »Ich war einer der Sargträger bei der Beerdigung! Haben Sie schon mal den Sarg eines Vierjährigen getragen?« Web schüttelte den Kopf. »Ich sage Ihnen, das vergisst man sein ganzes Leben lang nicht mehr.«

»Hat Cove Ihnen gesagt, dass es die Schuld der Bundespolizei war?«

»Er musste mir gar nichts sagen. Ich war schließlich Polizist. Ich weiß, wie solche Sachen ablaufen. Bin schließlich in Washington gelandet, weil meine Frau von hier ist. Randy hat hier bei den Feds angefangen, aber ich schätze, das wissen Sie. Er hat mich als Mittelsmann benutzt, weil er wusste, dass er mir vertrauen konnte, und das passiert ihm in seinem Job nur selten.«

»Das scheint in vielen Jobs sehr selten zu sein.«

Die Männer tauschten einen verständnisvollen Blick aus, genau im richtigen Moment. Sie hatten vieles gemeinsam, das sich eines Tages zu einer Freundschaft entwickeln mochte.

»Dann wurde Randy nach Kalifornien versetzt, und dort wurde seine Familie ausgelöscht.«

»Wie ich gehört habe, soll er sich gerächt haben.«

Venables sah Web mit eiskalten Augen an. Dieser Blick sagte deutlich, dass Cove viele Geheimnisse hatte und nicht einmal Venables daran interessiert war, alles über ihn zu erfahren. »Hätten Sie anders gehandelt?«

»Möglicherweise nicht. Cove scheint es im Leben nicht leicht gehabt zu haben. Mit den Russen ist nicht zu spaßen.«

»Versuchen Sie mal, mit der falschen Hautfarbe in der Armut von Mississippi aufzuwachsen.« Venables beugte sich vor und stellte die Ellbogen auf den Tisch. »Ich hab einiges von Ihnen gehört. Aus den Zeitungen und manches von Ann Lyle.« Er verstummte und schien Web genau zu studieren. Dann wurde Web klar, dass er auf seine verletzte Gesichtshälfte starrte.

»In den fast zwanzig Jahren, die ich bei der Polizei bin, habe ich meine Waffe vielleicht ein Dutzend Mal gezogen und sie genau sechsmal eingesetzt. Viermal habe ich daneben geschossen, und zweimal habe ich getroffen. Ich bin während der Arbeit nie verletzt worden, ich habe mir nicht einmal einen Fingernagel abgebrochen. Und darauf kann man in dieser Stadt vor allem heutzutage verdammt stolz sein. Jetzt bin ich im Ersten Distrikt, der nicht mit dem blütenweißen und reichen Nordwesten zu vergleichen ist, aber er ist auch nicht so schlimm wie der Sechste und Siebte Distrikt in Anacostia, wo Ihr Team abgeknallt wurde. Ich habe sehr großen Respekt vor Ihnen, vor den Leuten, die ins Feuer spazieren und heil wieder herauskommen. Vor allem Sie scheinen ein wandelndes Aushängeschild dafür zu sein.«

»Ich habe nicht darum gebeten, eins zu sein.«

»Wie ich schon sagte, ich habe großen Respekt vor Ihnen, sonst würde ich hier nicht sitzen und mit Ihnen reden. Aber ich sage Ihnen eins: Sie werden mich niemals davon überzeugen können, dass Randy irgendetwas Falsches getan hat. Ich weiß, dass Sie Probleme mit der Arbeit von Undercover-Leuten haben, und es gibt gute Gründe, warum Randy Probleme mit dem FBI hat. Aber was mit Ihrem Team passiert ist, ist auf keinen Fall Randys Schuld. Das möchte ich klarstellen.«

»Und ich möchte klarstellen, dass Sie auf mich einen verdammt ehrlichen Eindruck machen und ich sehr gern wieder mal ein Bier mit Ihnen trinken würde, aber dass ich eine solche Behauptung nicht einfach so für bare Münze nehmen kann.«

Venables nickte verständnisvoll. »Nun, Sie wären wohl ein ziemlicher Idiot, wenn Sie alles glauben würden, was Sie hören.«

»Er hätte aussteigen können. Das habe ich überprüft. Das FBI hat ihm eine neue Identität mit voller Pension angeboten. Was glauben Sie, warum er es nicht angenommen hat?«

»Wie? Er sollte die nächsten vierzig Jahre damit verbringen, in einer blöden Kleinstadt im Mittelwesten seinen Rasen zu mähen? Das passt wirklich nicht zu Randy. Er musste einfach weitermachen. Auch wenn es komisch klingt, aber er war stolz auf seine Arbeit. Er dachte, er würde damit was Gutes tun.«

»Das seh ich genauso. Deshalb bin ich hier. Ich will die Wahrheit rausfinden. Wenn Cove was damit zu tun hatte, könnte ich auf die Idee kommen, mich genauso zu rächen, wie er es getan hat. Ich kann Ihnen da für nichts garantieren, ob Sie nun sein Freund sind oder nicht. Aber wenn er unschuldig ist, werde ich sein bester Kumpel sein. Und eins können Sie mir glauben, Sonny: Die meisten Leute wollen mich lieber zum Freund als zum Feind haben.«

Venables lehnte sich zurück und schien darüber nachzudenken. Dann gelangte er offenbar zu einem Entschluss und beugte sich wieder vor, während er beobachtete, wie die Billardspieler rauchten, Bier tranken und ihre Queues mit Kreide einrieben. Dann sprach er mit sehr leiser Stimme weiter. »Ich habe keine Ahnung, wo Randy steckt. Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seit diese Sache passiert ist. Schon lange vorher nicht mehr, um genau zu sein.«

»Also hat er Ihnen nie erzählt, woran er gerade arbeitet?«

»Verstehen Sie, ich war sein Kontaktmann, als er das erste Mal in Washington war. Ich habe mich zwar mit ihm getroffen, als er wiederkam, aber sozusagen außer Dienst. Ich wusste, dass er an einer ziemlich großen Sache dran war, aber er hat mir nie gesagt, was es war.«

»Also standen Sie ihm nicht mehr so nahe wie früher?«

»Ich steh ihm so nahe, wie man jemandem wie Randy nahe stehen kann. Aber ich glaube, nach dem Tod seiner Familie hat er niemanden mehr richtig an sich rangelassen. Nicht einmal den alten Sonny Venables, der ihm damals auf dem Spielfeld immer wieder den Weg freigemacht hat.«

»Hat er jemals erwähnt, ob er jetzt einen anderen Kontaktmann zur Polizei hat?«

»Nein. Wenn, dann hätte er auf jeden Fall mich genommen.«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Vor etwas über zwei Monaten.«

»Welchen Eindruck machte er da auf Sie?«

»Wortkarg, geistig abwesend. Eigentlich sah er überhaupt nicht gut aus.«

»Er war längere Zeit nicht mehr in seiner Wohnung. Das hat das FBI überprüft.«

»Ich hab nie gewusst, wo er wohnt. Wir haben uns immer an einem neutralen Ort getroffen, weil er seine Arbeit nicht gefährden wollte. Beim letzten Mal haben wir nur über die alten Zeiten geredet, wirklich. Ich glaube, er wollte einfach mal nur mit jemandem quatschen. Wenn ich irgendwas für ihn hätte weiterleiten sollen, hätte ich's getan.«

»Wie hat er sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«

»Er hat mich nie zu Hause angerufen. Nur in der Dienststelle. Hat jedes Mal einen anderen Namen benutzt. Und bei jedem Treffen nannte er mir einen Namen, unter dem er sich beim nächsten Mal melden würde, damit ich wusste, dass er es ist.«

»Und seitdem hat er sich nicht wieder gemeldet?« Web betrachtete den Mann aufmerksam. Venables schien ihm die Wahrheit zu sagen, aber man konnte sich nie sicher sein.

»Nein. Ich hab mir schon Sorgen um ihn gemacht. Bei seinem Job sind solche Sorgen nie unbegründet.«

Web lehnte sich zurück. »Also können Sie mir auch nicht dabei helfen, ihn ausfindig zu machen.«

Venables trank sein Bier aus. »Kommen Sie, wir gehen ein paar Schritte.«

Sie verließen das Lokal und spazierten die Straße entlang, auf der es sehr ruhig war. Der Arbeitstag war noch nicht vorbei, und die meisten Leute hockten wahrscheinlich noch in ihren Büros und zählten die Minuten, bis sie aufspringen durften.

»Als Randy damals beim WFO war, hatte er eine Wohnung, die er als Briefkasten benutzte, wenn er mir eine Nachricht hinterlassen wollte. Er hat mir erzählt, dass er dort auch manchmal seine Klamotten wechselt. Es war so eine Art sichere Zuflucht für ihn.«

»Wusste das FBI davon?«

»Nein. Ich glaube, schon damals hat er den hohen Tieren nicht immer über den Weg getraut.«

»Damit könnte er nicht Unrecht gehabt haben. Waren Sie in letzter Zeit mal da?«

Venables schüttelte den Kopf. »Vielleicht habe ich Angst, was ich dort vorfinden könnte; weiß auch nicht, warum. Ich weiß nicht mal, ob Randy die Wohnung überhaupt noch benutzt. Vielleicht ist das Haus längst abgerissen.«

»Würden Sie mir die Adresse geben?«

»Sie rauchen doch, nicht wahr?«

»Nein.«

»Doch, Sie rauchen.« Venables zog eine Winston-Packung aus einer Jackentasche und reicht sie Web. »Zünden Sie sich lieber eine an, falls uns jemand beobachtet.« Venables gab ihm auch ein Streichholzbriefchen.

Web steckte sich eine Zigarette an, bemühte sich, nicht zu husten, und ließ die Packung in seine Tasche gleiten. »Ich danke Ihnen für die Hilfe. Aber wenn Cove etwas damit zu tun hat...« Er ließ den Satz unvollendet.

»Wenn Randy so etwas getan hat, glaube ich nicht, dass er dann noch weiterleben will.«

Als Sonny Venables fortging, kehrte Web zu seinem Wagen zurück, riss die Zigarettenschachtel auf und nahm den kleinen zusammengerollten Zettel heraus. Er las die Adresse, die darauf stand. Außerdem fand er drei kleine zusammengefaltete Fotos.

Web hatte Venables gefragt, ob irgendwelche Kinder in Kevin Westbrooks Alter mit hellbrauner Haut innerhalb des letzten Monats als vermisst gemeldet worden waren, und das war anscheinend das Ergebnis seiner Nachforschungen. Web sah sich die Fotos an. Er stellte fest, dass alle drei in mehrfacher Hinsicht Ähnlichkeiten zu Kevin aufwiesen. Ihre Gesichter verrieten ihm, dass sie bereits jede Hoffnung auf ein anständiges Leben verloren hatten.

Dann fuhr er weiter.

Zwanzig Minuten später starrte Web durch die Scheibe seines Wagens. Seine Hoffnungen waren wieder einmal auf den Nullpunkt gesunken. Venables beiläufige Bemerkung hatte sich als völlig zutreffend erwiesen. Wo sich früher Randall Coves Zufluchtswohnung befunden hatte, war nun eine offene Baugrube. Mitten im Loch stand ein hoher Kran, und eine Gruppe von Arbeitern verließ soeben die Baustelle. Web hatte den Eindruck, dass sie einen Tag harter Arbeit hinter sich hatten. Angesichts des Fortschritts der Bauarbeiten musste Web davon ausgehen, dass Cove sein altes Versteck in jüngerer Zeit nicht mehr benutzt hatte. Diese Spur war eine Sackgasse. Web zerknüllte den Zettel mit der Adresse und warf ihn auf den Fußboden des Wagens. Aber er hatte noch einen Anhaltspunkt, was Randall Cove betraf.

Er rief Romano von unterwegs an. »Hättest du Lust, ein wenig herumzuschnüffeln?«

Er holte Romano ab, dann fuhren sie gemeinsam in südlicher Richtung nach Fredericksburg.

Romano sah sich im Wagen um. »Was ist denn das für 'n Schlitten?«

»Das ist ein Grand Marquis. Wahrscheinlich ist sogar der Chef schon mal damit herumgefahren.«

»Ist trotzdem 'ne Scheißkiste.«

»Ich versuche, dir beim nächsten Mal etwas Besseres zu besorgen.« Er sah Romano von der Seite an und fragte sich, was Angie ihrem Seelenklempner über ihn anvertrauen mochte. Mit diesem Mann als Lebensgefährten hatte sie einem professionellen Psychologen bestimmt eine Menge zu erzählen.

»Wie läuft's beim HRT?«

»Wie immer, wie gehabt. Seitdem hatten wir keinen einzigen Einsatz mehr. Nur Training. Mann, das wird allmählich langweilig!«

»Nicht ungeduldig werden, Paulie. Ihr werdet schon bald wieder mit euren Kanonen herumballern können.«

»Vielleicht sollte ich lieber zur Fremdenlegion gehen oder so.«

»Du willst nur nicht zugeben, dass es dir gut geht.«

»Die Jungs haben viel über dich geredet, Web.«

Er hätte mit einem solchen Wechsel des Gesprächsthemas rechnen sollen, aber es überraschte ihn trotzdem. »So? Und was reden sie?«

»Pro und Kontra halten sich etwa die Waage.«

»Mann, ich dachte, meine Popularität wäre größer.«

»Darum geht es nicht. Niemand hält dich für einen Feigling, Web. Dazu hast du in den vergangenen Jahren zu oft deinen Arsch riskiert. Fast genauso oft wie ich.«

»Aber... «

»Aber einige Jungs denken, wenn du einmal ausgeflippt bist, wird es wieder passieren. Diesmal hat es keine Rolle gespielt, weil das Charlie-Team so oder so draufgegangen wäre. Aber beim nächsten Mal könnte es eine Rolle spielen.«

Web starrte geradeaus. »Ich glaube, dieser Logik habe ich nichts entgegenzusetzen. Vielleicht sollte ich zur Fremdenlegion gehen. Bist du bewaffnet?«

»Lügen Politiker?«

Randall Cove wohnte am Rand von Fredericksburg in Virginia, etwa achtzig Kilometer südlich von Washington und seiner Arbeitsstelle. Das war ungefähr das Doppelte von Ann Lyles Fünfundzwanzig-Meilen-Regel, was den Mindestabstand betraf, den Undercover-Agenten zwischen ihrem Wohnort und ihrem Einsatzgebiet halten sollten. Coves Adresse war eine der Informationen, die Web durch seine verstohlenen Blicke in Bates' Akte gewonnen hatte.

Es gelang ihnen, knapp dem Verkehr der Rushhour zu entgehen, und vierzig Minuten später bogen sie in die ruhige Vorstadtstraße, an der eine Reihe von Reißbretthäusern stand, von denen viele zu vermieten waren, wie aufgestellte Schilder verkündeten. In den Gärten tummelten sich keine Mütter und Kinder, obwohl das Wetter angenehm war, und an der Straße parkten nur wenige Autos. Das Viertel wirkte verlassen, aber das würde sich ändern, wenn die Pendler aus Washington und dem Norden von Virginia eintrafen. Diese Häuser wurden offensichtlich nur zum Schlafen benutzt, in erster Linie von Singles oder kinderlosen Paaren, die nur so lange blieben, bis sie genug verdienten, um sich eine größere Familie leisten zu können, und wegzogen. Web verstand, warum Cove entschieden hatte, hier zu wohnen. Keine neugierigen Nachbarn, jeder kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten, und niemand bemerkte, wenn Cove tagsüber zu Hause war. Schließlich gingen die meisten Undercover-Leute im Drogengeschäft hauptsächlich nachts auf die Jagd.

Vor dem Haus stand ein Bucar mit Behördenkennzeichen »Die Babysitter des FBI«, sagte Romano. Web nickte und überlegte, wie sie mit dieser Situation umgehen sollten. Er parkte hinter dem Dienstwagen, und sie stiegen aus.

Der Agent drehte das Seitenfenster herunter, warf einen Blick auf Webs und Romanos Ausweise und musterte dann Webs Gesicht.

»Sie sind inzwischen so berühmt, dass Sie sich eigentlich gar nicht mehr ausweisen müssen«, sagte der Agent, den Web nicht kannte. Ein junger Mann voller Tatendrang und mit glänzenden Karrierechancen, der wahrscheinlich gerade die Ungerechtigkeit des Lebens verfluchte, weil er ein Haus bewachen musste, das Randall Cove mit ziemlicher Sicherheit nie mehr aufsuchen würde. Der Mann stieg aus dem Wagen und streckte die Hand aus.

»Chris Miller vom Richmond Feld Office.« Er zeigte ihnen seinen Ausweis, den er aus der rechten Brusttasche zog, sodass er die andere Hand zur Begrüßung frei hatte - genau, wie man es beim FBI lernte. Bei der Ausbildung wurde großer Wert auf diese kleinen Details gelegt. Web wusste auch, ohne dass er sich mit eigenen Augen davon überzeugen musste, dass Millers Jackett mit einer zweiten Lage gefüttert war, wo er seine Waffe trug, damit sie es nicht aufscheuerte. Genauso wusste Web, dass Miller in den Rückspiegel geblickt hatte, als der Wagen hinter ihm gehalten hatte, und dann in Webs Augen, weil die Augen einem viel über die Absichten einer Person verrieten.

Die Männer gaben sich die Hände, und Web betrachtete das stille und dunkle Haus. »Sie halten hier rund um die Uhr Wache?«

»Dreimal acht Stunden«, sagte Miller erschöpft. Er sah auf seine Uhr. »Und meine Schicht endet erst in drei Stunden.«

Web lehnte sich gegen den Wagen. »Also scheint der Job nicht besonders aufregend zu sein?«

»Nein. Es sei denn, Sie meinen den Kampf zwischen zwei Katzen, den ich vor etwa zwei Stunden verfolgt habe.« Er hielt inne, den Blick auf Web gerichtet, und dann platzte es aus ihm heraus: »Wissen Sie, ich denke seit einiger Zeit daran, mich für die Geiselrettung zu bewerben.«

 

»Was soll ich sagen? Gute Leute können wir immer gebrauchen.« Und zwar genau sechs, dachte Web, um das Charlie-Team wieder aufzufüllen.

 

»Ich habe gehört, die Prüfungen sollen die reinste Hölle sein.«

Romano musste ein verächtliches Schnaufen unterdrücken. »Nehmen Sie alles, was Sie gehört haben, mal zehn, und dann kommen Sie der Wahrheit schon recht nahe.«

Millers skeptischer Blick verriet, dass er Romano kein Wort glaubte. Er war jung und hatte ein maßloses Selbstvertrauen, was seine Fähigkeiten betraf. Eben ein typischer junger Mann.

»Waren Sie in Waco?«, fragte Miller. Web und Romano nickten. »Haben Sie etwas abbekommen?«

»Ich habe versucht, es aus meiner Erinnerung zu verdrängen«, sagte Web. Claire Daniels wäre jetzt bestimmt stolz auf mich!

»Das habe ich gesehen«, sagte Miller. Doch an seinem zweifelnden Tonfall erkannte Web, dass der junge Agent offenbar nicht verstanden hatte, was er damit sagen wollte.

»Wie lange sind Sie schon beim FBI?«, fragte Romano.

»Fast zwei Jahre.«

»Nun, wenn Sie sich die große Drei an die Brust heften dürfen, könnten Sie es mal beim HRT versuchen. Rufen Sie mich an. Wenn es Ihnen wirklich ernst ist, könnte ich Ihnen den Laden zeigen.« Romano gab ihm eine Visitenkarte.

Während Miller die Karte einsteckte, tauschten Romano und Web einen amüsierten Blick aus.

»Mensch, das wäre großartig!«, sagte Miller. »Ich habe gehört, dass Sie verdammt gute Waffen haben.«

Web wusste, dass die Bewaffnung für viele ein großer Anreiz war. Er kannte mehrere Männer, die nur deshalb zum FBI gegangen waren, weil sie dort die Gelegenheit hatten, Waffen zu tragen und zu benutzen. »So ist es. Und wir können Ihnen ganz genau erklären, warum es immer das Beste ist, wenn man sie nicht benutzen muss.«

»Richtig.« Miller wirkte enttäuscht, aber er würde darüber hinwegkommen. Nach einem Moment betretenen Schweigens fragte er: »Äh, kann ich Ihnen vielleicht bei irgendwas behilflich sein?«

»Wir sind nur vorbeigekommen, weil wir uns einmal das Haus ansehen wollten. Wissen Sie irgendetwas über den Typen, der hier wohnt?«

»Nicht allzu viel. Ich weiß nur, dass er etwas mit Ihrem letzten Einsatz zu tun hat. Da fragt man sich, wie einer so werden kann, dass er seinen eigenen Leuten in den Rücken fällt, meine ich.«

»Ja, man stellt sich einige Fragen.« Web betrachte die Reihenhäuser. Hinter den Grundstücken lag ein größeres Waldgebiet. »Ich hoffe, Sie haben jemanden, der die Rückseite bewacht.«

Miller grinste. »Das schon, aber nicht jemanden. Ein paar K-9 im Garten. Er ist eingezäunt. Wenn jemand versucht, von hinten zu kommen, wird er eine Überraschung erleben. Dürfte wesentlich billiger sein, als dort zwei Agenten zu postieren.«

»Wahrscheinlich.« Web sah auf seine Uhr. »Bald ist Mittag. Haben Sie schon etwas gegessen?«

Miller schüttelte den Kopf. »Ich hatte ein paar Kekse und so dabei. Und eine Flasche Wasser. Aber wie ich schon sagte, kommt meine Ablösung erst in drei Stunden. Das Schlimmste daran ist, dass man hier nirgendwo aufs Klo gehen kann.«

»Sie sagen es. So war es auch bei einigen Überwachungseinsätzen im Mittelwesten. Wir mussten mehrere hundert Hektar große Farmen im Auge behalten, die angeblich als Drogenumschlagplätze genutzt wurden, und Campingplätze, auf denen sich ein paar Jungs versteckt hatten, die der Meinung waren, es sei völlig in Ordnung, wenn man Banken ausraubt und mit abgesägten Schrotflinten auf andere Leute schießt. Ich musste es entweder zurückhalten, in eine Flasche pinkeln oder mich irgendwo aufs Feld stellen.«

»Ja«, bestätigte Romano. »Und als ich noch bei den Deltas war, mussten wir uns irgendwo im beschissenen Niemandsland nebeneinander hocken und unsere Häufchen machen. Man bekommt ein ganz anderes Verhältnis zu seinen Kameraden, wenn man Seite an Seite scheißt. Ich musste mal einen Kerl erschießen, während ich die Hosen runtergelassen hatte. Ich kann Ihnen sagen, das war eine verdammt peinliche Erfahrung.«

Miller machte nicht den Eindruck, als könnte er sich für diese Möglichkeiten der Stillung menschlicher Bedürfnisse begeistern. Er war sehr ordentlich gekleidet, und in eine Flasche zu pinkeln oder in Gegenwart anderer die Hosen herunterzulassen, schien nicht unbedingt in das Bild zu passen, das der junge Agent von sich selbst hatte.

»Ein Stück weiter gibt es einen Denny's. Wenn Sie etwas essen wollen, bleiben wir hier, bis Sie zurück sind.«

Miller schien sich unsicher zu sein, ob er seinen Posten verlassen konnte.

»Ein solches Angebot bekommt man nicht jeden Tag, Chris.«

Web öffnete seine Jacke, sodass Miller flüchtig erkennen konnte, dass er bewaffnet war. »Und um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich habe in Waco ein paar Schüsse abbekommen. Gehen Sie und ordern Sie sich eine gute Mahlzeit.«

»Und das wäre wirklich okay?«

Romano antwortete im gefährlichsten Tonfall, den er beherrschte. »Wenn jemand vorbeikommt, der hier nichts zu suchen hat, wird er sich wünschen, lieber im Bett geblieben zu sein.«

Miller setzte sich in seinen Wagen und fuhr davon.

Web wartete, bis er außer Sichtweite war. Dann öffnete er den Kofferraum seines Autos und holte ein kleines Gerät und eine Taschenlampe heraus. Er sah sich um und ging schließlich mit Romano zur Vordertür von Coves Haus.

»Verdammt, der Idiot würde es keine zwei Minuten beim HRT aushalten«, sagte Romano.

»Das kann man vorher nie wissen, Paulie. Du hast es schließlich auch geschafft.«

»Und du willst wirklich hier hineinmarschieren?«

»Ja, wirklich. Setz dich wieder in den Wagen, wenn du damit ein Problem hast.«

»Es gibt nicht viele Dinge im Leben, mit denen ich ein Problem habe.«

Mit dem Pickgun ließ sich das einfache Schloss der Haustür schnell öffnen, und nach wenigen Sekunden konnten Web und Romano eintreten. Drinnen schaltete Web die Taschenlampe ein. Die Alarmanlage neben der Tür war nicht aktiviert. Vermutlich kannte nur Cove den Kode, mit dem sie sich scharfmachen ließ. Sie gingen durch den kurzen Korridor und traten ins Wohnzimmer. Web richtete den Strahl der Taschenlampe in alle Ecken, während beide Männer die Hand an den Griff ihrer Pistole gelegt hatten. Der Raum war recht spärlich möbliert. Vermutlich, weil Cove sich hier ohnehin nicht häufig aufhielt.

Sie durchsuchten schnell das Erdgeschoss und fanden nichts das von Interesse gewesen wäre, was Web jedoch nicht überraschte. Cove war ein alter Hase, und das bedeutete, dass er nicht dazu neigte, detaillierte Aufzeichnungen über seine Aktivitäten herumliegen zu lassen.

Der Keller war nicht vollständig ausgebaut. Hier standen nur ein paar Kartons herum, in denen Web und Romano stöberten. Der einzige Gegenstand, dem Web seine Aufmerksamkeit widmete, war ein gerahmtes Foto, das Cove, seine Frau und ihre Kinder zeigte. Web hielt die Taschenlampe so, dass sich das Licht nicht im Glas spiegelte. Cove hatte noch keine Rastalocken. Er trug einen Anzug, er sah gut aus und machte einen selbstbewussten Eindruck. Sein Lächeln war ansteckend. Mit einem starken Arm hielt er seine Frau, mit dem anderen seine zwei Kinder. Seine Frau war außergewöhnlich hübsch. Sie hatte schulterlanges Haar und einen Blick, bei dem einem Mann die Knie weich werden konnten. Der Junge und das Mädchen ähnelten der Mutter und wären zweifellos zu hübschen Menschen herangewachsen, während ihre Eltern gemeinsam alt geworden wären. So hätte man es jedenfalls unter normalen Umständen erwarten können - was allerdings nur selten geschah, zumindest für Leute, die ihren Lebensunterhalt auf ähnliche Weise wie Cove und Web bestritten.

Das Foto zeigte die andere Seite von Randall Cove, seine Rolle als Ehemann und Vater. Web stellte sich vor, wie der ehemalige Footballstar seinem Sohn im Garten den Ball zuwarf. Vielleicht hatte der Junge die sportliche Begabung seines Vaters geerbt. Vielleicht hätte er die Profilaufbahn einschlagen können, die seinem Vater verwehrt gewesen war. So mochte es in einem Hollywood-Film geschehen, aber nur selten in der Ungerechtigkeit des realen Lebens.

»Nette Familie«, bemerkte Romano.

»Das war einmal.« Mehr sagte Web dazu nicht.

Er legte das Foto in den Karton zurück, dann gingen sie wieder nach oben. Als der Lichtstrahl seiner Taschenlampe über die hintere Schiebetür strich, krachte plötzlich etwas gegen die Glasscheibe. Gleichzeitig zogen Web und Romano ihre Waffen, doch dann hörten sie das Bellen und erkannten, dass der K-9 angeschlagen hatte.

Nun, ein Hund würde einen wenigstens nicht verpfeifen.

Vielleicht war das der wahre Grund, warum er der beste Freund eines Menschen war, dachte Web. Er würde jedes Geheimnis mit ins Grab nehmen.

Sie stiegen schnell ins obere Geschoss hinauf, weil sie fertig sein wollten, bevor Miller zurückkam. Web führte nur ungern einen Kollegen hinters Licht, aber er wollte auf keinen Fall dabei erwischt werden, wie er ohne Genehmigung das Haus eines Hauptverdächtigen durchsuchte. Bates würde ihm deswegen vermutlich die Hölle heiß machen, was Web ihm nicht einmal verübeln konnte. Hier oben gab es zwei Zimmer, die durch ein Bad verbunden waren. Das eine war Coves Schlafzimmer, von dem aus man auf die Straße blicken konnte. Das Bett war gemacht, und im Schrank befanden sich ein paar Kleidungsstücke. Web nahm ein Hemd heraus und hielt es sich vor die Brust. Die Ärmel waren beinahe groß genug für Webs Beine. Die Vorstellung, sich diesem Mann beim Football entgegenzustellen, behagte Web ganz und gar nicht. Genauso gut hätte er versuchen können, einen Lastwagen aufzuhalten.

Das Zimmer auf der Rückseite des Hauses war leer. Anscheinend war es ursprünglich als zweites Schlafzimmer gedacht gewesen, jedoch niemals benutzt worden. An der Rückwand des kleinen Schranks gab es keine Kratzspuren von Kleiderbügeln, und der Teppich wies keine Abdrücke von Möbeln auf.

Web und Romano wollten gerade gehen, als Web etwas bemerkte. Er sah sich die Fenster des Zimmers an, dann kehrte er durch das Bad ins vordere Schlafzimmer zurück, um auch dort die Fenster zu untersuchen. Sie waren mit Jalousien ausgestattet - nichts Ungewöhnliches, da dieses Fenster zur Straße wies. Dann kehrte Web noch einmal in den hinteren Raum zurück. Auch hier ließen sich die Fenster verdunkeln, aber nicht durch Jalousien, sondern durch altmodische Rollos. Hinter dem Haus lag dichter Wald, sodass ein Sichtschutz für dieses Zimmer eigentlich nicht nötig war. Und da die Fenster nach Norden gingen, musste das Zimmer auch nie gegen direktes Sonnenlicht abgeschirmt werden. Damit waren die Rollos völlig überflüssig, zumal das Zimmer ohnehin nie benutzt worden war. Und da ohnehin kaum Licht in dieses Zimmer fiel und es nicht einmal eine Deckenlampe gab, wäre es hier mit heruntergelassenen Rollos stockfinster. Das war kein besonders sinnvolles Arrangement, aber vielleicht hatte Cove es einfach vom Vorbesitzer des Hauses übernommen und sich nie darum gekümmert, etwas daran zu ändern.

»Welche Botschaft haben deine Antennen empfangen?«, wollte Romano wissen.

»Ich frage mich, nach welchen Kriterien Cove sein Haus eingerichtet hat.«

»Hast du plötzlich deine weibliche Seite entdeckt?«

Web ging nicht darauf ein, sondern trat wieder ans Fenster. Die Rollos waren hochgezogen. Web zog an der Strippe, und das Rollo ließ sich völlig normal herunterziehen. Dann trat er ans andere Fenster. Doch hier tat sich nichts, weil offenbar irgendetwas klemmte. Web überlegte, ob er die Sache einfach vergessen und verschwinden sollte. Dann sah er im Strahl der Taschenlampe, dass die Arretierung des Rollos verbogen war, sodass sich die Strippe nicht mehr lösen ließ. Er bog die Verriegelung wieder in die richtige Position und versuchte es noch einmal. Nun kam das Rollo herunter, und Romano starrte verblüfft auf den Briefumschlag, der ins Rollo eingewickelt gewesen war und ihm nun buchstäblich in die Hände fiel.

»Respekt!«, sagte Romano beeindruckt.

»Lass uns gehen, Paulie.« Web zog die Rollos wieder hoch, dann stiegen sie über die Treppe nach unten. Romano vergewisserte sich, dass draußen die Luft rein war, dann verließen sie das Haus. Web ließ die Tür vorsichtig ins Schloss fallen.

Sie setzten sich in den Wagen, und Web schaltete die Innenbeleuchtung ein, damit sie ihren Fund begutachten konnten.

Er öffnete den Umschlag und zog einen vergilbten Zeitungsausschnitt heraus. Der Artikel aus der Los Angeles Times meldete den Tod der Familie eines Undercover-Agenten, die der Russenmafia zum Opfer gefallen war. Der offizielle FBISprecher verurteilte das Vorgehen der Kriminellen aufs Schärfste und versprach, dass man sie dafür zur Rechenschaft ziehen würde. Es hieß, dass der Sprecher mit den Ermittlungen in diesem Fall betraut war. Er war sogar der direkte Vorgesetzte des Undercover-Agenten, dessen Identität nicht offenbart wurde, obwohl die Namen seiner getöteten Familienangehörigen genannt wurden. Web konnte nur den Kopf schütteln, als er den Namen des FBI-Mannes las.

Percy Bates.

Miller kehrte wenige Minuten später zurück, stieg aus dem Wagen und kam zu ihnen herüber. Er klopfte sich auf den Bauch. »Vielen Dank für die Rettung in letzter Sekunde, Jungs.«

»Kein Problem«, sagte Romano. »Das ist unser Job.«

»Ist was passiert, während ich weg war?«

»Nichts. Alles im grünen Bereich.«

»In etwa zwei Stunden ist meine Schicht zu Ende. Hätten Sie Lust auf ein Bier?«

»Wir...« Web verstummte, weil er sah, wie sich hinter Millers Rücken für einen kurzen Moment das Sonnenlicht auf einer glänzenden Oberfläche spiegelte.

»Web, pass auf!«, rief Romano, der offenbar dieselbe Beobachtung gemacht hatte.

Web griff nach Millers Krawatte und versuchte ihn nach unten zu ziehen. Die Kugel traf Miller genau in den Rücken, trat an der Brust wieder aus, schoss in wenigen Zentimetern Entfernung an Webs Gesicht vorbei und durchschlug die Scheibe auf der Beifahrerseite. Romano hatte im nächsten Moment den Wagen verlassen und war hinter dem vorderen Kotflügel in Deckung gegangen. Er zielte mit seiner Waffe über die Motorhaube, aber er schoss nicht.

»Web, raus aus dem Wagen!«

Web hielt immer noch Millers Krawatte fest, während der junge Agent an der Seite des Wagens zu Boden rutschte. Das Letzte, was Web sah, war der starre Blick seiner toten Augen, bevor er endgültig zusammenbrach.

»Web, verdammt nochmal! Raus aus dem Wagen! Oder muss ich dir Feuer unterm Hintern machen?«

Web duckte sich, während ein weiterer Schuss die hintere Seitenscheibe zertrümmerte. Er kroch nach draußen und bezog hinter dem Kofferraum Stellung. In der Akademie lernte man, dass man genau hinter den Rädern am besten geschützt war, weil es nur wenige Waffen gab, die so viel Metall durchschlagen konnten.

»Siehst du was?«, fragte Romano.

»Ich hab nur die Spiegelung gesehen. Auf der Linse eines Zielfernrohrs. Irgendwo im Wald, zwischen den zwei Häusern, Entfernung ungefähr tausend Meter. Miller ist tot.«

»Was du nicht sagst! Ich schätze, das war ein Stahlmantelgeschoss, Kaliber.308, und ein Hochleistungs-

Zielfernrohr.«

»Toll, dieselbe Ausrüstung, die wir benutzen«, gab Web zurück. »Pass auf, dass du den Kopf unten hältst.«

»Danke für den freundlichen Rat, Web. Ich wollte gerade aufspringen und nach meiner Mami schreien.«

»Es bringt nichts, wenn wir zurückschießen. Unsere Pistolen haben nicht genügend Reichweite.«

»Warum erzählst du mir zur Abwechslung nicht mal was, das ich noch nicht weiß? Hast du irgendwelches Spielzeug im Kofferraum?«

»Dafür hätte ich gesorgt, wenn es mein eigenes Auto gewesen wäre.«

Der Wagen wurde von einem weiteren Geschoss getroffen, und beide Männer duckten sich. Der nächste Treffer ließ den linken Vorderreifen platzen. Dann noch ein Schuss, und Dampf stieg aus dem Kühler.

»Kommt denn niemand auf die Idee, die Polizei zu rufen?«, beklagte sich Romano. »Oder sind Heckenschützen in diesem Kaff etwas völlig Normales?«

»Mein Handy ist im Wagen.«

»Versuch bitte nicht, es zu holen. Der Typ da drüben weiß genau, was er tut.«

Sie warteten fünf Minuten ab, in denen keine weiteren Schüsse fielen. Schließlich hörten sie Polizeisirenen, die offenbar näher kamen. Web hob vorsichtig den Kopf und sah durch die Seitenscheiben des Wagens. Im Wald war nichts Auffälliges mehr zu erkennen.

Endlich traf die Polizei ein. Web und Romano zeigten ihre Ausweise und winkten den Polizisten, in Deckung zu gehen. Sie warteten noch ein paar Minuten, dann kroch Web zum Streifenwagen hinüber und erklärte die Situation.

Die Gefahr schien vorbei zu sein, und bald hatte sich

anscheinend die gesamte Belegschaft der örtlichen Dienststelle am Schauplatz eingefunden, dazu ein halbes Dutzend Mitglieder der Nationalgarde. Der Wald wurde durchkämmt, aber man entdeckte nur frische Reifenspuren auf einem unbefestigten Weg, der zur Straße führte, die parallel zu der verlief, an der Coves Haus stand. Und man fand mehrere leere Patronenhülsen. Romano hatte Recht gehabt: Stahlmantelgeschosse vom Kaliber.308.

Chris Miller wurde offiziell für tot erklärt, und ein Krankenwagen holte seine Leiche ab. Web sah einen Ehering am Finger des Toten, bevor der Reißverschluss des Leichensacks zugezogen wurde. Mrs Miller würde heute Abend Besuch erhalten und genau die Nachricht in Empfang nehmen müssen, vor der sich alle Angehörigen von Gesetzeshütern am meisten fürchteten. Er schüttelte den Kopf und sah zu Romano hinüber. »Allmählich habe ich dieses Leben satt.«

 

KAPITEL 27

 

Web und Romano hatten jeweils dreimal ihre Aussagen gemacht. Und Bates war aufgekreuzt und hatte Web den Arsch aufgerissen, weil er eine nicht genehmigte Ermittlung durchgeführt hatte.

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass man Sie abknallen wird, Web. Aber Sie stures Arschloch wollen ja einfach nicht hören«, schnauzte Bates ihn an.

»He, immer mit der Ruhe«, sagte Romano.

»Kenne ich Sie?«, sagte Bates und baute sich dicht vor Romano auf.

»Paul Romano, Kämpfer vom Hotel-Team.« Er streckte die Hand aus.

Bates ignorierte die Geste und wandte sich wieder Web zu. »Ist Ihnen klar, dass Buck Winters nur nach einem Grund sucht, um Sie abzuservieren?« Er warf Romano einen Blick zu. »Um das gesamte HRT offiziell zu begraben? Und Sie spielen direkt in seine Hände.«

»Ich versuche nur rauszufinden, was mit meinen Jungs passiert ist«, erwiderte Web. »Und Sie würden an meiner Stelle genau dasselbe tun.«

»Erzählen Sie mir nicht so einen Scheiß.« Als Web den Zeitungsausschnitt hochhielt, blieb Bates wie vom Schlag getroffen stehen.

»Das habe ich in dem Haus gefunden.«

Bates streckte zögernd die Hand aus und nahm den Ausschnitt.

»Wollen Sie darüber sprechen?«, fragte Web.

Bates führte sie vom Tatort weg und zu einem ruhigeren

Fleckchen. Er musterte zuerst Romano und dann Web.

»Er ist in Ordnung«, sagte Web. »Geheimnisträger mit 'ner Unbedenklichkeitserklärung.«

»War sogar mal beim VIP-Schutz bei einem Arafat-Besuch dabei«, sagte Romano. »Und wenn wir schon über ein Ziel sprechen... hinter dem sind jede Menge Leute her.«

»Sie haben nicht erwähnt, dass Sie mit Cove zusammengearbeitet haben, als seine Familie umgebracht wurde«, sagte Web.

»Ich muss Ihnen nicht die Geschichte meines Lebens erzählen«, fauchte Bates.

»Vielleicht sind Sie mir nur eine Erklärung schuldig.«

Bates faltete den Ausschnitt zusammen und steckte ihn ein. »Es hatte wirklich niemand Schuld. Cove hat keinen Mist gebaut, und wir auch nicht. Es war ein Glücksspiel, und die Russen hatten Glück. Ich wünschte, ich könnte die Uhr zurückdrehen, aber das kann niemand. Randy Cove ist ein verdammt guter Agent.«

»Also hat Cove keinen Grund, es jemandem heimzuzahlen?«

»Nein. Ich habe mit ihm gesprochen. Ihn hätt's kurz nach dem Charlie-Team fast auch erwischt. Er hat gesagt, er hätte gesehen, dass dieses Haus randvoll mit allem gefüllt war, was darin sein sollte.«

»Also behauptet er, man hätte ihn reingelegt, damit er uns mit falschen Informationen füttert. Die Akten sind verschwunden, und plötzlich waren die Knarren da?«, sagte Web.

»So was in der Art. Das muss Schlag auf Stoß gegangen sein. Cove hat gesagt, kurz bevor ihr zugeschlagen habt, wäre er noch in dem Haus gewesen. Er hat geglaubt, eine große Drogenorganisation infiltriert zu haben.«

»Perce, ich will Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihren Job zu machen haben, aber es wäre vielleicht ganz klug, ihn reinzuholen. Wenn seine Tarnung aufgeflogen ist, könnte er wohl etwas Schutz gebrauchen.«

»Cove kann auf sich selbst aufpassen. Und er kann draußen mehr bewirken. Vielleicht kommt er sogar an einen der großen Bosse heran.«

»Das ist mir scheißegal. Ich will nur die Typen erwischen, die uns reingelegt haben.«

»Genau das ist es. Web, das könnten ein und dieselben sein.«

»Tja, das ergibt nicht sehr viel Sinn. Warum sollte ein Drogenboss wollen, dass das für alles gerüstete FBI es auf ihn absieht?«

»Dafür könnte es eine Menge Gründe geben. Rache, oder um die Vertreiber bei der Stange zu halten. Vielleicht sogar, um einen Rivalen reinzulegen, ihm Druck zu machen und die Konkurrenz zu reduzieren.«

»Setzen Sie mich auf diese Typen an«, sagte Romano, »und ich werde etwas reduzieren. Zum Beispiel ihre Lebenserwartung.«

»Also nehme ich an, dass er sich nicht regelmäßig meldet«, sagte Web.

»Woher wissen Sie das?«, sagte Bates.

»Wenn er wirklich so gut ist, wird er wissen, dass alle glauben, er stecke in der Sache drin. Also taucht er unter, vertraut keinem und führt seine eigene Ermittlung durch - versucht, die Wahrheit rauszufinden, bevor jemand ihn findet.«

»Das ist eine ziemlich gute Schlussfolgerung.«

»Eigentlich spreche ich nur aus Erfahrung«, sagte Web.

»Da wir gerade von Erfahrung sprechen, Bill Canfield hat endlich zurückgerufen. Ich treffe mich morgen mit ihm auf seiner Farm. Wollen Sie mitkommen?«

»Hab ich doch schon gesagt. Willst du auch mitkommen, Paulie?«

Bates starrte ihn an. »Sind Sie der Paul Romano, der bei der Delta Force und dann dem SWAT-Team in New York war?«

»Es gibt nur einen Paul Romano«, sagte Romano ohne die geringste Einbildung.

»Arafat, was?«

»He, wenn Sie die Allerbesten schicken wollen...«

»Na schön, betrachten Sie sich als befristet neu zugewiesen. Ich spreche mit Ihrem Commander.«

Romano schaute verblüfft drein. »Wem zugewiesen?«

»Mir. Sie tun jetzt, was ich Ihnen sage. Ich sehe euch beide also morgen.«

Web setzte Romano zu Hause ab.

»He, Web«, sagte Romano, bevor er ausstieg, »was meinst du, bringt dieser neue Job wohl mehr ein? Angie spricht ständig davon, dass sie eine neue Waschmaschine und 'nen Trockner haben und vielleicht den Keller ausbauen will.«

»An deiner Stelle würde ich Angie gar nichts davon erzählen. Du kannst von Glück sprechen, wenn du nicht weniger verdienst.«

Romano schüttelte den Kopf und stieg aus. »Ich hab auch immer Pech.«

Web gab Gas und fuhr ziellos durch die Gegend. Das mit Chris Miller machte ihn völlig fertig, und er beneidete die Leute nicht, die es seiner Frau sagen mussten. Er hoffte, dass Miller keine Kinder hatte, aber so ein Typ schien er nicht zu sein. Verdammt, es gab einfach zu viel Elend in der Welt. Schließlich kam er zum Schluss, dass er eine weitere Dosis altmodischer Polizeiarbeit brauchte.

Web nahm den äußeren Ring des Capital Beltway zur Interstate 395, fuhr in Richtung Norden und lenkte den Mercury, den Bates ihm besorgt hatte, über die verfallene Fourteenth

Street Bridge, auf die vor ein paar Jahren ein Flugzeug gestürzt war, das während eines Schneesturms vom National Airport gestartet war. Er hielt mit dem Wagen auf einen Stadtteil zu, in den sich, besonders zu dieser Stunde, nur wenige gesetzestreue Bürger wagten. Abgesehen von jenen, die sich verirrt hatten, oder jenen, die eine Waffe und eine Dienstmarke trugen.

Web war mit der Gegend vertraut. Es war dieselbe Strecke, die seine Abteilung an ihrem letzten Abend auf Erden genommen hatte. Web wusste, dass der Wagen und seine Regierungs-Nummernschilder geradezu »FBI!« schrien, aber das war ihm egal. Eine Stunde lang fuhr er jede Sackgasse auf und ab, jede schmale Straße entlang, inspizierte jedes Loch in der Wand, das vielversprechend aussah. Mehrmals kamen ihm Streifenwagen entgegen, die herumschnüffelten, was hier mit einer Katze im Vogelhaus vergleichbar war. Der Ärger, den man suchte, war hier überall verdammt nah.

Er wollte gerade aufgeben, als er sah, wie unter einer Straßenlampe etwas rot aufblitzte. Er bremste, nahm sein zuverlässiges Fernglas aus der Tasche und sah es sich genauer an. Wahrscheinlich war es nichts, denn hier liefen viele mit Stirntüchern rum, und viele davon waren rot. Rot für Blut: Sogar die Leute hier hatten einen Sinn für das Praktische und Humor, was ihre Arbeit betraf. Ein paar Sekunden später beschleunigte sich Webs Puls. Der Typ trug sogar dieselbe Kleidung. Ein Tank-Shirt über Hantel schultern und Shorts unterhalb der Arschspalte. Es war sein guter, alter Lieferant von Nebenan, spezialisiert auf gutes Crack und andere Drogen aus der Gasse, in der das Charlie-Team seine letzte Runde gedreht hatte.

Web schaltete den Motor aus und stieg leise aus dem Wagen. Er überlegte, ob er sein Gewehr mitnehmen sollte, kam dann aber zum Schluss, dass die Pistole reichen würde. Es war nicht einfach, sich mit einem Gewehr in der Hand auf jemanden zu stürzen. Er zog die Pistole aus dem Holster und ging langsam die Straße entlang, hielt sich dabei in den Schatten. Vor ihm stand eine Straßenlampe, die er auf dem Weg zu dem Jungen passieren musste. Gerade, als er in ihren Lichtkegel trat, erklang irgendwo ein Schrei. Der Junge schaute auf und sah ihn. Web fluchte leise und lief los.

»Hast du es noch immer auf mein Gewehr abgesehen?«, rief Web ihm zu, als er sich vorwärts drängte.

Der Junge schoss die Gasse entlang. Web wusste, er sollte ihm nicht folgen, nicht einmal bewaffnet, und blieb stehen. Wenn er ohne jede Verstärkung diese Gasse entlanglief, konnte er sich gleich telefonisch einen Sarg bestellen. Es war aber trotzdem eine schwierige Entscheidung, denn Web wollte Bandanna Boy unbedingt haben. Er bemühte sich, hinter Zusammenhänge zu kommen, und vielleicht war Bandanna ja derjenige, der auf den Knopf der Fernsteuerung gedrückt hatte, die den Laser aktiviert hatte, der die Maschinengewehre ausgelöst hatte, die Webs liebste Freunde ins Vergessen geschickt hatten. Schließlich traf er eine Entscheidung. An einem anderen Abend, mein Freund. Und nächstes Mal werde ich erst aufhören, wenn ich die Hände um deinen verdammten Hals geschlossen habe.

Web drehte sich um, um zu seinem Wagen zurückzugehen. Da sah er sie kommen. Sie schienen es nicht eilig zu haben. Es waren vielleicht ein Dutzend. Entlang den lang gezogenen Schatten an der Ziegelsteinmauer sah er die Palette der Waffen, die sie trugen. Von seinem Wagen abgeschnitten, lief Web geduckt die Gasse entlang. Er hörte, dass die Gruppe hinter ihm es ihm gleichtat.

»Dumm gelaufen«, sagte er zu sich selbst. Er erkannte einen Hinterhalt, wenn er einen sah.

Das Licht der Straßenlampe blieb schnell hinter ihm zurück, und Web konnte sich nur auf ein paar vereinzelte Lichtflecke vom Himmel und die Geräusche laufender Füße vor und hinter ihm verlassen. Leider waren in diesem Labyrinth mit seinen hohen Wänden die Echos keine zuverlässigen Führer. Web bog nach rechts und links ab, bis er sich hoffnungslos verirrt hatte.

Er lief um eine letzte Ecke und blieb stehen. Er vermutete, dass die Hälfte der Gruppe wahrscheinlich in die andere Richtung gelaufen war, um ihm den Fluchtweg abzuschneiden, denn nach allem, was er wusste, war er im Kreis gelaufen. Er glaubte, sie noch immer kommen zu hören, konnte aber nicht sagen, von woher. Er bog in eine andere Gasse und blieb stehen. Lauschte. Alles still. Eine Stille, die ihm nicht gefiel. Stille bedeutete Heimlichkeit. Er sah nach links, nach rechts und dann nach oben.

Oben. Oben klang gut.

Er kletterte eine Feuerleiter in der Nähe hinauf und erstarrte dann. Die Schritte kamen ganz aus der Nähe. Kurz darauf sah er, warum. Zwei von ihnen kamen um die Ecke. Sie waren groß, schlank, mit rasierten Köpfen und bekleidet mit Leder und bauschigen, tief sitzenden Jeans und dicken Springerstiefeln mit breiten Absätzen, die es geradezu juckte, sich in Webs Gesicht zu drücken.

Sie blieben stehen und sahen sich um. Sie standen direkt unter ihm. Genau wie Web sahen sie zuerst nach links und dann nach rechts. Er schätzte, dass es nur eine Sache von Sekunden war, bis sie - genau wie er - nach oben sehen würden. Also schwang er sich hinab, und jeder Fuß kollidierte mit einem Kopf. Beide Männer prallten gegen die Ziegelwand. Web setzte etwas unbeholfen auf, er schien sich den rechten Knöchel verrenkt zu haben. Da die beiden bärenstarken Typen stöhnten und versuchten, wieder auf die Beine zu kommen, schickte er sie mit zwei Hieben mit dem Pistolenknauf gegen den Nacken in einen langen Winterschlaf. Er schnappte sich ihre Waffen, warf sie in eine Mülltonne in der Nähe und spurtete los.

Er konnte noch immer Schritte und gelegentlich auch Schüsse hören, wusste aber nicht, ob es seine Verfolger waren oder ein ganz gewöhnlicher Disput zwischen Bandenmitgliedern, wie er hier jede Nacht vorkam. Er lief um eine weitere Ecke und bekam einen harten Tiefschlag ab. Der Aufprall riss ihn von den Füßen, und als er der Länge nach auf den Asphalt fiel, verlor er seine Waffe. Er rollte sich ab und kam mit geballten Fäusten wieder hoch.

Bandanna Boy stand vor ihm, in der Hand ein Messer, das fast so groß war wie er selbst. Er hatte dasselbe überhebliche Grinsen aufgesetzt, das er auch in der Nacht gezeigt hatte, in der das Charlie-Team verschwunden war.

Web fiel auf, dass er die Waffe mit einigem Geschick hielt. Der Junge hatte wahrscheinlich schon einige Messerkämpfe überlebt. Er war kleiner als Web, aber muskulöser und vermutlich auch schneller. Das würde eine klassische Auseinandersetzung zwischen Jugend und Erfahrung werden. »Na, komm schon und friss etwas Erfahrung, junger Mann«, stieß Web hervor, als er sich darauf vorbereitete, sich zu verteidigen.

Der Junge stürzte sich auf Web und schwang die Messerklinge so schnell, dass Web ihr mit Blicken kaum folgen konnte. Doch das musste er auch nicht, denn Web setzte zu einem Scherentritt an, der Bandanna die Beine unter dem Leib wegriss und ihn schwer zu Boden schickte. Der Junge war zwar schnell wieder auf den Beinen, aber nur, um sich einen Hieb von Webs großer Faust gegen den Kopf abzuholen.

Während Bandanna noch benommen dastand, war Web schon bei ihm. Er schaute auf den Arm mit dem Messer hinab und brach sowohl Bandannas Griff um das Messer als auch den Unterarm. Als der Junge die Sicherheit der Klinge verloren hatte und ihm ein scharfrandiger Knochen aus dem Arm ins Gesicht sah, floh er. Seine Schmerzensschreie fegten mit ihm durch die Gasse, seine Dirzeigich's-Haltung lag neben dem Messer auf der blutbefleckten Straße.

Web schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, und wollte sich umdrehen, um seine Waffe aufzuheben. Er sollte es nicht schaffen.

Er konnte nur stumm zusehen, wie die Männer von allen Seiten näher kamen und ihm den Weg zu seiner Waffe versperrten. Sie waren mit abgesägten Schrotgewehren und Pistolen bewaffnet. Web spürte, dass sie alle sich gewaltig freuten, ihn zu sehen, vor allem, da sie zehn zu eins in der Überzahl waren. Web kam zum Schluss, dass er nichts zu verlieren hatte, wenn er eine aggressive Haltung einnahm. Er hielt ihnen seine FBI-Dienstmarke hin. »Ich könnte jeden von euch wegen unerlaubten Waffenbesitzes festnehmen. Aber wisst ihr was? Ich hab heute meinen großzügigen Tag und keine Lust auf den ganzen Papierkram. Also zieht einfach Leine und kümmert euch um eure Angelegenheiten, und wir vergessen die ganze Sache. Für den Augenblick. Aber versucht nicht, so einen Scheiß noch mal durchzuziehen.«

Ihre Reaktion bestand darin, sich ihm weiterhin zu nähern.

Webs Reaktion darauf bestand darin, sich vor ihnen zurückzuziehen, bis er die Hauswand hinter sich spürte und er einen weiteren Rückzug und das letztendliche Entkommen auf seine Fantasie beschränken musste.

Dann wurden zwei von ihnen, die direkt vor ihm standen, so heftig zur Seite geschleudert, dass es den Anschein hatte, die Schwerkraft unter ihnen sei aufgehoben worden. In der so geschaffenen Lücke starrte Web an dem massigsten Mann hoch, den er je außerhalb eines Profi-Football-Spiels gesehen hatte. Der Riese war mindestens eins fünfundneunzig, und Web konnte sich nicht vorstellen, dass er viel weniger als dreieinhalb Zentner wog. Ihm wurde klar, dass dieser neue Widersacher der legendäre Big F sein musste.

Der Mann trug ein kurzärmeliges, burgunderrotes Seidenhemd, das so groß war, dass Web es als Decke hätte nutzen können. Beige Leinenhosen bedeckten lange Beine, die aber kurz aussahen, weil sie so dick und massiv waren. Er hatte keine Socken an; seine nackten Füße steckten in Wildlederslippern. Und das Hemd war bis zum Nabel geöffnet, obwohl es höchstens zehn Grad warm war und eine hinterhältige kleine Brise wehte, die einem schnell unter die Haut ging. Sein Schädel wurde von einem Schatten von Flaum bedeckt. Die Gesichtszüge entsprachen seiner gewaltigen Größe, mit einem schweren Klumpen als Nase und konischen Ohren, von denen jedes von etwa einem Dutzend diamantener Stecker durchbohrt wurde, die sogar in dem schwachen Licht eindrucksvoll leuchteten.

Er verschwendete keine Zeit und baute sich direkt vor Web auf. Als Big F nach ihm griff, versetzte Web dem Mann einen brutalen Schlag in die Magengrube, der einen Schwergewichtsboxer gefällt hätte. Big Fs einzige Reaktion war ein Grunzen. Dann hob er Web hoch, trat einen Schritt zurück, als wolle er sich beim Kugelstoßen beweisen, und warf den fast zwei Zentner schweren Web gute drei Meter durch die Gasse. Der Rest der Gang johlte, fluchte und veranstaltete eine kleine Tritt-den-FBI-Mann-in-den-Arsch-Party. Alle jubelten, knurrten und klatschten sich mit animalischer Schadenfreude ab.

Web hatte sich noch nicht mal aufrappeln können, als der Mann schon wieder über ihm stand. Diesmal packte er Web am Gürtel, hob ihn hoch und schleuderte ihn gegen ein paar Mülltonnen. Web kam schnell wieder auf die Beine und schnappte nach Luft. Ihm war übel von den Schlägen, die er bezogen hatte. Bevor Big F ihn erreichen konnte, sprang Web vor, senkte die Schulter und rammte ihm seinen massigen Körper in den Leib.

Web hätte sich genauso gut gegen einen Lastwagen werfen können, so viel erreichte er damit. Er fiel auf den Asphalt, ohne Big F auch nur einen verdammten Zentimeter zurückgedrängt zu haben. Seine Schulter fühlte sich an, als hätte er sie ausgekugelt.

Web kam wieder auf die Füße, täuschte vor, ernsthaft verletzt zu sein, und setzte dann zu einem scharfen, hohen Tritt an, der Big F an der Schläfe traf. Blutspritzer erschienen am Rand von Big Fs Ohr, und Web stellte zufrieden fest, dass er den Mann um einige seiner Diamantstecker erleichtert hatte, die in ihrem blutigen Kielwasser zerrissene Fetzen des Ohrläppchens hinterließen.

Doch Big F stand noch, wie eins der Ziegelsteingebäude, die sie umgaben. Web hatte mit solchen Tritten fünfzig Kilo schwere Sandsäcke aus ihren Halterungen gerissen. Wie war das möglich? Tja, er hatte wirklich keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Big F bewegte sich schneller, als es einem Menschen seiner Größe eigentlich möglich sein sollte, und hieb einen Unterarm von der Größe eines Bretts so fest gegen Webs Schläfe, dass er Sterne sah und fast ohnmächtig geworden wäre. Halb schleppte, halb trug Big F ein paar Sekunden später Web die Gasse entlang. Seine Schuhe und die Jacke verlor er irgendwo unterwegs, seine Hose war zerrissen, und seine Arme und Beine bluteten, weil er über das Pflaster geschleift wurde.

Offensichtlich nur zum Spaß, denn Web leistete schon längst keinen Widerstand mehr, warf Big F ihn mit dem Kopf zuerst gegen eine Mülltonne. Nun wurde Web tastsächlich ohnmächtig, und das blieb so, bis er spürte, dass er auf etwas Weiches geworfen wurde.

Er öffnete die Augen; es war das Innere des Mercury. Als er sah, wie Big F die Tür zuschlug und davonging, zuckte er zusammen. Der Typ hatte kein einziges Wort gesagt, und Web war nie zuvor in seinem Leben dermaßen erniedrigt worden. Kein Wunder, dass Oma und Jerome sich so eingeschüchtert benommen hatten. Verdammt, Jerome war wahrscheinlich noch immer auf der Flucht.

Web setzte sich langsam auf und tastete sich nach gebrochenen Knochen ab. Als er die rechte Hand öffnete, flatterte ein Zettel heraus. Web sah die Zahlen und Worte, die darauf gekritzelt waren, und starrte erstaunt dorthin, wo Big F gerade noch gestanden hatte. Er steckte den Zettel in die Tasche, zog den Schlüssel heraus, ließ den Motor an und sorgte mit kreischenden Reifen dafür, dass er von hier wegkam. Seine Jacke, die Schuhe, die Pistole und einen großen Teil seines Selbstvertrauens ließ er zurück.

 

KAPITEL 28

 

Es war früh am Morgen, und Web ließ sich in einem weiteren Hotel im Bad durchweichen. Jeder Teil seines Körpers schmerzte. Die langen Kratzer auf seinen Armen und Beinen brannten, als drücke man ein Brandeisen auf sie. Er hatte eine dicke Beule an der Stirn, dort, wo seine Birne gegen den Mülleimer geprallt war, und auf der anderen Seite des Kopfs eine tiefe Schnittwunde, in der wahrscheinlich noch einige Asphaltkörnchen waren. Mann, er wurde richtig in Ehren alt. Wenn er beim FBI aufhörte, sollte er es vielleicht mal als Fotomodell versuchen.

Das Telefon klingelte, und Web streckte eine Hand aus und schnappte es sich. Es war Bates.

»Ich hole Sie und Ihren Kumpel in einer Stunde bei Romanos Haus ab.«

Web stöhnte.

»Was ist los?«, fragte Bates.

»Ist spät geworden. Ich habe einen kleinen Kater.«

»Ach, das tut mir ja so Leid, Web. In einer Stunde. Seien Sie pünktlich oder suchen Sie sich einen anderen Planeten, auf dem Sie leben können.« Bates legte auf.

Genau eine Stunde später holte Bates Web und Romano ab, und sie fuhren ins Pferdeland Virginia.

Bates sah sich Webs frische Verletzungen an. »Verdammt noch mal, was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Bates. »Sie haben hoffentlich keinen weiteren Wagen zu Schrott gefahren, denn nach dem Mercury steigen Sie auf ein Fahrrad um.« Bates schaute zu Webs Wagen am Straßenrand hinüber.

»Ich bin ausgerutscht, als ich aus der Badewanne stieg.«

»Das alles ist Ihnen passiert, als Sie aus der Badewanne stiegen?« Bates glaubte das eindeutig nicht.

»Sie wissen doch, wie es so schön heißt, Perce, die meisten Unfälle passieren zu Hause.«

Bates musterte ihn lange, bevor er sich dann entschloss, es dabei bewenden zu lassen. Er musste noch jede Menge andere punkte auf seiner Liste abhaken.

Nach einer Fahrt von etwa einer Stunde verließen sie den Highway und fuhren ein paar Meilen über gewundene Straßen mit Haarnadelkurven, die durch dichte Wälder führten. Irgendwo verpassten sie eine Abzweigung und endeten auf einem unbefestigten Weg, der kaum breit genug für ihren Wagen war. Web schaute zu einem schief in den Angeln hängenden Metalltor und dem Schild daneben hinüber, auf dem stand: EAST WINDS FARM. BETRETEN, JAGEN UND ANGELN VERBOTEN. ZUWIDERHANDLUNGEN WERDEN UNTER AUS SCHÖPFUNG ALLER RECHTSMITTEL BESTRAFT.

East Winds war, wie sie wussten, der Name von Canfields Farm. Web vermutete, dass sie sich dem Anwesen von der Rückseite genähert hatten. Als er das Schild las, lächelte er. Verdammt, diese Leute meinten es ernst; er zitterte vor Furcht. Er sah Romano an, der das Schild betrachtete und ebenfalls lächelte, weil er wahrscheinlich dasselbe dachte. Der Zaun hier war niedrig, Holzbretter an Pfosten. Die Farm befand sich wirklich am Arsch der Welt. »Jemand, der weiß, was er tut, könnte in einer Sekunde über den Zaun springen, zum Haus gehen, die Canfields und alle anderen dort umbringen, sich einen trinken und etwas fernsehen, und niemand würde bis zum nächsten Frühling davon erfahren«, sagte Romano sachkundig.

»Ja, und da Mord keins der Vergehen ist, die auf dem Schild stehen«, fügte Web hinzu, »kommt er wohl straffrei davon.«

»Behalten Sie diesen Scheiß für sich«, knurrte Bates. Doch

Web merkte, dass er sich Sorgen machte. Diese Farm war alles andere als eine Festung.

Schließlich fanden sie die richtige Abzweigung und erreichten den Vordereingang von East Winds. Das Tor erinnerte Web an das vor dem Weißen Haus. Und doch war das gewaltige Portal nach Sicherheitsmaßstäben bei dem riesigen Gelände ein Witz. Über den Eingang spannte sich ein schmiedeeiserner Bogen mit dem Namen der Farm in großen, geschwungenen Buchstaben. Und um alles zu übertreffen, stand das Tor auch noch offen! Es gab jedoch eine Gegensprechanlage, und Bates drückte auf den Knopf. Sie warteten, bis sich schließlich jemand meldete.

»Special Agent Bates vom FBI.«

»Kommen Sie rauf«, sagte die Stimme. »Folgen Sie der Straße und nehmen Sie die erste Abzweigung rechts zum Haupthaus.«

»Keine Videoüberwachung«, sagte Web, als Bates weiterfuhr. »Nach allem, was sie wissen, könnten wir Charlie Manson und Konsorten sein.«

Sie fuhren geradeaus. Das wellige grüne Land dehnte sich so weit aus, wie sie sehen konnten. Ein Großteil davon wurde von Zaun umschlossen. Auf einer Seite lag ein kleiner Teich. Die Straße war asphaltiert, verlief eine Weile geradeaus und bog dann um einen breiten Streifen aus hohen Eichen und Hickorybäumen, zwischen die sich Kiefern drängten. Hinter den Bäumen erhaschten sie auf der rechten Seite Blicke auf ein gewaltiges Gebäude.

Schließlich gelangten sie zu einem großen, zweistöckigen Steinhaus mit hohen Fenstern und breiten Schiebetüren darunter und einer großen, blechbeschlagenen, von den Elementen gezeichneten Kuppel auf dem Dach, auf der eine Wetterfahne in Gestalt eines Pferds und Reiters befestigt war. Für Web sah es aus wie die Vorlage für eine Farbe, die Martha Stewart in ihre Kollektion aufnehmen wollte, um sie den breiten Massen dann

als etwas viel Schickeres als bloßen Rost zu verkaufen.

Sie bogen nach rechts, entfernten sich von dem Kutschenoder Gerätehaus, oder was auch immer es war, und fuhren eine lange, gepflasterte Auffahrt entlang. Einige der größten Ahornbäume, die Web je gesehen hatte, standen in Reihen an beiden Seiten der Auffahrt und bildeten ein natürliches Dach aus Ästen und Blättern.

Web sah nach vorn, und seine Augen wurden größer. Es war das größte Haus, das er je gesehen hatte, und es bestand vollständig aus Stein, vorn mit einem gewaltigen Portikus, der von sechs Säulen getragen wurde.

»Verdammt«, sagte Romano, »das Ding ist ja so groß wie das Hoover Building.«

Bates stellte den Wagen vor dem Haus ab und stieg aus. »Es ist ein Haus, Romano, und halten Sie Ihre Zunge im Zaum und versuchen Sie, dem FBI keine Schande zu machen.«

Die massive Tür wurde geöffnet, und ein Mann stand da.

Billy Canfield war nicht in Würde gealtert, dachte Web.

Er war noch immer groß und schlank, aber die breiten Schultern und der tiefe Brustkorb - an den sich Web von den Besuchen des Mannes im Krankenhaus erinnerte - waren eingefallen. Sein Haar war jetzt dünner und fast vollständig grau, und das Gesicht war noch zerfurchter geworden. Als Canfield hinaustrat, um sie zu begrüßen, bemerkte Web, dass der Mann hinkte, und sah, dass ein Knie außergewöhnlich stark nach innen geneigt war. Canfield, schätze er, musste jetzt Anfang sechzig sein. Vor fünfzehn Jahren hatte er zum zweiten Mal geheiratet, eine Frau, die viel jünger als er war. Er hatte erwachsene Kinder aus erster Ehe, und mit seiner zweiten Frau, Gwen, hatte er eben jenen Jungen gehabt, den Zehnjährigen, der von den Mitgliedern der >Freien Gesellschaft in der Schule in Richmond ermordet worden war. Web sah David Canfields Gesicht noch immer oft in seinen Träumen. Das Schuldgefühl war im Lauf der Jahre nicht geringer geworden; wenn überhaupt, dann nur noch stärker.

Canfield musterte sie scharf unter dichten, buschigen Augenbrauen. Bates streckte seine starke Hand aus und hielt mit der anderen den Dienstausweis hoch, genau, wie die Vorschriften es verlangten, wie Web feststellte.

»Ich bin Agent Bates vom FBI-Büro Washington, Mr Canfield. Danke, dass wir zu Ihnen hinauskommen durften.«

Canfield ignorierte Bates und schaute stattdessen zu Web hinüber. »Ich kenne Sie, nicht wahr?«

»Web London, Mr Canfield. Ich bin bei der Geiselrettung. Ich war an jenem Tag in Richmond«, fügte er diplomatisch hinzu. »Sie haben mich im Krankenhaus besucht. Das hat mir viel bedeutet. Ich wollte Ihnen das nur noch einmal sagen.«

Canfield nickte langsam und reichte Web die Hand, der sie schüttelte. »Tja, ich weiß zu schätzen, was Sie alle damals versucht haben. Sie alle haben getan, was Sie konnten, Ihr Leben für meinen Jungen riskiert und so weiter.« Er hielt inne und sah Bates an. »Aber ich habe Ihnen schon am Telefon gesagt, dass hier draußen alles ruhig ist. Und wenn dieser Dreckskerl mir über den Weg läuft, wird er dran glauben und nicht ich.«

»Das ist mir schon klar, Mr Canfield.«

»Billy.«

»Danke, Billy, aber Sie müssen wissen, dass drei Menschen, die in einem Zusammenhang mit den Ereignissen an dieser

Schule in Richmond stehen, und möglicherweise noch eine vierte Person bereits ermordet wurden. Falls die >Freie Gesellschaft dahinter steckt - und ich muss Ihnen sagen, dass wir noch keinen direkten Beweis dafür haben -, aber falls sie dahinter steckt, könnten auch Sie ein Ziel sein. Und deshalb sind wir hier.«

Canfield sah auf seine Uhr. »Und was nun? Wollen Sie mich in Schutzhaft nehmen? Ich muss mich um meine verdammte Pferdezucht kümmern, und glauben Sie mir, das geht nicht von allein.«

»Das verstehe ich, aber wir könnten ein paar unauffällige Maßnahmen ergreifen... «

»Wenn Sie sich weiterhin mit mir unterhalten wollen, dann müssen Sie schon mitkommen. Ich habe zu arbeiten.«

Bates wechselte Blicke mit Web und Romano und zuckte dann mit den Achseln. Sie folgten Canfield zu einem pechschwarzen Landrover und stiegen ein.

Canfield wartete nicht, bis sie die Sicherheitsgurte angelegt hatten. Er drückte aufs Gas, und sie preschten los. Web saß vorn neben ihm. Während der Fahrt betrachtete er die Farm.

»Zuletzt hat Ihnen doch eine Spedition in Richmond gehört. Wie sind Sie zu einer Pferdezucht in Fauquier County gekommen?«

Canfield holte eine Zigarette aus seiner Brusttasche, steckte sie an, drehte das Fenster hinunter und blies Rauch hinaus. »Gwen erlaubt nicht, dass ich im Haus rauche. Ich muss jede Gelegenheit nutzen«, erklärte er. »Tja, das ist eine verdammt gute Frage, Web, von Lastern zu Pferden. Das frage ich mich manchmal auch, und manchmal wünsche ich, ich hätte wieder eine Spedition. Ich bin in Richmond geboren und aufgewachsen, und mir gefällt es dort. Diese Stadt kriecht einem in die Knochen, in Freud und Leid, und ich habe beide Seiten dieser Medaille gesehen.

Aber Gwen hat schon immer Pferde geliebt; sie ist auf einer Farm in Kentucky aufgewachsen. Das geht einem wohl auch ins Blut. Bei mir jagt es allerdings nur den Blutdruck in die Höhe. Wie dem auch sei, wir haben uns entschlossen, es damit zu versuchen. Wie es ausgeht, das steht noch in den Sternen. Ich hab jeden verdammten Cent, den ich habe, in diesen Ort gesteckt, also haben wir zumindest den Anreiz, es hinzukriegen.«

Romano beugte sich vor. »Was genau macht man bei so einer Pferdezucht?«, fragte er. »Die einzigen Pferde, die ich je gesehen habe, sind die, die die Kutschen um den Central Park ziehen. Ich bin nämlich im Big Apple aufgewachsen.«

»Tut mir Leid, das zu hören, Yank«, sagte Canfield und drehte sich zu Romano um. »Ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen?«

»Romano, Paul Romano. Freunde nennen mich Paulie.«

»Tja, wir sind keine Freunde, also nenne ich Sie einfach Paul. Und bei einer Pferdezucht schießt man in erster Linie zuerst mal Geld dazu, Paul. Man zahlt ein Heidengeld für das Grundstück und die ganzen Mitarbeiter. Man kauft ein paar Pferde, und sie fressen einem die Haare vom Kopf. Man zahlt horrende Deckgebühren, damit ein aufgegeilter Hengst, der ein paar Siege auf der Rennbahn auf dem Konto hat, die Stuten schwängert. Und dann schenkt der Lauf der Natur einem ein paar Fohlen, die einem das letzte Geld wegfressen, das einem noch geblieben ist. Wenn die Fohlen dann zu Jährlingen herangewachsen sind, hat man genug Geld in die kleinen Mistkerle gesteckt, um damit ein Dutzend Kinder nach Harvard schicken zu können. Und dann hofft und betet man, dass vielleicht eins der Fohlen ganz vielversprechend ist und man es an ein armes Schwein verkaufen kann und man vielleicht eine Rendite von fünf Prozent für sein Geld bekommt, weil man sich sechzehn Stunden am Tag den Arsch aufgerissen hatte. Und wenns nicht klappt, kommt die Bank, an die man sein Leben verkauft hat, und nimmt einem alles weg, was man je besessen hat, und man stirbt in Armut, ohne ein Dach über dem Kopf, einen Fetzen Kleidung am Leib oder auch nur einen einzigen Menschen, den man Freund nennen könnte.« Er sah Romano wieder an. »So in etwa ist das, Paul. Noch Fragen?«

Romano lehnte sich zurück. »Nein, das war ziemlich ausführlich.«

Sie erreichten ein umzäuntes Gelände, in dem sich Scheunen, Ställe und andere Gebäude befanden, und Canfield fuhr unter einem hölzernen Ziergiebelbogen her, der ihm zufolge dem von George Washingtons Anwesen in Mount Vernon nachempfunden war; nur, dass er - so Canfield - teurer gewesen war.

»Das ist das Pferdezentrum. Ställe, eine große Scheune für das Heu, das Büro des Verwalters, Boxen, in denen die Pferde gebadet werden können, Reitringe und dergleichen. Gottes kleiner Morgen, falls es je einen gegeben hat«, sagte Canfield und lachte, als er aus dem Rover stieg. Die FBI-Agenten folgten ihm.

Canfield rief einem Mann etwas zu, der mit ein paar Leuten sprach, die Web für Landarbeiter hielt. »He, Nemo, kommen Sie mal kurz her.«

Der Mann kam zu ihnen herüber. Er hatte etwa Webs Größe, war aber stämmiger, mit dem starken Bau eines Menschen, der sich seinen Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit verdient. Er hatte kurzes, drahtiges schwarzes Haar, das an den Schläfen etwas ergraut war, und markante, stattliche Gesichtszüge. Seine Kleidung war typisch für eine Ranch: weit sitzende Jeans und ein verblichenes Denimhemd. Seine Füße steckten in spitz zulaufenden Stiefeln. Sie waren ganz schlicht, weder Alligatorleder noch Känguruhaut, noch silberne Schnallen. Sie waren vom ständigen Gebrauch verstaubt und zerknautscht und dort, wo Steigbügel das Leder berührt hatten, abgescheuert. In seiner Gesäßtasche steckten verdreckte Handschuhe aus Segeltuch. Er nahm den schweißbefleckten Stetson ab, als er näher trat, und wischte die Stirn mit einem Tuch ab.

»Nemo Strait hier ist der Verwalter des Gestüts. Nemo, das sind ein paar Leute vom FBI. Sie sind gekommen, um mir zu sagen, dass ich in Gefahr bin, weil sie das Arschloch, das meinen Sohn umgebracht hat, ausbrechen ließen und der Typ es jetzt vielleicht auf mich abgesehen hat.«

Strait bedachte sie alle mit einem wahnsinnig unfreundlichen Blick.

Web streckte die Hand aus. »Ich bin Agent Web London.«

Strait schüttelte ihm die Hand, und Web spürte die zusätzliche Kraft, die der Mann in den Griff legte. Nemo Strait war ein sehr starker Bursche und wollte offensichtlich, dass Web das auch erfuhr. Web ertappte den Mann dabei, wie er sein verwüstetes Gesicht musterte. Bei den meisten rief es Mitgefühl hervor, was Web verabscheute. Nemo hingegen schaute nur etwas verdrossener drein, als würde er an einem gar nicht mal so schlechten Tag viel schlimmere Verletzungen erleiden. Web mochte den Mann sofort.

Canfield zeigte auf Web. »Dieser Bursche hier hat tatsächlich versucht, meinen Jungen zu retten, was mehr ist, als ich von einigen anderen behaupten kann, die mit der Sache zu tun hatten.«

»Tja, meiner Meinung nach taugt die Regierung nur dazu, das Leben ihrer Bürger zu verpfuschen«, sagte Nemo und sah Web an. Seine Stimme war reinster Slang vom Lande, mit einem kurzen Eintauchen zwischen jeder Silbe, das das Hüpfen seines gewaltigen Adamsapfels nachahmte. Aus irgendeinem Grund stellte Web sich vor, wie der große Nemo bei einem Country- and-Western-Karaoke mitmachte und dabei richtig gut ankam.

Web sah zu Bates hinüber. »Wir wollen Ihnen doch nur helfen, Billy«, sagte der. »Wenn Ihnen irgendjemand etwas tun will, wollen wir hier sein, um es zu verhindern.«

Canfield ließ den Blick über sein Anwesen gleiten und sah dann Bates an. »Zehn Männer sind rund um die Uhr auf meiner Ranch, und jeder einzelne von ihnen kann ziemlich gut mit einem Gewehr umgehen.«

Bates schüttelte den Kopf. »Wir sind einfach hier hereinspaziert, und Sie haben nicht mal gewusst, wer wir sind. Sie sind unbewaffnet und allein zur Haustür herausgekommen. Wenn wir es darauf abgesehen hätten, Sie zu töten, wären Sie schon tot.«

Canfield lächelte. »Was, wenn ich Ihnen sage, dass ein paar meiner Jungs Sie im Auge behalten haben, seit Sie meinen Besitz betreten haben? Und dass sie etwas anderes als nur ihre Finger auf Sie richteten?«

Web und Romano sahen sich unauffällig um. Web hatte einen sechsten Sinn, der anschlug, wenn jemand eine Waffe auf ihn richtete, und fragte sich, warum er ihn nicht gewarnt hatte.

»Dann würde ich Ihnen sagen, dass Ihre Jungs wahrscheinlich ein paar unschuldige Menschen erschießen werden«, sagte Bates.

»Verdammt noch mal, genau dafür bin ich ja versichert, schätze ich«, schnappte Canfield zurück.

»Ich habe die Akten überprüft, Billy. Während des Prozesses hat nicht nur Ernest Free gedroht, Sie zu töten. Damals hat das FBI Sie unter Schutz gestellt.«

Canfields Gesichtszüge wurden sehr grimmig. »Stimmt, jedes Mal, wenn ic h mich umgedreht habe, stand ein Typ in einem Anzug und mit einer Knarre da und starrte mich an und hat mich daran erinnert, dass mein kleiner Junge tot und begraben ist. Ich will Sie nicht beleidigen, aber ich habe für den Rest meines Lebens genug von Leuten wie Ihnen. Klarer kann ich es wohl nicht ausdrücken.«

Bates straffte die Schultern und trat näher an Canfield heran. »Das FBI bietet Ihnen erneut Schutz an. Und ich bestehe gewissermaßen darauf, dass Sie ihn annehmen«, fügte Bates hinzu, »bis wir Ernest Free gefasst haben und sicher sind, dass Sie nicht mehr in Gefahr schweben.«

Canfield verschränkte die Arme vor der Brust. »Tja, dann haben wir ein Problem, denn das sind die Vereinigten Staaten von Amerika, und hier kann jeder selbst entscheiden, wer seinen Besitz betreten darf und wer nicht, und ich fordere Sie jetzt auf, sofort von meinem Land zu verschwinden.« Strait trat näher zu seinem Boss, und Web sah, dass auch einige der anderen Landarbeiter näher rückten. Er stellte des Weiteren fest, dass Romanos Hand sich um den Griff seiner Pistole geschlossen hatte.

Ein großer Bursche machte den wirklich gewaltigen Fehler, seine Hand auf Romanos Schulter zu legen. Einen Augenblick später lag der Mann bäuchlings auf dem Boden. Romano drückte ihm das Knie aufs Rückgrat und eine 45er ans Ohr und richtete eine zweite 45er, die er aus dem zweiten Halfter gezogen hatte, das er am Gürtel trug, auf Canfields Leute.

»Okay«, sagte Romano, »will einer von euch Scherzkeksen es darauf ankommen lassen?«

Web trat schnell vor, bevor Romano sie alle umbringen konnte. »Hören Sie, Billy, ich habe zwei >Freie< erschossen, und wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, hätte ich auch Ernest weggepustet. Aber der Mistkerl hat Glück gehabt und kam stattdessen mit einer Kugel in der Schulter davon, und ich ging mit einem halben Gesicht und einem Viertel meines Bluts raus. Ich glaube wirklich, dass wir alle hier dasselbe wollen; wir haben nur leicht unterschiedliche Ansichten, wie wir es anstellen sollen. Was, wenn Romano und ich hier bei Ihnen auf der Ranch bleiben? Keine Anzüge, nur Jeans und Stiefel. Wir helfen Ihnen sogar bei der Arbeit. Aber im Gegenzug müssen Sie mit uns zusammenarbeiten. Sie müssen auf uns hören, wenn wir Ihnen sagen, dass es ein Problem geben könnte, und wenn wir Ihnen sagen, dass Sie Ihren Arsch in Deckung schaffen sollen, schaffen Sie ihn in Deckung. Es sieht so aus, als hätten die >Freien< schon mehrere Menschen umgebracht, und zwar auf ziemlich einfallsreiche Art und Weise. Ich bezweifle zwar nicht, dass Ihre Leute gut in ihrem Job sind, aber vielleicht nicht gut genug, wenn diese Typen Sie wirklich umlegen wollen. Mir ist klar, dass es Ihnen nicht gefällt, sich von anderen sagen zu lassen, was Sie zu tun haben, aber Sie wollen den >Freien< bestimmt nicht die Befriedigung geben, Sie umgebracht zu haben. Sie und Ihre Frau haben diese Hölle schon durchgestanden, als Ihr Sohn starb. Sie wollen bestimmt nicht, dass Ihre Frau auch noch um Sie trauern muss.«

Canfield sah Web lange an. Und die ganze Zeit über war Web sich nicht sicher, ob der Mann ihn nicht anspringen oder seinen Leuten vielleicht befehlen würde, das Feuer zu eröffnen. Schließlich sah Canfield zu Boden und trat wütend ins Erdreich. »Gehen wir ins Haus zurück und sprechen darüber.« Er bedeutete Strait und seinen Leuten, sich wieder an die Arbeit zu machen. Romano half dem Mann hoch und klopfte ihm sogar den Staub von den Sachen.

»War nicht persönlich gemeint, Cowboy. Ich hätte das mit jedem gemacht, der mich anfasst. Kapiert?«

Der Mann hob seinen Hut auf und hastete davon. Der Angst in seinen Augen nach zu schließen, ging Web nicht davon aus, dass er Romano je wieder »anfassen« würde.

Canfield und die Agenten stiegen in den Rover. Als sie zurückfuhren, sah Canfield zu Web hinüber.

»Okay, ich bestreite nicht, dass das, was Sie sagen, eine Menge Sinn ergibt, aber ich freu mich nicht darauf, an diesen Teil meines Lebens erinnert zu werden. Und ich verabscheue es gewaltig, dass diese Arschlöcher mich wieder in diese Ecke drängen.«

»Das verstehe ich, aber...« Web wurde von dem Klingeln eines Handys unterbrochen. Er überprüfte sein Gerät, aber das hatte nicht geklingelt. Bates und Romano holten ihre Telefone ebenfalls heraus. Canfield zog ein Handy aus einer Halterung des Rovers und betrachtete es. Es klingelte auch nicht. Er schaute zu Boden, griff hinab und hob das Telefon auf, das dort

lag.

»Jemand muss sein Handy hier liegen gelassen haben. Gwens ist es nicht, und ich weiß nicht, wer diesen Wagen sonst noch fährt, verdammt noch mal.« Er wollte gerade auf den Sprechknopf drücken, als Web ihm das Handy aus der Hand riss, auf den Knopf der automatischen Fensterbetätigung an seiner Tür drückte und das Telefon hinauswarf.

Canfield sah ihn an. »Verdammt noch mal, was fällt Ihnen ein?«

Sie beobachteten, wie das Telefon durch die Luft flog und dann mitten auf einem unbestellten Acker auf den Boden fiel. Nichts geschah. Canfield drückte auf die Bremse. »Jetzt schaffen Sie Ihren Arsch hier raus und holen das verdammte Handy... «

Die Explosion war so stark, dass sie den Land Rover erzittern ließ und eine schwarze Rauchwolke und Flammen dreißig Meter hoch in die Luft jagte.

Die Männer starrten das feurige Spektakel einige Sekunden lang an. Schließlich sah ein erschütteter Canfield zu Web hinüber. »Wann wollt ihr anfangen, Jungs?«

 

KAPITEL 29

 

Web fuhr die Straße zum Haus seiner Mutter entlang. Er wusste noch immer nicht, was er damit anfangen sollte. Wenn er es verkaufen wollte, würde er es in Ordnung bringen müssen, und zwar eigenhändig, da sein Bankkonto es ihm nicht ermöglichte, Handwerker zu beauftragen. Doch er hatte nicht das geringste Verlangen, auch nur ein Scharnier zu richten oder einen einzigen Dachziegel zu ersetzen.

Web war hier, weil ihm in den Sinn gekommen war, dass er ein paar Sachen zum Wechseln brauchte, wenn er eine Weile auf der Ranch bleiben würde. Er wollte noch nicht zu seinem Haus zurückfahren. Die Reporter würden es wahrscheinlich noch belagern. Doch er hatte auch einige Kleidungsstücke hier im Haus seiner Mutter deponiert. Er hatte sich auch überlegt, die Schachtel, die einen großen Teil von Harry Sullivans Leben enthielt, auf den Dachboden zurückzubringen. Da er jetzt ständig unterwegs war, wollte Web das Risiko vermeiden, sie zu verlieren. Er war sich auch nicht sicher, was er wegen seines Vaters unternehmen sollte. Sollte er im Gefängnis anrufen? War das der richtige Ort, um die Bekanntschaft mit seinem alten Herrn wieder aufzufrischen? Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, dass Harry Sullivan bei seinem Alter im Gefängnis sterben würde. Somit war ein Besuch im Knast vielleicht Webs einzige Chance. Es war schon komisch, wie man seine Prioritäten neu ordnete, wenn man fast von einer Bombe in einem Telefon in Stücke gerissen worden wäre.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als das Handy klingelte. Es war Claire, und ihre Stimme klang nervös, aber auch entschlossen.

»Ich habe lange über unsere Sitzungen nachgedacht, Web. Ich glaube, wir müssen unsere Taktik ein wenig ändern. Ich bin auf ein paar Dinge sehr neugierig, und ich glaube, wir können sie auf andere Art und Weise besser anpacken.«

»Das klingt ziemlich vage, Claire. Wovon genau sprechen Sie?«

»Aufgrund unserer bisherigen Gespräche vermute ich, Web, dass viele Ihrer Probleme aus Ihrem Verhältnis zu Ihrer Mutter und Ihrem Stiefvater stammen. Bei unserer letzten Sitzung haben Sie mir gesagt, dass Sie im Haus Ihrer Mutter aufgewachsen sind und sie es Ihnen vererbt hat.«

»Na und?«

»Und Sie haben erwähnt, Sie würden nie in Betracht ziehen, dort zu wohnen. Und auch, dass Ihr Stiefvater dort gestorben ist.«

»Noch einmal: Na und?«

»Ich glaube, es könnte noch etwas anderes damit auf sich haben. Erinnern Sie sich daran, dass ich gesagt habe, ich würde auf Hinweise achten, die meine Patienten mir geben? Tja, ich habe in diesem Zusammenhang einen großen Hinweis von Ihnen bekommen.«

»Was hat ein altes Haus mit meinen Problemen zu tun?«

»Es ist nicht das Haus, Web, sondern das, was darin vielleicht passiert ist.«

»Was könnte in dem Haus passiert sein«, beharrte er, »abgesehen davon, dass mein Stiefvater dort abgekratzt ist? Und was hat das mit mir zu tun?«

»Das wissen nur Sie.«

»Und ich sage Ihnen, mehr weiß ich nicht. Und ich sehe wirklich nicht, wieso ich in einer schäbigen Gasse zusammengeklappt sein soll, weil ich in diesem Haus aufgewachsen bin. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

»Sie würden erstaunt sein, Web, wie lange der Verstand etwas unter Verschluss halten kann, bis es schließlich eines Tages hervorbricht. Ihre Begegnung mit dem kleinen Jungen in der Gasse könnte irgendetwas aus Ihrer Vergangenheit ausgelöst haben.«

»Und ich sage Ihnen, ich habe keine Ahnung, was das sein könnte.«

»Vielleicht wissen Sie es doch, Web, aber Ihr bewusster Verstand erkennt es nicht.«

Er verdrehte die Augen. »Was soll dieser Psycho-Quatsch? Was wollen Sie damit erreichen?«

Als Antwort sagte Claire: »Web, ich würde Sie gern hypnotisieren.«

Er war wie vor den Kopf geschlagen. »Nein.«

»Es könnte uns wirklich einen großen Schritt voranbringen.«

»Wie kann es uns helfen, wenn ich wie ein Hund belle, während ich bewusstlos bin?«

»Eine Hypnose ist in gewisser Hinsicht ein erhöhter Bewusstseinszustand, Web. Sie werden sich alles bewusst sein, was um Sie herum vorgeht. Sie werden die vollständige Kontrolle haben. Ich kann Sie zu nichts veranlassen, was Sie nicht wollen.«

»Es wird uns nicht helfen.«

»Das können Sie nicht wissen. Ich kann Ihnen ermöglichen, einige Dinge anzusprechen, die Sie normalerweise meiden würden.«

»Es gibt einige Dinge in meinem Kopf, die ich vielleicht gern für mich behalten würde.«

»Wenn Sie es nicht versuchen, Web, werden Sie es nie erfahren. Bitte denken Sie darüber nach. Bitte.«

»Hören Sie, Claire, Sie haben bestimmt genug Verrückte, denen Sie helfen können. Warum denken Sie nicht eine Weile über sie nach?« Er unterbrach die Verbindung.

Web bog auf die Einfahrt, ging ins Haus, packte eine Tasche mit Sachen und zögerte dann am Fuß der Treppe zum Dachboden. Harry Sullivans Schachtel hielt er unter einem Arm. Das kann doch wirklich nicht so schwer sein, sagte er sich. Ein Dachboden war ein Dachboden. Obwohl er Claire etwas anderes erzählt hatte, gab es etwas an diesem Haus, das ihn tief in seiner Seele völlig durcheinander brachte. Und doch griff er nach oben, packte das Seil und zog die Treppe herunter.

Als er auf dem Dachboden war, stellte er die Schachtel ab und griff nach der Lichtschnur, zog die Hand dann aber zurück. Er schaute in die verschiedenen Ecken, suchte nach Bedrohungen, etwas, das jetzt eher Instinkt als Gewohnheit war. Er ließ den Blick über den Dielenboden schweifen und dann über all die schattenhaften Zeugnisse der kargen Geschichte seiner Familie, in Gestalt von Kleiderständern, Bücherstapeln und einigen Haufen Trödel, die schon allmählich verrotteten. Der Stapel mit den Resten des burgunderroten Teppichbodens in der Nähe der Treppe erregte seine Aufmerksamkeit. Die Teppichrollen waren eng verschnürt und mit Klebeband umwickelt. Er hob eine hoch. Sie war schwer und sehr hart, geradezu steif, vielleicht sowohl vor Kälte als auch vor Alter. Die Reste passten zu dem Teppich in der Etage unter ihm, und Web fragte sich, warum seine Mutter sie behalten hatte.

Daneben hatte einst ein großer Haufen mit Kleidungsstücken gelegen. Jetzt war er fort. Web war manchmal hier hinaufgekommen, wenn sein Stiefvater wieder randalierte, hatte die Dachbodentür hinter sich zugezogen und sich unter dem Kleiderstapel versteckt. Sein Stiefvater hatte hier oben ein Lager an Schnaps und anderen Drogen eingerichtet, das er vor seiner Frau geheim hielt. Er stolperte dann oft mitten in der Nacht, meist schon heillos betrunken, auf der Suche nach weiteren Möglichkeiten, seinem Verstand zusätzlichen Schaden zuzufügen, hier hinauf. Es waren die frühen siebziger Jahre, das Land stand unter dem Vietnam-Schock, und Leute wie sein

Stiefvater, die nie eine Waffe in die Hand genommen hatten, weder für ihr Land noch aus irgendeinem anderen Grund, nutzten die allgemeine Angst und Gleichgültigkeit der Zeit als Entschuldigung, das Leben immer während im Tran zu verbringen.

Ein Teil des Bodens der Dachstube befand sich über der Decke von Webs Schlafzimmer. Als kleines Kind im Bett hatte Web über sich die Schritte seines Stiefvaters gehört, wenn der Mann seine psychedelischen Glücksbringer suchte. Der kleine Web hatte schreckliche Angst, dass Stockton durch die Decke brechen könnte, auf ihm zu landen kam und ihn fürchterlich verprügelte. Eine Kobra in deinem Bett, töte sie oder werde von ihr getötet.

Wenn Stockton ihn schlug, ging Web zu seiner Mutter, doch die meiste Zeit über war sie nicht da, um ihn zu trösten. Sie streifte nachts oft lange mit dem Wagen durch die Gegend und kam erst morgens wieder nach Hause, Stunden, nachdem Web sich angezogen und etwas gegessen und zur Schule gestürmt war, damit er dem alten Mann nicht am Frühstückstisch gegenübersitzen musste. Das Knarren von Stufen bereitete ihm bis zum heutigen Tag Unbehagen.

Er schloss die Augen und atmete in der kühlen Luft, und in seiner Einbildung stieg dieser alte, verschwundene Kleiderstapel hoch empor. Und wie aufs Stichwort spritzte etwas rot, und dann drangen Geräusche auf ihn ein, die ihn veranlassten, die Augen zu öffnen, die Treppe hinabzustürmen und die Tür zum Dachboden zu schließen. Er hatte diese Vision schon tausendmal gehabt und sich nie einen Reim darauf machen können. Er war schließlich an einen Punkt gelangt, wo er sie nicht mehr entschlüsseln wollte, aber jetzt hatte er aus irgendeinem Grund das Gefühl, ihrer wahren Bedeutung näher denn je zuvor zu sein.

Er setzte sich in den Mercury und holte sein Handy und den Zettel heraus, den Big F ihm am Abend zuvor gegeben hatte. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor der Zeit, die auf dem Zettel angegeben war. Er tippte die Ziffern ein, und sofort ging jemand ran. Er bekam Anweisungen, dann wurde die Verbindung wieder unterbrochen. Wenigstens verstanden die Typen sich auf ihr Handwerk. Tja, es würde eine geschäftige Nacht werden.

Als er losfuhr, wandelte er die unsterblichen Worte von TOC ab, der Taktischen Einsatzzentrale:

»Web London an die menschliche Rasse, niemand hat die Kontrolle.«

 

KAPITEL 30

 

Web fuhr zu Romanos Haus, um ihn aufzulesen. Angie blieb in der Tür stehen, als Romano mit seinen Taschen aus dem Haus kam, und sah nicht sehr glücklich aus. Das schloss Web zumindest, als er Angie zuwinkte und sie ihm zum Dank für seine Mühe den Stinkefinger zeigte. Romano lud zwei Präzisionsgewehre, eine MP-5, eine Kevlar-Weste und vier halbautomatische Pistolen mit Munitionsmagazinen für alle Waffen in den Kofferraum.

»Mein Gott, wir haben es nicht auf Saddam abgesehen, Paulie.«

»Du machst es auf deine Weise, und ich auf meine. Der Typ, der Chris Miller weggepustet hat, ist noch da draußen, und wenn er aus tausend Metern Entfernung auf meine Wenigkeit schießt, wäre ich auch gern imstande, das Feuer zu erwidern. Capito?« Er drehte sich um und winkte Angie zu. »Tschüss, mein Schatz!«

Angie zeigte ihm den Vogel und knallte die Haustür hinter sich zu.

»Sie ist wohl ziemlich wütend«, sagte Web.

»Ich hatte noch Urlaub. Wir wollten ihre Mutter besuchen. Sie wohnt im Bayou. In Slidell, Louisiana, um genau zu sein.«

»Tut mir Leid, Paulie.«

Romano sah ihn an und lächelte, dann zog er die YankeeKappe über die Augen und lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Mir nicht.«

Sie fuhren nach East Winds, wo sie am Tor von zwei FBIAgenten erwartet wurden. Sie zeigten ihre Ausweise und wurden durchgelassen. Nach dem Mordversuch an Billy Canfield mit Hilfe eines explodierenden Handys zeigte sich die FBI-Präsenz hier in voller Pracht. Ein Kastenwagen des FBI-

Bombenteams kam ihnen entgegen, als sie durch das Tor fuhren, zweifellos beladen mit jedem Fetzen an Beweismitteln, den sie in den Trümmern hatten finden können. Web ging davon aus, dass FBI-Agenten jeden auf der Farm verhörten, der auch nur in einem entfernten Zusammenhang mit der Herkunft dieses Handys stehen könnte. Des Weiteren war Web davon überzeugt, dass Billy Canfield von all dieser hektischen Aktivität wenig begeistert sein würde. Doch zumindest hatte er dem Mann das Leben gerettet. Das hatte ihnen Zutritt zur Ranch verschafft.

Er hing noch immer diesen Gedanken nach, als ein Pferd und eine Reiterin in Sicht kamen. Es war ein großes, glänzendes Vollblut mit einer perfekten Mischung aus schimmernden Muskeln, Sehnen und Knochen, die sich alle in einem empfindlichen Wechselspiel bewegten, das es eher wie eine Maschine als wie ein Tier wirken ließ. Web war ein paar Mal geritten, hatte sich aber nie ernsthaft damit beschäftigt, und doch musste er eingestehen, dass dieser Anblick wirklich beeindruckend war. Die Frau trug braune Reithosen, glänzende schwarze Stiefel, einen hellblauen Baumwollpulli und Handschuhe. Der schwarze Reithelm konnte das lange, blonde Haar nicht vollständig bedecken.

Als die Reiterin das Pferd zum Wagen lenkte, ließ er die Scheibe herunterfahren.

»Ich bin Gwen Canfield. Sie müssen Web sein.«

»Bin ich. Das ist Paul Romano. Hat Ihr Mann Ihnen vo n unserer Vereinbarung erzählt?«

»Ja«, sagte Gwen. »Er hat mich gebeten, Ihnen Ihre Unterkunft zu zeigen.«

Sie nahm den Helm ab und warf das blonde Haar zurück, und es fiel bis auf ihre Schultern.