»An ALK.«

Claire sah ihn verständnislos an. »Sie meinen an ALL? An akuter lymphatischer Leukämie?«

»Nein, ich meine an ALK wie alkoholischer Langzeitkonsum.«

»Sie sagten, sie hätten sich aus einer Laune beim FBI beworben. Meinen Sie, es könnte mehr dahinter gesteckt haben?«

Web warf ihr einen kurzen Blick. »Sie meinen, ob ich Bulle geworden bin, weil mein leiblicher Vater ein Gauner war?«

Claire lächelte. »Sie machen das sehr gut.«

»Ich weiß nicht, warum ich noch am Leben bin, Claire«, sagte Web leise. »Eigentlich hätte ich gemeinsam mit meinem Team ins Gras beißen müssen. Das macht mich verrückt. Ich will nicht der einzige Überlebende sein.«

Claires Lächeln verschwand. »Das klingt wichtig. Lassen Sie uns darüber reden.«

Web rieb die Hände aneinander. Dann stand er auf und schaute aus dem Fenster. »Dieses Gespräch bleibt unter uns?«

»Ja«, sagte Claire. »Kein Wort wird nach außen dringen.«

Er setzte sich wieder. »Ich kam in diese Straße. Ich ging mit meiner Gruppe in den Einsatz, wir hatten das Ziel fast erreicht,

und dann... dann...« Er verstummte.

»Und dann konnte ich mich nicht mehr von der Stelle rühren, Scheiße! Ich war wie erstarrt. Ich weiß nicht, was auf einmal mit mir los war. Meine Leute gingen in den Hof, und ich konnte ihnen nicht folgen. Als ich mich endlich wieder bewegen konnte, fühlte es sich an, als würde ich tausend Pfund mit mir herumschleppen, als wären meine Füße in einen Betonblock gegossen worden. Dann stürzte ich, weil ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Ich kippte einfach um. Und dann...« Er hielt inne und legte eine Hand ans Gesicht, aber nicht an die verletzte Seite. Er drückte fest zu, als wollte er die Dinge zurückhalten, die aus seinem Kopf kommen wollten. »Und dann ging die Schießerei los. Und ich habe überlebt. Ich habe überlebt, aber sonst keiner aus meinem Team.«

Der Stift lag reglos in Claires Hand, während sie ihn ansah.

»Das ist völlig in Ordnung, Web. Sie müssen es rauslassen.«

»Das war es schon! Was könnte ich dem noch hinzufügen? Ich bin einfach weggetreten! Ich bin ein verdammter Feigling!«

Sie antwortete ihm in ruhigen und präzisen Worten. »Web, ich verstehe, dass es Ihnen sehr schwer fällt, darüber zu reden, aber ich möchte, dass sie noch einmal genau die Ereignisse durchgehen, bis zu dem Punkt, als Sie >erstarrten<, wie Sie es formulieren. So detailliert, wie Sie sich daran erinnern. Das könnte sehr wichtig sein.«

Web ging mit ihr die Details durch, angefangen vom Moment, als die Türen des Chevys aufsprangen, bis zum Punkt, als er handlungsunfähig geworden war, als er zusehen musste, wie seine Freunde starben. Anschließend fühlte er sich völlig taub, als hätte er nicht nur seine jämmerliche Geschichte, sondern auch seine Seele weggegeben.

»Es muss ein lähmendes Gefühl gewesen sein«, sagte sie. »Mich würde interessieren, ob Sie vorher irgendwelche Anzeichen bemerkt haben, bevor es Sie mit voller Wucht traf.

Eine plötzliche Veränderung der Pulsschlagfrequenz, schnellerer Atem, Angstgefühle, kalter Schweiß, trockener Mund.«

Web dachte darüber nach, während er im Geist noch einmal jeden Schritt durchging. Er setzte zu einem Kopfschütteln an und wollte die Frage verneinen, doch dann sagte er: »In der Straße war ein Kind.« Er wollte Claire Daniels nicht offenbaren, welche bedeutende Rolle Kevin Westbrook in diesem Fall spielte, aber es gab da etwas, das er ihr verraten konnte. »Als wir an ihm vorbeikamen, sagte der Junge etwas. Etwas sehr Merkwürdiges. Ich erinnere mich, dass er in gewisser Hinsicht wie ein alter Mann sprach. Man konnte ihm ansehen, dass das Leben nicht gerade freundlich zu ihm gewesen war.«

»Sie erinnern sich nicht, was er gesagt hat?«

Web schüttelte den Kopf. »Da muss ich leider passen, aber ich weiß, dass es etwas Unheimliches war.«

»Und das gab Ihnen ein merkwürdiges Gefühl, das nichts mit gewöhnlichem Mitleid zu tun hatte?«

»Hören Sie, Dr. Daniels...«

»Bitte nennen Sie mich Claire.«

»Okay, Claire. Ich will mich nicht zu einem Heiligen machen. Bei meiner Arbeit erlebe ich immer wieder die Hölle. Ich versuche, alles andere auszublenden, nicht daran zu denken, zum Beispiel an Kinder.«

»Es klingt, als wären Sie der Meinung, Sie könnten sonst Ihre Arbeit nicht erledigen.«

Web warf ihr einen knappen Blick zu. »Glauben Sie, dass so etwas mit mir passiert sein könnte? Dass ich den Jungen sah und in meinem Gehirn etwas aussetzte?«

»Das ist durchaus möglich, Web. Ein Schock, ein posttraumatisches Stresssyndrom, das einen Schwächeanfall auslöste, mit einer ganzen Reihe weiterer körperlicher Lähmungserscheinungen. So etwas geschieht häufiger, als man gemeinhin denkt. Ein Kampfeinsatz ist eine außerordentliche Stresssituation.«

»Aber es war noch gar nichts passiert. Niemand hatte einen einzigen Schuss abgegeben.«

»Sie sind schon seit vielen Jahren im Einsatz, Web. So etwas kann sich ansammeln, und die Auswirkung dieser Akkumulation kann sich im ungeeignetsten Moment und auf die unangenehmste Weise manifestieren. Sie sind nicht der Erste, der in einen Kampf zieht und plötzlich solche Symptome entwickelt.«

»Jedenfalls war es das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist«, sagte Web mit leichter Schroffheit. »Und mein Team hat genau dasselbe durchgemacht wie ich, und von ihnen ist keiner ausgerastet.«

»Auch wenn Ihnen so etwas zum ersten Mal zugestoßen ist, Web, müssen Sie verstehen, dass jeder von uns unterschiedlich reagiert. Sie können sich nicht mit allen anderen vergleichen. Damit werden Sie sich selbst nicht gerecht.«

Er zeigte mit einem Finger auf sie. »Ich werde Ihnen sagen, was gerecht ist. Es wäre gerecht gewesen, wenn ich in jener Nacht etwas hätte unternehmen können. Wenn ich etwas gesehen und die anderen gewarnt hätte. Dann wären sie vielleicht noch am Leben, und ich würde nicht hier herumsitzen und mit Ihnen darüber reden, warum sie nicht mehr am Leben sind.«

»Ich verstehe, dass Sie wütend sind und dass das Leben oft ungerecht ist. Sie haben zweifellos zahlreiche Beispiele dafür erlebt. Die Frage ist, wie Sie am besten mit dieser Tatsache umgehen.«

»Wie soll ich Ihrer Meinung nach mit so etwas umgehen? Ich kann mir nicht vorstellen, wie es noch schlimmer kommen könnte.«

»Ich glaube Ihnen, dass die Sache im Augenblick hoffnungslos erscheint, aber es wäre noch viel schlimmer, wenn Sie damit nicht zurechtkommen und Ihr Leben nicht fortsetzen können.«

»Mein Leben? Ja, richtig, es sieht tatsächlich so aus, als hätte ich noch ein Leben vor mir. Möchten Sie mit mir tauschen? Ich würde Ihnen ein supergünstiges Angebot machen.«

»Möchten Sie wieder für die Geiselrettung arbeiten?«, fragte sie unumwunden.

»Ja«, antwortete er prompt.

»Sind Sie sich sicher?«

»Ich bin mir absolut sicher.«

»Dann wäre das ein Ziel, auf das wir gemeinsam hinarbeiten könnten.«

Web strich mit der Hand an seinem Schenkel entlang und legte sie auf die Beule, unter der sich seine Pistole verbarg. »Halten Sie das wirklich für möglich? Ich meine, im HRT kann man sich keine Schwächen erlauben, dann ist man sofort draußen.« Draußen, ausgestoßen von der einzigen Gemeinschaft, in der er sich jemals richtig zu Hause gefühlt hatte.

»Wir können es versuchen, Web, mehr kann ich nicht versprechen. Aber auch ich bin in meinem Job ziemlich gut. Ich kann Ihnen versprechen, dass ich mein Bestmögliches tun werde, um Ihnen zu helfen. Sie müssen nur bereit sein, mit mir zu kooperieren.«

Er blickte sie an. »Okay, Sie haben den Job.«

»Gibt es in Ihrem derzeitigen Leben irgendwelche Dinge, die Sie sehr beunruhigen? Irgendwelche außergewöhnlichen Stressfaktoren?«

»Eigentlich nicht.«

»Sie erwähnten, dass Ihre Mutter vor kurzem starb.«

»Vor neun Monaten.« »Erzählen Sie mir von Ihrer Beziehung.«

»Ich hätte alles für sie getan.«

»Darf ich das so verstehen, dass Sie ihr sehr nahe standen?« Als Web ungewöhnlich lange mit der Antwort zögerte, sagte Claire: »Web, es ist sehr wichtig, dass Sie absolut ehrlich sind.«

»Sie hatte Probleme. Dass sie getrunken hat. Und es hat ihr überhaupt nicht gepasst, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene.«

Wieder wanderte Claires Blick dorthin, wo Webs Waffe unter der Jacke verborgen war. »Das ist nichts Ungewöhnliches für eine Mutter. Was Sie tun, ist wirklich sehr gefährlich.« Sie blickte ihm ins Gesicht und schlug sofort die Augen nieder. Web hatte es jedoch genau bemerkt.

»Kann sein«, sagte er gelassen und wandte die verletzte Gesichtshälfte von ihr ab. An diese Bewegung hatte er sich so sehr gewöhnt, dass er sie normalerweise gar nicht mehr bewusst wahrnahm.

»Etwas würde mich interessieren. Was haben Sie von ihr geerbt? Hat sie Ihnen irgendetwas hinterlassen, das Ihnen etwas bedeutet?«

»Sie hat mir das Haus vererbt. Das heißt, eigentlich hat sie mir nichts vererbt, weil sie kein Testament gemacht hat. Nach dem Gesetz bin ich der Erbe des Hauses.«

»Haben Sie vor, darin zu wohnen?«

»Niemals!«

Claire zuckte bei seinem schroffen Tonfall zusammen.

»Ich meine, ich habe schon ein Haus«, fügte er schnell sanfter hinzu. »Ich brauche ihres nicht.«

»Ich verstehe.« Claire notierte sich etwas, dann schien sie

gezielt das Thema zu wechseln. »Waren Sie schon mal verheiratet?«

Web schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht auf die

konventionelle Weise.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die anderen Männer in meinem Team hatten alle Familie. Dadurch hatte ich das Gefühl, gleich mehrere Frauen und Kinder zu haben.«

»Also standen Sie Ihren Kollegen sehr nahe?«

»In unserem Job neigt man dazu, einen engen Kontakt zu halten. Je besser man sich gegenseitig kennt, desto besser arbeitet man zusammen. Schließlich kommt es immer wieder vor, dass man sich gegenseitig das Leben retten muss. Außerdem waren es einfach tolle Kerle. Ich war gern mit ihnen zusammen.« Als er diesen Satz ausgesprochen hatte, kehrte das Feuer in seinen Eingeweiden zurück. Web sprang auf und ging zur Tür.

»Wohin wollen Sie?«, rief Claire ihm verblüfft nach. »Wir haben doch gerade erst angefangen. Es gibt noch vieles, über das wir reden sollten.«

Web blieb an der Tür stehen. »Heute habe ich genug geredet.«

Er ging hinaus, und Claire stand nicht auf, um ihm zu folgen. Sie legte nur Stift und Block nieder und starrte auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte.

 

KAPITEL 9

 

Auf dem Arlington National Cemetery lief Percy Bates vom Besucherzentrum des Friedhofs über den gepflasterten Weg zum Custis-Lee-Haus. Nachdem sich Robert E. Lee zu Beginn des Bürgerkrieges für seinen Geburtsstaat Virginia und die Führung der Konföderierten entschieden und ein ähnliches Angebot von der Stars-and-Stripes-Regierung abgelehnt hatte, rächten sich die Nordstaaten für diese Zurückweisung, indem sie Lees Haus konfiszierten. Eine Anekdote überlieferte, dass die LincolnRegierung dem General der Konföderierten während des Krieges angeboten hatte, das Grundstück zurückzugeben. Dazu müsse er nur zurückkommen und die Steuern der letzten Jahre nachzahlen. Persönlich. Lee hatte Lincoln natürlich nie geantwortet, und so war sein Grundstück zum prestigeträchtigsten Nationalfriedhof des Landes geworden. Über diesen geschichtlichen Hintergrund hatte der in Michigan geborene Bates immer wieder still lächeln müssen, obwohl das Gebäude heutzutage eine Art Denkmal für Lee und allgemein als Arlington House bekannt war.

Bates erreichte das Haus und genoss das, was viele für den schönsten Ausblick auf Washington und vielleicht sogar des ganzen Landes hielten. Hier lag einem die gesamte Hauptstadt zu Füßen. Bates fragte sich, ob Bobby Lee es genauso empfunden hatte, wenn er morgens aufgestanden und aus dem Fenster geschaut hatte.

Der Friedhof hatte eine Ausdehnung von fast dreißig Hektar und wurde von gleichförmigen, einfachen weißen Grabsteinen dominiert. Es gab auch einige sehr kunstvoll gestaltete Grabmäler, doch was den meisten Besuchern im Gedächtnis blieb, war das Meer aus weißen Grabsteinen, die aus der richtigen Perspektive sogar im Sommer die Illusion einer

Schneelandschaft erzeugten. Arlington war die letzte Ruhestätte für amerikanische Soldaten, die im Kampf für ihr Vaterland gefallen waren. Hier lagen Fünf-Sterne-Generäle, ein ermordeter Präsident, sieben Richter des Obersten Gerichts, Entdecker, berühmte Vertreter von Minderheiten und viele andere, die sich durch ihr Leben und Sterben das Recht erworben hatten, auf diesem Nationalfriedhof beigesetzt zu werden. Weit über zweihunderttausend Menschen waren hier begraben, und die Zahl erhöhte sich an jedem Wochentag um achtzehn.

Bates war schon viele Male hier gewesen, unter anderem, wenn er an der Bestattung von Freunden und Kollegen teilgenommen oder Besucher seiner Familie herumgeführt hatte. Eine besondere Sehenswürdigkeit war die Wachablösung der Dritten Infanterie, die rund um die Uhr Wache an den Gräbern der unbekannten Soldaten hielten. Bates sah auf die Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er rechtzeitig da sein.

Als er sich den Gräbern näherte, sah Bates, dass sich bereits eine kleine Menge versammelt hatte, hauptsächlich Touristen mit Kameras und Kindern. Der wachhabende Soldat führte das Ritual mit peinlicher Genauigkeit durch. Er marschierte einundzwanzig Schritte, machte eine Pause von einundzwanzig Sekunden, dann legte er das Gewehr an die andere Schulter und marschierte auf dem schmalen Weg zurück.

Bates hatte sich häufig gefragt, ob die Gewehre der Wachen überhaupt geladen waren. Andererseits war er fest davon überzeugt, dass jeder, der es wagen sollte, eins der Gräber zu plündern oder zu schänden, eine schnelle und schmerzhafte Reaktion zu erwarten hatte. Für das Militär war dies so ziemlich der heiligste Boden im gesamten Land.

Als die Wachablösung begann und die Menge ihre Kameras bereitmachte, schaute Bates nach links und schob sich dann zwischen den Touristen hindurch zur Treppe. Die Wachablösung war eine komplizierte Zeremonie, die einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Dieses Spektakel zog fast jeden auf

dem Friedhof in seinen Bann, nur nicht Percy Bates.

Er ging um das große Amphitheater des Denkmals herum, das direkt neben dem Bereich mit den Gräbern lag. Bates marschierte weiter, überquerte den Memorial Drive und näherte sich dem Challenger Space Shuttle Memorial. Dann kehrte er um und betrat das Amphitheater. Er stieg die Stufen zur Bühne hinunter, die mit großen Säulen, Giebeln und Balustraden ausgeschmückt war. Dort blieb er vor einer Wand stehen, zog eine Karte des Friedhofs aus der Tasche und studierte sie.

Der Mann hatte sich gut versteckt, sodass weder Bates noch sonst jemand ihn auf den ersten Blick sehen konnte. Er trug eine Pistole im Gürtelholster und hatte eine Hand auf den Griff gelegt, während er sich Bates näherte. Er hatte ihn fast die gesamte Zeit, die er sich auf dem Friedhof aufhielt, beschattet, um sich zu vergewissern, dass der FBI-Agent allein war. Er kam näher.

»Hätte nicht gedacht, dass Sie sich blicken lassen, bevor Sie mir da drüben das Zeichen gaben«, sagte Bates. Die Karte verbarg sein Gesicht vor jedem eventuellen Beobachter.

»Ich wollte mich zuerst überzeugen, ob die Luft rein ist«, sagte Randall Cove. Er blieb hinter einem Teil der Wand in Deckung.

»Ich habe darauf geachtet, dass mir keiner folgt.«

»Ganz gleich, was wir können - irgendwer da draußen kann es bestimmt besser als wir.«

»Ich sehe mich nicht in der Lage, dem zu widersprechen. Wie kommt es, dass Sie sich ständig Friedhöfe als Treffpunkt aussuchen?«

»Ich mag es friedlich und ruhig. So etwas finde ich anderswo kaum noch.« Cove hielt inne, dann sagte er: »Man hat mich reingelegt.«

»Das habe ich mir schon gedacht. Aber jetzt sind sechs meiner Männer tot, und der siebte ist nicht mehr als ein wandelndes Fragezeichen. Wurden Sie enttarnt? Hat man Sie nicht getötet, weil man Ihnen Falschinformationen zukommen lassen wollte, um der Geiselrettung eins auszuwischen? Ich brauche unbedingt Einzelheiten, Randy.«

»Ich war selbst in diesem verdammten Gebäude. Ich habe mich als potenzieller Kunde ausgegeben und wollte mir das Geschäft ansehen. Es war alles da - Schreibtische, Akten, Computer, Typen, die sich über Zahlen, Preise, Gewinne unterhalten haben, die ganze Palette. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Andernfalls hätte ich Sie nie alarmiert. Schließlich bin ich kein Anfänger.«

»Das weiß ich. Aber als wir ins Gebäude eindrangen, war nichts mehr da. Außer acht zerstörten Maschinengewehren.«

»Zerstört, richtig. Erzählen Sie mir mehr über Web London. Vertrauen Sie ihm?«

»Genauso wie jedem anderen.«

»Was hat er gesagt? Warum ist er immer noch von der Rolle?«

»Ich glaube nicht, dass er es weiß. Er sagt, er ist einfach erstarrt.«

»Dann hat der Kerl ein verdammt gutes Timing.«

»Er hat die MGs ausgeschaltet. Und einem Kind das Leben gerettet.«

»Das ist wirklich ein ganz besonderer Junge. Kevin Westbrook! Der Bruder von...«

»Ich weiß Bescheid.«

»Hören Sie, wir haben die Jagd auf Westbrook eröffnet, weil die hohen Tiere der Meinung waren, es sei an der Zeit, ihn fertig zu machen, damit sie wieder mal etwas vorweisen können. Aber je mehr ich mich mit ihm beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass er nur ein kleiner Fisch ist, Perce. Er verdient gutes

Geld, aber er ist keiner der ganz Großen. Er schickt keine Exekutionskommandos los, sondern verhält sich nach Möglichkeit unauffällig.«

»Aber wen sollen wir uns stattdessen schnappen?«

»In dieser Stadt gibt es etwa acht wichtige Straßendealer, und Westbrook ist nur einer von ihnen. Alle zusammen verkaufen sie vielleicht eine Tonne Stoff. Wenn Sie diesen Umsatz multiplizieren, bis Sie jede größere Stadt von hier bis New York und südlich bis Atlanta abgedeckt haben, haben Sie eine ungefähre Ahnung, was ein großer Fisch ist.«

»Was? Sie wollen sagen, nur eine Gruppe kontrolliert den gesamten Handel in diesem Gebiet? Das ist unmöglich.«

»Nein, ich will damit sagen, dass es meiner Ansicht nach eine Gruppe ist, die den Handel mit Oxycodon an der gesamten Ostküste kontrolliert.«

»Oxycodon, das verschreibungspflichtige Medikament?«

»Richtig. Sie bezeichnen es als Hillbilly-Heroin, weil das illegale Geschäft in ländlichen Gebieten begonnen hat. Aber jetzt wandert es in die Städte, wo die richtig dicke Kohle zu machen ist. Die Hinterwäldler in den Bergen haben nicht so viel Geld wie die Großstädter. Es ist synthetisches Morphium, gegen chronische Schmerzen oder für die unheilbar Kranken. Die Junkies zerkleinern die Tabletten, um es zu schnupfen, zu rauchen oder zu spritzen. Dann gehen sie ungefähr genauso ab wie mit Heroin.«

»Ja, nur dass das Medikament den Wirkstoff nach und nach freisetzt. Wenn man sich eine ganze Tablette auf diese Weise reinzieht und die Retardwirkung ausschaltet, könnte man sich damit sehr schnell umbringen.«

»Bisher hat es etwa einhundert Tote gegeben. Oxy ist nicht so stark wie Heroin, aber es knallt doppelt so heftig rein wie Morphium. Und es ist ein legales Medikament, weswegen manche Leute zu glauben scheinen, dass selbst der Missbrauch ungefährlich ist. Es gibt sogar alte Leute, die auf der Straße eine Tablette verkaufen, um die Verschreibungskosten wieder reinzukriegen, weil sie nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Oder man bringt die Ärzte dazu, falsche Rezepte auszustellen, oder man bricht in Apotheken oder die Wohnungen von Leuten ein, die es einnehmen.«

»Schlimme Sache«, sagte Bates.

»Deshalb haben das FBI und die DEA eine gemeinsame Spezialeinheit zusammengestellt. Okay, es geht nicht nur um Oxy, man bekommt auch ältere Mittel wie Percocet und Percodan. Auf der Straße werden >Perks< heutzutage für zehn bis fünfzehn Dollar das Stück angeboten. Aber man muss schon sechzehn Tabletten Percocet nehmen, um genauso high zu werden wie von einer Achtzig-Milligramm- Tablette Oxy.«

Während des Gesprächs hatte sich Bates mehrere Male unauffällig umgesehen, aber es war niemand in der Nähe, der sich verdächtig verhielt. Cove hatte in der Tat einen guten Treffpunkt ausgesucht. Da Bates an einer schwer einsehbaren Stelle mit einer Karte vor dem Gesicht an einer Wand stand, musste er den Eindruck eines Touristen erwecken, der sich einfach nur verlaufen hatte.

»Die Regierung überwacht die Verteilung verschreibungspflichtiger Narkotika«, sagte Bates. »Und wenn ein Arzt und eine Apotheke Unmengen desselben Mittels abgeben, klingeln gleich mehrere Alarmglocken auf einmal. Andererseits muss man sich nicht mit dem Problem herumärgern, wie man das Zeug über die Grenze schafft.«

»Richtig.«

»Wie kommt es, dass ich nichts davon weiß, dass Oxy bei dieser Sache eine große Rolle spielt, Randy?«

»Weil ich erst vor kurzem darauf gestoßen bin. Ich hatte keine Ahnung, dass ich es mit Oxy-Dealern zu tun hatte, als ich in diese Sache eingestiegen bin. Ich dachte, es wäre ein ganz normales Feld-, Wald- und Wiesengeschäft mit Koks und Heroin. Aber dann habe ich ungewöhnliche Dinge gesehen und gehört. Der größte Teil der Drogen scheint aus kleinen Nestern in den Appalachen zu kommen. Über einen längeren Zeitraum waren es offenbar nur Familiengeschäfte, hauptsächlich von Leuten, die selbst von dem Zeug abhängig waren. Aber ich habe den deutlichen Eindruck, dass es da draußen eine große Kraft gibt, die alles zusammenführt und in die großen Städte leitet. Und das ist der nächste Schritt. Irgendwer hat begriffen, dass hier die ganz großen Fleischtöpfe locken, zumindest in dieser Gegend. Man muss nur die Infrastruktur eines gewöhnlichen Drogenkartells aufbauen, aber dann kann man das Dreifache des Gewinns abschöpfen und hat obendrein ein viel geringeres Risiko. Das sind die Leute, die wir haben wollen. Und ich bin davon ausgegangen, dass genau diese Leute in dem Gebäude sitzen, das die Geiselrettung stürmen sollte. Ich dachte, wir könnten sie in die Knie zwingen, wenn wir uns die Erbsenzähler schnappen. Und es machte ja auch Sinn, die finanzielle Clearingstelle in einer großen Stadt zu verstecken.«

»Weil so etwas in einer ländlichen Gegend zu sehr auffallen würde«, vervollständigte Bates den Gedanken.

»Völlig richtig. Und der Anreiz ist enorm. Stellen Sie sich mal vor, Sie würden darauf hinarbeiten, eine Million Tabletten pro Woche mit einem Verkaufswert von einhundert Millionen Dollar umzusetzen. Sie verstehen, was ich damit sagen will.«

»Aber wer so ein Geschäft in die Wege leiten will, hätte kein Motiv, eine HRT-Einheit auszulöschen. Damit würde man sich nur Ärger machen, den man gar nicht gebrauchen könnte. Warum sollten diese Leute so etwas tun?«

»Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Transaktionen in diesem Gebäude nichts mit Westbrook zu tun hatten. Das war für ihn alles eine Nummer zu groß. Wenn ich geglaubt hätte, dass Westbrook dahinter steckt, hätte ich davon abgeraten, die Geiselrettung einzusetzen. Wir hätten einen kleinen Fisch geschnappt, aber der große wäre uns einfach davongeschwommen. Ich schätze, Westbrook vertreibt das Zeug in D.C., genauso wie die anderen Gruppen. Aber dafür habe ich keine Beweise. Der Kerl ist schlau und weiß, wie weit er gehen kann.«

»Ja, aber Sie haben Kontakt zu jemandem aus seiner Gruppe. Das ist doch ein Ansatzpunkt.«

»Stimmt. Aber wer heute plaudert, ist morgen kalt. Zumindest in meinem Metier.«

»Also hat uns jemand eine große Broadway-Show vorgesetzt und im Lagerhaus ein florierendes Drogengeschäft inszeniert. Können Sie mir das näher erklären?«

»Nein. Nachdem ich die Informationen an Sie weitergegeben habe und die Einsatzplanung anlief, wurde der alte Randall Cove nicht mehr gebraucht. Ich glaube, ich habe richtiges Glück, dass ich noch am Leben bin, Perce. Ich frage mich sogar, ob es mit rechten Dingen zugeht, dass ich noch am Leben bin.«

»Genauso wie Web London. Ich schätze, nach einem Massaker stellen sich viele Leute solche und ähnliche Fragen.«

»Nein, ich meine, dass jemand nach dem HRT-Einsatz versucht hat, mich abzuservieren. Das hat mich meinen Bucar und ein paar angeknackste Rippen gekostet.«

»Mein Gott, warum haben Sie uns nichts davon gesagt? Sie müssen sich zurückmelden, Randy. Einen vollständigen Bericht abliefern, damit wir uns ein besseres Bild machen können.«

Wieder blickte sich Bates um. Das Gespräch dauerte schon viel zu lange. Bald würde er sich wieder in Bewegung setzen müssen. Er konnte nicht ewig auf den Plan des Friedhofs starren, ohne Verdacht zu erregen. Aber er wollte nicht ohne Randall Cove gehen.

»Das werde ich auf gar keinen Fall tun, Perce«, erwiderte Cove in einem Tonfall, der Bates veranlasste, die Karte sinken zu lassen. »Weil ich nämlich keine Lust habe, mich mitten in die Scheiße zu setzen.«

»Was genau wollen Sie damit sagen?«, fragte Bates mit belegter Stimme.

»Ich sage, dass diese Scheiße von innen kommt, und ich werde mich niemandem ausliefern, solange ich nicht weiß, wer welches Spiel spielt.«

»Wir sind das FBI, Randy, nicht der KGB.«

»Vielleicht für Sie, Perce. Sie waren immer mittendrin. Ich dagegen bin so weit draußen, wie man nur sein kann. Wenn ich mich jetzt zurückmelde, ohne zu wissen, was wirklich los ist, könnte es sein, dass ich plötzlich spurlos verschwinde. Ich weiß, dass viele von Ihnen glauben, ich wäre schuld an dem, was mit der Geiselrettung passiert ist.«

»Das ist verrückt.«

»Verrückter als sechs tote HRT-Leute? Wie konnte so eine Aktion ohne Insider-Informationen durchgezogen werden?«

»Solche Rückschläge müssen wir gelegentlich einstecken.«

»Gut, Sie wollen mir also erzählen, Sie hätten nichts davon bemerkt, dass seit einiger Zeit überall der Putz von der Decke rieselt? Letztes Jahr sind mehrere Einsätze geplatzt, und zwei Undercover-Agenten wurden getötet. Das FBI ist mehrmals angerückt, hat aber niemand en vorgefunden, der sich verhaften lassen wollte. Mehrere Drogennester sollten ausgehoben werden, aber dann wurden die Dealer rechtzeitig gewarnt. Ich glaube, irgendwo im FBI sitzt eine fette, stinkende Ratte, die eine Menge Leute über den Jordan schickt, und mich hat sie auch auf dem Kieker!«

»Kommen Sie mir nicht mit Verschwörungstheorien, Randy.«

Cove beruhigte sich ein wenig. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich nicht für das Debakel verantwortlich bin. Sie haben mein Wort. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht bieten.

Ich hoffe, dass ich zu einem späteren Zeitpunkt mehr habe.«

»Also haben Sie eine Spur?«, sagte Bates schnell. »Hören Sie, Randy, ich glaube Ihnen. Aber es gibt Leute, vor denen ich mich verantworten muss. Ich verstehe Ihre Sorgen. Es sind eine ganze Menge unangenehmer Dinge passiert, und wir bemühen uns herauszufinden, wie es dazu gekommen ist. Aber Sie müssen auch Verständnis für meine Sorgen haben.« Er machte eine Pause. »Verdammt noch mal, ich tue alles für Sie, wenn Sie sich jetzt zurückmelden. Ich werde Sie hüten wie meinen Augapfel, okay? Ich hoffe, dass Sie mir noch vertrauen können, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben. Ich habe Sie schon einmal aus der Scheiße geholt.« Von Cove kam keine Antwort. »Randy, sagen Sie mir, was ich für Sie tun soll, damit Sie zurückkommen, dann sehe ich zu, was ich für Sie tun kann.«

Immer noch keine Antwort. Bates fluchte leise und trat zur Seite, um einen Blick hinter die Wand zu werfen. Er sah eine Tür, die auf die andere Seite führte. Er ging hin und stellte fest, dass sie abgeschlossen war. Er lief den Bogen des Amphitheaters entlang ins Freie. Die Wachablösung war vorbei, und die Menschenmenge verteilte sich über die Gehwege und das Friedhofsgelände. Obwohl Bates überall suchte, wusste er, dass Cove ihm entwischt war. Trotz seiner beeindruckenden Körpergröße hatte Cove in langjähriger Ausbildung und Praxis gelernt, sich vor jedem beliebigen Hintergrund unsichtbar zu machen. Vielleicht hatte er sich als Gärtner oder Tourist getarnt. Bates warf die Karte in einen Abfallkorb und trottete davon.

 

KAPITEL 10

 

Die Wohngegend, durch die Web fuhr, unterschied sich kaum von den meisten in der Umgebung. Schlichte schachtelförmige Häuser aus der Nachkriegszeit mit Vordächern und Kieswegen. Die Vorgärten waren winzig, aber hinter den Häusern gab es einzeln stehende Garagen und geschützte Grillplätze, und Apfelbäume mit gespaltenen Stämmen spendeten Schatten. Dies war das Land der Arbeiterfamilien, die noch stolz auf ihre Häuser waren und nicht selbstverständlich davon ausgingen, dass ihre Kinder das College besuchen würden. Heute bastelten die Männer in kühlen Garagen an alten Autos, die Frauen trafen sich auf Verandatreppen, um Kaffee zu trinken, Zigaretten zu rauchen und zu tratschen. Das alles wurde von einer Sonne beschienen, die für diese Jahreszeit ungewöhnlich heiß brannte und an einem Himmel stand, der sich endlich von den Spuren des letzten Gewitters geklärt hatte. Kinder in Shorts und Tennisschuhen flitzten mit Tretrollern die Straße entlang, die tatsächlich von reiner Körperkraft angetrieben wurden.

Web hielt vor Paul Romanos Haus. Paulie, wie er von allen genannt wurde, arbeitete unter der Haube einer alten Corvette Stingray, die sein ganzer Stolz war. Seine Frau und die Kinder spielten ein Stück weiter hinten. Paul Romano stammte ursprünglich aus Brooklyn und war der Typ Mann, der keine Angst hatte, sich die Finger schmutzig zu machen. Also passte er bestens in eine solche Wohngegend, in der sich Schlosser, Elektriker, Lastwagenfahrer und ähnliche Berufe konzentrierten. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Romano einen Menschen auf hundert verschiedene Arten töten konnte, wenn es Not tat. Paul Romano war ein Mann, der mit seinen Waffen sprach, der ihnen Namen gab, wie andere Leute es mit Haustieren machten. Seine MP-5 hieß Freddy, nach Freddy

Krueger aus Nightmare on Elm Street, und seine beiden 45er hießen Cuff und Link, nach den Schildkröten aus dem Film Rocky. Ja, es war kaum zu glauben, aber Paul Romano aus Brooklyn war ein großer Fan von Sly Stallone - auch wenn er sich ständig beklagte, dass dieser »verdammte Rambo nicht mehr als ein Warmduscher« war.

Romano blickte überrascht hoch, als Web auf ihn zukam und in den Motorraum der nassaublauen Corvette mit dem weißen aufklappbaren Verdeck lugte. Web wusste, dass der Wagen aus dem Jahr 1966 stammte und dass dieses Baujahr erstmals mit dem berühmten 427-Kubikzoll-Motor ausgestattet worden war, der eine Leistung von 450 PS brachte - weil Romano es ihm und allen anderen Leuten von der Geiselrettung mindestens tausend Mal erzählt hatte. »Mit handgeschaltetem Vierganggetriebe. Höchstgeschwindigkeit einhundertfünfundsechzig Meilen. Damit fegst du alles von der Straße«, hatte er so oft gesagt, bis Web es nicht mehr hören konnte. »Polizeistraßenkreuzer, stinkende Familienkutschen, verdammt, sämtliche Fließbandmodelle, die die langsamen Spuren verstopfen.«

 

Web hatte sich oft gefragt, wie es wohl gewesen wäre, als Kind mit Schraubenschlüsseln zu hantieren und zusammen mit seinem Dad Autos zu zerlegen. Alles über Vergaser, Sport und Frauen zu lernen - all die Dinge, die das Leben lebenswert machten. Zum Beispiel: Was soll ich sagen, Dad? Da sitzt sie also neben mir, und ich frage mich, soll ich meinen Arm um sie legen und es vielleicht sogar wagen, meine Hand da hinzulegen? Ja, genau da. Was meinst du? Du warst doch auch mal jung, nicht wahr? Erzähl mir nicht, du hättest nie über solche Sachen nachgedacht! Schließlich steh ich hier neben dir! Und wann sollte ich versuchen, sie zu küssen? Wo drauf muss ich achten? Dad, du wirst es nicht glauben, aber ich versteh diese blöden Weiber nicht. Wird es einfacher mit ihnen, wenn sie älter werden? Und sein Alter würde mit einem wissenden Zwinkern lächeln, einen Schluck Bier nehmen, nachdenklich an seiner Marlboro ziehen, sich setzen, die Hände an einem schmutzigen Lappen abwischen und sagen: Okay, Junior. Hör mir genau zu. Ich werde es dir erklären, und du solltest es dir lieber aufschreiben, denn jetzt kommt das Evangelium, mein Sohn. Web starrte in den Brustkorb der Corvette und fragte sich, wie ein solches Gespräch ablaufen würde.

 

Romano warf Web einen Blick zu und sagte nichts davon, dass der 450-PS-Motor stinkende Familienkutschen und langsame Fließbandmodelle von der Straße fegen konnte. Er sagte nur: »Bier ist in der Kühlbox. Nimm dir eine Dose. Macht 'n Dollar.«

Web griff in den kleinen Coleman zu seinen Füßen und machte sich ein Budweiser auf, doch ohne eine Dollarnote als Bezahlung hineinzulegen. »Weißt du, Paulie, Bud ist nicht alles. Es gibt da ein paar scharfe südamerikanische Biere, die du unbedingt probieren solltest.«

»Bei meinem Lausegehalt?«

»Wir verdienen dasselbe.«

»Ich habe Frau und Kinder, du hast gut reden.«

Romano setzte noch ein paar Mal den Schraubenzieher an, dann ging er an Web vorbei und startete den Motor. Das Geräusch klang so mächtig, als wollte die Maschine aus dem Metallgehäuse springen, das sie zusammenhielt.

»Schnurrt wie ein Kätzchen«, sagte Web und nahm einen Schluck Bier.

»Wie ein Tiger!«

»Können wir reden? Ich habe ein paar Fragen.«

»Du genauso wie jeder andere. Klar, schieß los. Ich hab alle Zeit der Welt. Was sollte ich sonst mit meinem freien Tag anfangen? Mich amüsieren? Also, was brauchst du? Eine Ballettstrumpfhose? Ich werd mal meine Frau fragen.«

»Ich bin dir dankbar, dass du nicht versuchst, mich vor allen

anderen in Quantico fertig zu machen.«

»Und ich bin dir dankbar, dass du mich nicht anquatschst. Wo wir gerade dabei sind - verpiss dich von meinem Grundstück. Ich stelle gewisse Mindestanforderungen an die Leute, mit denen ich verkehre.«

»Lass uns einfach miteinander reden, Paulie. Das bist du mir schuldig.«

Romano zeigte mit dem Schraubenschlüssel auf ihn. »Ich bin dir gar nichts schuldig, London.«

»Ich denke, nach acht Jahren in diesem Job sind wir beide uns mehr schuldig, als wir jemals abtragen können.«

Die Männer starrten sich eine Weile an, bis Romano den Schraubenschlüssel weglegte, sich die Hände abwischte, den Tiger abstellte und hinter das Haus ging. Web verstand es als Aufforderung, ihm zu folgen. Doch gleichzeitig ging ihm die Möglichkeit durch den Kopf, dass Romano vielleicht nur einen größeren Schraubenschlüssel holen wollte, um damit auf ihn einzuschlagen.

Der Garten hinter dem Haus bestand aus einem gemähten Rasen und gestutzten Bäumen. Ein üppiger Rosenstrauch quoll hinter einer Ecke der Garage hervor. Die Temperatur musste bei mindestens 25 Grad in der Sonne liegen, was sich nach dem vielen Regen gut anfühlte. Sie holten sich zwei Gartenstühle und setzten sich. Web beobachtete, wie Romanos Frau Angie Wäsche zum Trocknen auf einer Leine aufhing. Sie stammte ursprünglich aus Mississippi. Die Romanos hatten zwei Kinder, beides Jungen. Angie war zierlich und immer noch gut gebaut. Sie hatte langes blondes Haar, betörende grüne Augen und einen gierigen, fordernden Blick. Sie war ständig am Flirten, sie berührte jeden am Arm, streifte mit dem Fuß ein Bein und sagte, dass sie einen sympathisch fand, aber es war nur ein Spiel. Romano machte es manchmal verrückt, doch Web wusste, dass er es in Wirklichkeit genoss, wenn andere Männer seine Frau attraktiv fanden. Das war einfach ein Teil von Romanos Persönlichkeit. Aber wenn Angie Romano wütend wurde, sollte man sich in Acht nehmen. Web hatte diese Seite von ihr bei einigen Treffen der HRT-Angehörigen miterlebt. Die kleine Frau konnte zu einer Löwin auf Speed werden. Männer, die mit beiden Beinen im Leben standen und täglich mit schweren Waffen hantierten, gingen in Deckung, wenn Angie das Kriegsbeil ausgrub.

Paul Romano war Kämpfer im Hotel- Team, aber er und Web waren zur gleichen Zeit zur Geiselrettung gekommen und etwa drei Jahre lang ein Scharfschützenteam gewesen. Romano war von den Deltas zum FBI übergewechselt. Obwohl er wie Web gebaut war, der ebenfalls keine ausgeprägten Muskeln besaß, waren die Muskeln, die er besaß, kräftig wie Stahlseile. Und sein Motor gab niemals den Geist auf. Ganz gleich, was man ihm in den Weg legte, er kämpfte sich unaufhaltsam hindurch. Während eines nächtlichen Überfalls auf die Festung eines karibischen Drogenbosses war Romano zu weit vom Ufer entfernt vom Boot abgesetzt worden, und der Kerl war mit sechzig Pfund Ausrüstung am Leib in fünf Meter tiefes Wasser gestürzt. Statt wie jeder andere einfach zu ertrinken, hatte er vier Minuten lang den Atem angehalten, war zum Ufer gelaufen und hatte sich am Angriff beteiligt. Weil es in der Kommunikation ein Missverständnis gegeben hatte und sich die Zielperson nicht genau dort befunden hatte, wo man sie erwartete, war es schließlich sogar Romano gewesen, der zuerst zwei Leibwächter getötet und den Oberboss festgesetzt hatte. Und das Einzige, worüber sich Romano anschließend aufgeregt hatte, war die Tatsache, dass seine Haare nass geworden waren und er seine Pistole namens Cuff verloren hatte.

Romano war fast am ganzen Körper tätowiert, mit Drachen, Messern und Schlangen und dem niedlichen Schriftzug ANGIE in einem Herz auf seinem linken Bizeps. Web war bereits am allerersten Tag der HRT-Auswahlklasse jenes Jahres an Romano geraten, als die meisten der Bewerber nackt und eingeschüchtert auf die kommenden Schrecken warteten. Web hatte die anderen Männer überprüft, nach Narben auf Knien oder Schultern Ausschau gehalten, die auf körperliche Schwächen hinwiesen, oder in den Gesichtern nach Anzeichen für mentale Erschöpfung gesucht. Es war Darwinismus in Reinkultur gewesen, und Web hatte auf alles geachtet, was ihm Pluspunkte bei diesem Wettkampf einbringen würde. Er hatte gewusst, dass nur die Hälfte der Männer die ersten Prüfungen überstehen würden, die zwei Wochen später stattfanden, und von diesen würde nur einer unter zehn das Angebot erhalten, noch einmal zurückzukehren und sich dieses Mal wirklich umzubringen.

Romano war vorher im SWAT-Team des FBI von New York City gewesen, wo er den Ruf erworben hatte, ein besonders harter Kerl in einer Gruppe harter Kerle zu sein. Es schien ihn nicht im Geringsten einzuschüchtern, am ersten Tag der HRT- Aufnahmeprüfungen gemeinsam mit siebzig anderen nackten Männern in einem Raum zu stehen. Auf Web hatte er den Eindruck eines Mannes gemacht, der Schmerzen liebte, der es gar nicht erwarten konnte, dass das HRT ihm den Hintern versohlte. Und genauso problemlos konnte er anderen Leuten Schmerzen zufügen. Damals war sich Web selbst noch gar nicht sicher gewesen, ob er die Anforderungen der Geiselrettung erfüllen würde, aber er hatte von Anfang an gewusst, dass Paul Romano es schaffen würde. Die beiden hatten stets besonders intensiv miteinander konkurriert, und Romano trieb Web regelmäßig in den Wahnsinn, aber Web hatte immer die Fähigkeiten und den Mut des Mannes bewundert.

»Du wolltest reden, also rede«, sagte Romano.

»Kevin Westbrook. Der Junge auf der Straße.«

Romano nickte seinem Bier zu. »Okay.«

»Er ist verschwunden.«

»Was du nicht sagst!«

»Kennst du Bates? Percy Bates?«

»Nein. Sollte ich?«

»Er leitet die Ermittlungen des WFO. Ken McCarthy sagte, du und Mickey Cortez, ihr hättet euch um den Jungen gekümmert. Was kannst du mir darüber erzählen?«

»Nicht viel.«

»Was hat der Junge gesagt?«

»Nichts.«

»An wen habt ihr ihn abgegeben?«

»Anzugträger.«

»Kennst du ihre Namen?«

Kopfschütteln.

»Paulie, kennst du den Unterschied zwischen einem Gespräch mit dir und mit einer Wand?«

»Sag's mir.«

»Es gibt keinen.«

»Was erwartest du von mir, Web? Ich habe den Jungen gesehen, ich habe auf ihn aufgepasst, und dann war ich ihn wieder los.«

»Heißt das, er hat kein einziges Wort mit dir gesprochen?«

»Er war ziemlich maulfaul. Er hat uns seinen Namen und seine Adresse genannt. Wir haben beides aufgeschrieben. Mickey hat versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, aber er hat nichts mehr aus ihm rausgekriegt. Was hätten wir auch sagen sollen? Verdammt, wir wussten ja nicht mal, welche Rolle der Junge bei dieser Sache spielte. Ich meine, wir stürmen los, Richtung Hinterhof, dann sehen wir deine Leuchtkugel und halten an. Dann taucht dieser Typ vor uns aus dem Dunkeln auf und hat deine Mütze und eine Nachricht von dir dabei. Ich war mir nicht sicher, ob er auf unserer Seite steht oder nicht. Ich wollte keinen Mist verzapfen, indem ich ihn Sachen frage, die ich ihn gar nicht fragen darf.«

»Okay, dagegen ist nichts zu sagen. Aber dann hast du ihn ohne ein weiteres Wort an die Anzugträger weitergegeben? Wie soll ich mir das vorstellen?«

»Sie haben ihre Ausweise gezeigt, gesagt, sie wären wegen des Jungen hier, und das war's. Warum hätten wir uns weigern sollen? Das HRT führt keine Ermittlungen durch, Web. Wir schnappen uns die Leute, tot oder lebendig, mehr nicht. Die Anzugträger stellen die Fragen. Außerdem gingen mir ganz andere Sachen durch den Kopf. Du weißt, dass Teddy Riner und ich zusammen bei den Deltas waren.«

»Ich weiß, Paulie. Wie spät war es, als die Anzugträger aufkreuzten?«

Romano dachte kurz nach. »Es war nicht sehr viel später. Es war immer noch dunkel. Vielleicht halb drei oder so.«

»Ziemlich schnell für das WFO, um zu reagieren und Leute zu schicken, die den Jungen abholen sollen.«

»Was, meinst du, hätt ich denn sagen sollen? He, Leute, ihr könnt den Jungen nicht haben, weil ihr viel zu schnell gekommen seid. So arbeitet das FBI normalerweise nicht. Damit hätte ich einen gewaltigen Karrieresprung gemacht! Und ich fühl mich noch zu jung für die Rente.«

»Kannst du mir eine Beschreibung der Leute geben?«

Romano dachte nach. »Danach haben mich die Agenten auch schon gefragt.«

»Eine andere Gruppe von Anzugträgern. Erzähl es mir. Ich werde dich nicht umbringen. Du kannst mir vertrauen.«

»Richtig. Wenn ich so blöd wäre, hättest du nicht an der Brücke angehalten und versucht, mir Brooklyn zu verkaufen.«

»Komm schon, Paulie, von Kämpfer zu Kämpfer. Von Hotel zu dem, was noch von Charlie übrig ist.«

Wieder dachte Romano eine Weile nach, dann räusperte er sich. »Einer von ihnen war ein Weißer. Etwas kleiner als ich, mager und drahtig. Zufrieden?«

»Nein. Haarfarbe?«

»Kurz und blond. Ein Fed eben - wie könnte er sonst aussehen? Glaubst du, J. Edgar Hoover ist mit einem Pferdeschwanz rumgelaufen?«

»Höchstens nach Feierabend. Komm, weiter: Jung, alt, mittelalt?«

»In den Dreißigern. Trug einen Standard-FBI-Anzug, vielleicht sogar noch einen Tick schicker. Jedenfalls schicker als alles, was du im Kleiderschrank hast, London.«

»Augen?«

»Er hatte eine Sonnenbrille auf.«

»Morgens um halb drei?«

»Vielleicht muss er aus medizinischen Gründen eine Brille mit getönten Gläsern tragen. Entschuldige, dass ich ihn nicht danach gefragt habe.«

»An all das erinnerst du dich, aber nicht an den Namen des Kerls?«

»Er zückte seinen Ausweis, und damit war die Sache für mich erledigt. Ich befand mich unmittelbar am Schauplatz eines Verbrechens, wo überall Leute herumrannten und sechs unserer Leute mit zerschossenen Köpfen herumlagen. Er kam, um den Jungen abzuholen, und hat ihn mitgenommen. Er hat einfach nur seine Arbeit gemacht. Verdammt, wahrscheinlich hat sogar sein Arsch einen höheren Dienstgrad als ich!«

»Und sein Partner?«

»Was soll damit sein?«

»Sein Partner, der zweite Anzugträger. Du hast gesagt, dass sie zu zweit aufgekreuzt sind.«

»Richtig.« Jetzt schien sich Romano gar nicht mehr so sicher

zu sein. Er rieb sich die Augen und trank von seinem Bier. »Nun, der Zweite ist gar nicht zu mir rübergekommen. Der Erste zeigte nur auf ihn und sagte, dass es sein Partner ist, und damit war die Sache erledigt. Dieser andere Kerl redete mit einigen Polizisten; er ist gar nicht in meine Nähe gekommen.«

Web warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Paulie, das bedeutet, du weißt nicht einmal genau, ob der Kerl, mit dem du geredet hast, wirklich zu diesem zweiten Typen gehörte. Vielleicht hat er allein gearbeitet und dir irgendwelchen Scheiß erzählt. Hast du das auch den freundlichen FBI-Agenten gesagt?«

»Hör mal, Web, du warst auch mal ein Fed. Du hast in solchen Fällen ermittelt. Ich war bei den Deltas. Ich bin nur zum FBI gegangen, damit ich zur SWAT- und schließlich zur HRT- Abteilung weiterkonnte. Es ist schon sehr lange her, und ich hab völlig vergessen, wie man Detektiv spielt. Ich schnappe die Kerle, tot oder lebendig; mehr nicht.«

»Und jetzt hast du einen kleinen Jungen geschnappt, aber ich weiß nicht, ob er tot oder lebendig ist.«

Romano starrte ihn eine Weile wütend an, dann sackte er in sich zusammen und wandte den Blick ab. Web konnte sich vorstellen, dass der Mann gerade an seine eigenen Söhne dachte. Web wollte, dass er Schuldgefühle entwickelte, damit ihm ein solcher Schnitzer kein zweites Mal unterlief. »Dieser Junge ist vermutlich auf irgendeiner Müllhalde verschwunden. Er hat einen Bruder. Einen Gauner, der sich Big F nennt.«

»Haben den nicht alle?«, knurrte Romano.

»Der Junge hat nicht viel vom Leben gehabt. Hast du das Einschussloch in seiner Wange gesehen? Dabei ist er gerade erst zehn.«

Romano nahm einen Schluck Bier und wischte sich den Mund ab. »Tja, nun sind sechs unserer Leute tot, was gar nicht gut ist, und ich frage mich immer noch, warum es nicht sieben sind.« Er

warf Web einen giftigen Blick zu, während er das sagte.

»Falls es dich beruhigt - ich habe professionelle Hilfe in Anspruch genommen, um genau diese Frage beantworten zu können.« Das war für Web ein sehr schweres Eingeständnis, insbesondere gegenüber Romano, und er bereute sofort, dass er es gesagt hatte.

»Ja, klar, das erleichtert mich so sehr, dass ich am liebsten durch die Straßen rennen und schreien möchte: >Web geht zu einem Seelenklempner, die Welt ist gerettet!««

»Jetzt mach mal halblang, Paulie! Glaubst du, ich hätte mir absichtlich eine Erschöpfungspause genehmigt? Glaubst du, ich wollte in Ruhe zusehen, wie mein Team abgeknallt wird? Glaubst du das wirklich?«

»Ich schätze, du bist der Einzige, der diese Frage beantworten kann«, gab Romano zurück.

»Hör mal, ich weiß, dass die Sache ziemlich übel aussieht. Aber warum machst du es mir so schwer?«

»Du willst den Grund wissen? Du willst wirklich wissen, warum?«

»Ja.«

»Okay. Ich habe mit dem Jungen geredet. Nein, ich muss es anders formulieren. Der Junge hat mit mir geredet. Willst du wissen, was er zu mir gesagt hat?«

»Deswegen bin ich hier, Paulie.«

»Er sagte, du hättest so große Angst gehabt, dass du wie ein Baby geheult hast. Er sagte, du hättest ihn angefleht, es bitte niemandem weiterzusagen. Du wärst der größte Haufen Scheiße, den er jemals gesehen hat. Er sagte, du hättest sogar versucht, ihm dein Gewehr zu geben, weil du Angst hattest, es zu benutzen.«

Undankbarer Bengel. »Und du hast ihm diesen Mist geglaubt?«

Romano trank noch einen Schluck Bier. »Zumindest nicht die Sache mit dem Gewehr. Du würdest deine verdammte SR75 niemandem geben.«

»Vielen Dank, Romano.«

»Aber der Junge muss irgendwas gesehen haben, dass er auf solche Ideen gekommen ist. Ich meine, warum sollte er mit allem gelogen haben?«

»Ich weiß es nicht, Paulie. Vielleicht, weil ich ein Bulle bin und er nicht viel von Leuten hält, die auf der Seite des Gesetzes stehen. Warum fragst du nicht einen von den Scharfschützen danach? Sie können dir bestimmt sagen, ob ich geheult oder geschossen habe. Aber vielleicht würdest du ihnen auch nicht glauben.«

Romano ging nicht darauf ein. »Ich denke, jeder hat ab und zu mal die Hosen voll, aber das kann ich natürlich nicht beurteilen.«

»Natürlich kannst du es, du Scheißkerl.«

Romano stellte sein Bier ab und erhob sich halb von seinem Gartenstuhl. »Möchtest du dich vergewissern, ob ich wirklich ein Scheißkerl bin?«

Die beiden schienen kurz vor einer Prügelei zu stehen, als Angie vorbeikam und Web begrüßte. Sie umarmte ihn herzlich.

»Paulie«, wandte sie sich an ihren Mann, »vielleicht möchte Web zum Abendessen bleiben. Es gibt Schweinekoteletts.«

»Vielleicht will ich nicht, dass Web zum Abendessen bleibt, okay?«, knurrte Romano.

Angie griff nach Romanos Hemd und zog ihn mit sich. »Entschuldige uns bitte für eine Sekunde, Web«, sagte sie.

Web sah zu, wie Angie ihren Ehemann zur Garage hinüberzerrte und ihm eine Standpauke hielt, die sich gewaschen hatte - anders konnte Web es nicht beschreiben. Sie wippte ungeduldig mit den bloßen Füßen und wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. Sie verhielt sich wie ein Militärausbilder, der einem Rekruten den Arsch aufriss. Und Paul Romano, der jedes beliebige Lebewesen töten konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, stand mit gesenktem Kopf da und ließ über sich ergehen, was sein »kleines Frauchen« über ihm ausschüttete. Schließlich führte Angie ihn wieder zu Web zurück.

»Los, Paulie, frag ihn.«

»Angie«, sagte Web, »zwing ihn nicht...«

»Halt die Klappe, Web«, fauchte Angie ihn an, und Web hielt die Klappe. Dann schlug sie dem immer noch schweigenden Romano gegen den Hinterkopf. »Entweder du fragst ihn, oder du schläfst heute Nacht mit deinem blöden Auto in der Garage.«

»Möchtest du zum Abendessen bleiben, Web?«, fragte Romano. Er hatte die Arme verschränkt und starrte auf den Rasen.

»Es gibt Schweinekoteletts«, drängte Angie. »Und versuch doch mal, es so zu sagen, als würdest du es wirklich ernst meinen, Paulie.«

»Möchtest du gerne bleiben und mit uns Schweinekotelett zu Abend essen?«, fragte Romano im sanftesten, leisesten Tonfall, den Web je von ihm gehört hatte. Und er blickte Web dabei sogar in die Augen! Angie konnte wahre Wunder bewirken. Wie konnte Web noch Nein sagen, wenn er Romano so leiden sah? Obwohl er in Wirklichkeit versucht war, die Einladung abzulehnen, nur um dem Kerl eins auszuwischen.

»Klar, Paulie, ich bleibe gern. Vielen Dank, dass du an mich gedacht hast.«

Als Angie ins Haus ging, um das Essen vorzubereiten, widmeten sich die zwei Männer wieder ihren Bierdosen und starrten in den Himmel.

»Falls es dich beruhigt - Angie jagt auch mir eine Höllenangst

ein, Paulie.«

Romano blickte zu ihm hinüber, und zum ersten Mal seit längerer Zeit sah Web ihn tatsächlich lächeln.

Web betrachtete seine Bierdose. »Ich schätze, du hast der Zentrale berichtet, was der Junge gesagt hat.«

»Nein.«

Web sah überrascht auf. Romano starrte nur ins Leere.

»Warum nicht?«

»Weil es nicht stimmt.«

»Vielen Dank.«

»Ich weiß genau, wann Kinder lügen. Meine Jungen tun es oft genug. Ich glaube, ich wollte dich nur ärgern. Das scheint irgendwann zur Gewohnheit geworden zu sein.«

»Aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass der Junge so etwas gesagt hat, Paulie. Ich habe seinen Arsch gerettet. Verdammt, er hat zweimal Glück gehabt. Er hat es nur mir zu verdanken, dass er kein zweites Einschussloch im Kopf hat.«

Romano blickte ihn verblüfft an. »Der Junge hatte keine Schussverletzung.«

»Natürlich, in der linken Wange. Und er hatte eine Messernarbe auf der Stirn, so lang wie mein kleiner Finger.«

Romano schüttelte den Kopf. »Web, ich habe eine Weile auf den Jungen aufgepasst, und vielleicht habe ich ihm nicht sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber so etwas wäre mir bestimmt nicht entgangen. Ich weiß, wie eine Schussverletzung aussieht, weil ich selbst eine habe. Und ich habe auf genügend Leute geschossen, um zu wissen, wie sie bei anderen aussehen.«

Web setzte sich kerzengerade auf. »Welche Hautfarbe hatte er?«

»Was, zum Teufel, soll diese Frage? Er war schwarz.«

»Verdammt, Paulie, das weiß ich! Ich meine, wie schwarz,

wie dunkel war er?«

»Eher hellbraun. Seine Haut war so glatt wie ein Kinderpopo, nicht eine einzige Narbe. Das schwöre ich bei den Lippen des Papstes.«

Web schlug auf eine Armlehne des Stuhls. »Verdammt!« Kevin Westbrook - zumindest derjenige, dem Web begegnet war - hatte schokoladenbraune Haut gehabt.

Nach dem Essen bei den Romanos schaute Web bei Mickey Cortez vorbei und erfuhr von ihm dieselbe Geschichte. Der Junge hatte ihm nichts anderes erzählt. Er wusste nicht, wer der Anzugträger war, der ihn weggebracht hatte. Und keine Schussnarbe in der Wange.

Wer hatte also das Kind ausgetauscht? Und warum?

 

KAPITEL 11

 

Fred Watkins stieg aus dem Wagen, nachdem er einen weiteren langen Tag für den Bundesstaatsanwalt gearbeitet hatte. Er brauchte jeden Tag anderthalb Stunden, um von seinem Wohnort im nördlichen Virginia nach Washington zu fahren, und etwa genauso lange für den Rückweg. Neunzig Minuten für gerade mal fünfzehn Kilometer - er schüttelte den Kopf, wenn er darüber nachdachte. Außerdem war sein Arbeitstag noch nicht vorbei. Obwohl er um vier Uhr morgens aufgestanden war und bereits zehn Stunden geackert hatte, erwarteten ihn noch mindestens drei Stunden Arbeit in dem kleinen Büro, das er sich zu Hause eingerichtet hatte. Ein Abendessen und etwas Freizeit mit seiner Frau und den Kindern, dann würde er bis Mitternacht weitermachen.

Watkins war im Department of Justice, dem Justizministerium, in Washington tätig und auf großmaßstäbliche Gaunereien spezialisiert. Seine Arbeit machte ihm Spaß, und er hatte das Gefühl, seinem Land einen wertvollen Dienst zu erweisen. Dafür wurde er einigermaßen angemessen entschädigt, und obwohl er manchmal sehr lange am Schreibtisch saß, war er mit seinem Leben insgesamt sehr zufrieden. Sein Ältester würde im Herbst aufs College gehen, und in zwei Jahren war seine jüngere Tochter dran. Mit seiner Frau hatte er Pläne geschmiedet, anschließend auf Reisen zu gehen, sich Teile der Welt anzusehen, die sie bislang nur aus Reiseprospekten kannten. Außerdem hatte Watkins die Vision, frühzeitig in den Ruhestand zu gehen und als Gastdozent Jura an der University of Virginia zu unterrichten, wo er seinen Abschluss gemacht hatte. Sie dachten sogar daran, eines Tages vielleicht nach Charlottesville zu ziehen, um dem Verkehrsstau zu entfliehen, der im nördlichen Virginia zum Dauerzustand

geworden war.

Er massierte sich das Genick und atmete die frische Luft eines netten, kühlen Abends ein. Es waren gute Zukunftspläne; wenigstens hatten er und seine Frau noch Pläne. Einige seiner Kollegen weigerten sich kategorisch, über den morgigen Tag hinaus zu denken, ganz zu schweigen von den nächsten Jahren. Watkins dagegen war schon immer ein praktisch und vernünftig eingestellter Mensch gewesen. So hielt er es mit seiner Arbeit und mit seinem Leben.

Er schloss die Wagentür und lief über den Bürgersteig zu seinem Haus. Er winkte einer Nachbarin zu, die gerade mit ihrem Auto die Zufahrt zu ihrem Haus verließ. Ein anderer Nachbar grillte, und Watkins stieg der köstliche Fleischduft in die Nase. Vielleicht würde er heute Abend ebenfalls seinen Grill anwerfen.

Wie die meisten Menschen in der Umgebung von Washington hatte Watkins die Berichte über den Hinterhalt, in den das Geiselrettungsteam geraten war, mit großem Interesse und voller Besorgnis gelesen. Vor einiger Zeit hatte er mit ein paar dieser Leute an einem Fall gearbeitet, und er konnte nur Gutes über ihre Tapferkeit und Professionalität sagen. Diese Männer waren die Besten, zumindest nach seinen Maßstäben, und sie machten eine Arbeit, die praktisch kein anderer zu übernehmen bereit war. Watkins hatte gedacht, er hätte schon einiges mitgemacht, bis er gesehen hatte, wie hart diese Kerle waren. Es tat ihm besonders Leid um ihre Familien, und er dachte daran, sich zu erkundigen, ob für sie ein Hilfsfond eingerichtet worden war. Wenn nicht, würde er vielleicht selbst einen initiieren. Ein weiterer Punkt auf seiner langen Liste von Dingen, die noch zu erledigen waren, aber so schien es nun einmal im Leben zuzugehen.

Er sah es erst, als es aus den Büschen kam und direkt auf ihn zuraste. Watkins schrie auf und duckte sich. Der Vogel verfehlte ihn um wenige Zentimeter. Es war immer derselbe verdammte

Blauhäher. Das Biest schien sich nahezu jeden Abend auf die Lauer zu legen und auf ihn zu warten; es schien gewillt, ihn zu erschrecken und ihm einen vorzeitigen Herzinfarkttod zu bereiten. »Diesmal nicht«, rief Watkins dem davonfliegenden Vogel nach. »Niemals. Ich werde dich erwischen, bevor es so weit kommt.«

Er lachte leise und betrat die Veranda vor seinem Haus. Als er die Tür öffnete, klingelte sein Handy. Nanu!, dachte er. Nur wenige Menschen hatten seine Nummer. Zum Beispiel seine Frau, aber sie würde ihn nicht anrufen, weil sie bestimmt gesehen hatte, wie er mit dem Wagen gekommen war. Es musste das Büro sein. Und das konnte eigentlich nur bedeuten, dass etwas geschehen war, das seinen restlichen Abend beanspruchen würde. Vielleicht war es sogar erforderlich, dass er auf dem Absatz kehrtmachen und in die Stadt zurückfahren musste.

Er zog das Handy aus der Tasche und sah, dass die Nummer des Anrufers nicht angezeigt werden konnte. Kurz überlegte er, ob er den Anruf gar nicht entgegennehmen sollte. Aber das war einfach nicht Fred Watkins' Art. Vielleicht hatte sich jemand einfach nur verwählt, aber es konnte auch etwas Wichtiges sein. Nein, heute Abend würde er wohl nicht zum Grillen kommen, dachte er, als er die Taste drückte.

Man fand die Überreste von Fred Watkins in den Büschen auf dem Grundstück, das seinem Haus auf der Straße gegenüberlag. Als er sein Handy eingeschaltet hatte, entzündete der winzige elektrische Funke das Gas in seinem Haus. Er hatte es nicht gerochen, als er die Tür öffnete, weil der Grillduft von nebenan alles andere überdeckte. Aus irgendeinem Grund hatte seine Aktentasche die Explosion überstanden, die das Haus in Trümmer gelegt hatte. Am Griff hing noch seine Hand, die praktisch nur noch aus Knochen bestand. Die wertvollen Dokumente waren intakt und konnten dem Staatsanwalt übergeben werden, der sie von dem Verstorbenen übernahm.

Auch die Leichen seiner Frau und der Kinder wurden in den Trümmern gefunden. Die Autopsie ergab, dass sie bereits vor der Explosion erstickt waren. Es dauerte vier Stunden, um das Feuer zu löschen, das auf zwei weitere Häuser in der Nachbarschaft übergriff. Zum Glück wurden keine weiteren Personen ernsthaft verletzt. Nur die Familie Watkins war mit einem Schlag ausgelöscht worden. Die Frage, wie er und seine Frau nach einem Leben voller Arbeit ihren Ruhestand verbringen würden, hatte sich erledigt. Man hatte keine Schwierigkeiten, Watkins' Handy zu finden, weil es fest mit seiner Hand verschmolzen war.

Ungefähr zur selben Zeit und 150 Kilometer südlich von der Explosion, in der Fred Watkins sein Leben aushauchte, stieg in Richmond der Richter Louis Leadbetter unter den wachsamen Blicken eines Polizeibeamten in einen wartenden Wagen. Leadbetter arbeitete seit zwei Jahren am Bundesgericht, seit er von seinem Posten als oberster Richter am Bezirksgericht von Richmond befördert worden war. Aufgrund seiner Jugend - er war erst sechsundvierzig - und seiner außergewöhnlichen juristischen Fähigkeiten hatten viele Leute in einflussreichen Stellen ein Auge auf Leadbetter geworfen und betrachteten ihn als aussichtsreichen Kandidaten für das Vierte Bezirksberufungsgericht, der eines Tages vielleicht sogar einen Sitz im Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten übernehmen würde. In den juristischen Schützengräben hatte Leadbetter zahlreiche Prozesse geleitet, die von unterschiedlichster Komplexität und emotionaler Brisanz gewesen waren, bis hin zum potenziellen Vulkanausbruch. Mehrere Männer, die er zu Haftstrafen verurteilt hatte, hatten sein Leben bedroht. Einmal wäre er beinahe zum Opfer einer Briefbombe geworden, die von weißen Rassisten geschickt worden war, die nicht mit Leadbetters unerschütterlicher Überzeugung einverstanden waren, dass alle Menschen ungeachtet ihrer Religion, Hautfarbe oder ethnischen Zugehörigkeit unter den Augen Gottes und des Gesetzes gleich waren. Diese Vorfälle machten erforderlich, dass Leadbetter besonderen Personenschutz erhielt, und es war in letzter Zeit zu Entwicklungen gekommen, die weiteren Anlass zur Sorge um seine Sicherheit gaben.

Ein Mann, der geschworen hatte, Rache an Leadbetter zu nehmen, war in einer gewagten Aktion aus dem Gefängnis entflohen. Die Haftanstalt lag sehr weit entfernt, und die Drohungen waren vor vielen Jahren geäußert worden, aber die Verantwortlichen wollten kein Risiko eingehen und diesen fähigen Richter auf keinen Fall verlieren. Leadbetter wollte einfach nur so leben, wie er immer gelebt hatte, und war nicht sehr von den verschärften Sicherheitsmaßnahmen angetan. Doch nachdem er einmal knapp dem Tod entronnen war, hatte er eingesehen, dass die Besorgnis berechtigt war. Außerdem wollte er nicht durch die Hand eines gemeinen Kriminellen sterben, der nichts Besseres verdient hatte, als im Gefängnis zu verfaulen. Eine solche Genugtuung wollte der Richter niemandem gönnen.

»Gibt es Neuigkeiten über Free?«, fragte er den U.S. Marshal.

Dass der Mann, der aus dem Gefängnis ausgebrochen war, ausgerechnet Free hieß, hatte Leadbetter schon immer gewurmt. Ernest B. Free - wie »Ernest sei frei«. Natürlich war er nicht mit diesem Nachnamen und dem »B.« geboren worden, sondern hatte beides offiziell ändern lassen, als er einer paramilitärischen neokonservativen Gruppe beigetreten war, deren Mitglieder diesen Namen als Symbol für die angebliche Gefährdung ihrer Freiheit betrachtet hatten. Ironischerweise nannte sich die Gruppe »Freie Gesellschaft«, während sie mit Intoleranz und Gewalt auf jeden reagierten, der ihre hasserfüllten Überzeugungen nicht teilte. Es war eine jener Organisationen, auf die Amerika problemlos verzichten konnte, und es war gleichzeitig ein Beispiel für die überaus unpopulären Gruppen, die nach dem ersten Zusatzartikel der Verfassung der

Vereinigten Staaten besonderen Schutz genossen. Aber nicht, wenn derartige Gruppen Gewalt einsetzten. Nicht, wenn sie Menschen töteten.

Free und andere Mitglieder seiner Organisation hatten eine Schule überfallen, zwei Lehrerinnen erschossen und zahlreiche Kinder und weitere Lehrer als Geiseln genommen. Die Polizei hatte die Schule umstellt, und ein SWAT-Team wurde angefordert, aber Free und seine Leute waren schwer bewaffnet gewesen, mit automatischen Waffen und Schutzwesten. Also hatte man Einsatzkräfte der Bundespolizei aus Quantico herbeigerufen, die auf Geiselbefreiung spezialisiert waren. Anfangs hatte es ausgesehen, als könnte die Krise friedlich beendet werden, doch dann waren in der Schule wieder Schüsse gefallen, worauf das Geiselrettungsteam das Gebäude gestürmt hatte. Es war zu einer furchtbaren Schießerei gekommen. Leadbetter konnte sich immer noch lebhaft an den herzzerreißenden Anblick eines kleinen Jungen erinnern, der tot auf dem Boden gelegen hatte, neben zwei Lehrerinnen. Der verwundete Ernest B. Free hatte sich schließlich ergeben, nachdem seine Komplizen niedergeschossen worden waren.

Es hatte damals eine Diskussion gegeben, ob Free vor ein Gericht des Staates oder des Bundes gestellt werden sollte. Einerseits herrschte die Überzeugung vor, dass die Schule als Ziel ausgesucht worden war, weil sie als vorbildlich für die Integration ethnischer Gruppen galt, und obwohl Frees rassistische Ansichten allgemein bekannt waren, wären sie ihm schwer nachzuweisen gewesen, wie Leadbetter eingesehen hatte. Immerhin waren die drei Opfer - die beiden Lehrerinnen und der Junge - weiß, und daher war es kein Erfolg versprechender Ansatz, die Anklage auf Rassenhass zu begründen, was in die Zuständigkeit des Bundesrechts gefallen wäre. Free hatte sich zwar des Angriffs gegen Vertreter der Bundespolizei schuldig gemacht, aber am aussichtsreichsten erschien es, die einfache Variante vorzuziehen und ihn vor einem staatlichen Gericht wegen mehrfachen Mordes anzuklagen und die Todesstrafe zu beantragen. Doch dann war der Prozess ganz anders als erwartet ausgegangen.

»Nein, Euer Ehren«, antwortete der Marshal und riss Leadbetter aus seinen Gedanken. Der Polizist war schon seit geraumer Zeit als Leibwächter für den Richter tätig, und sie hatten ein gutes Vertrauensverhältnis entwickelt. »Wenn Sie mich fragen, ich schätze, der Kerl wird sich über Mexiko nach Südamerika absetzen. Da kann er sich mit anderen Nazis zusammentun.«

»Tja, ich hoffe, dass man ihn schnappt und dorthin zurückbringt, wo er hingehört«, sagte Leadbetter.

»Ganz bestimmt. Das FBI kümmert sich darum. Die Leute haben die besten Möglichkeiten.«

»Ich wollte, dass der Mistkerl zum Tode verurteilt wird. Das ist das Einzige, was er verdient hat.« Dieser Punkt gehörte zu den wenigen Dingen, die Leadbetter in seiner Richterkarriere bedauerte. Aber Frees Verteidiger hatte natürlich die Frage der Zurechnungsfähigkeit aufgebracht und sich sogar in die Behauptung verstiegen, dass er im »Kult«, wie er Frees Organisation bezeichnet hatte, einer Gehirnwäsche unterzogen worden sei. Der Anwalt hatte nur seine Arbeit gemacht, und für die Anklage hatte er damit genügend Zweifel an der Chance einer fundierten Verurteilung geweckt, dass sie einen Handel mit Frees Verteidiger geschlossen hatten, bevor die Geschworenen zurückgekehrt waren. Anstelle der drohenden Todesstrafe hatte Free lebenslänglich bekommen und die - wenn auch winzige - Chance, nach frühestens zwanzig Jahren auf Bewährung entlassen zu werden. Leadbetter war damit überhaupt nicht einverstanden gewesen, aber ihm war keine andere Wahl geblieben, als das Urteil zu unterschreiben. Die Medien hatten die Geschworenen anschließend inoffiziell befragt und festgestellt, dass Free tatsächlich einen guten Handel gemacht hatte. Alle Mitglieder der Jury hätten auf schuldig plädiert und die Todesstrafe empfohlen. Für die Presse war es ein gefundenes Fressen gewesen. Und für alle Verantwortlichen ein Schlag ins Gesicht. Free war aus verschiedenen Gründen in ein Hochsicherheitsgefängnis im Mittelwesten überführt worden. Und von dort war er entflohen.

Leadbetter warf einen Blick auf seine Aktentasche. Darin befand sich, ordentlich zusammengefaltet, ein Exemplar seiner geliebten New York Times. Er war in New York City geboren und auch dort zur Schule gegangen, bevor er nach Richmond gekommen war. Der Yankee liebte seine neue Heimat, aber wenn er nach Hause kam, verbrachte er genau eine halbe Stunde damit, die Times zu lesen. Diese Gewohnheit hatte er während all seiner Jahre als Richter beibehalten, und sein Exemplar wurde ihm extra ins Gericht geliefert, bevor er Feierabend machte. Es war einer der wenigen Momente der Entspannung, die er heutzutage noch genießen konnte.

Als der Marshal den Wagen aus der Garage des Gerichts fuhr, klingelte sein Telefon. »Ja? Wie bitte? Ja, selbstverständlich, Euer Ehren. Ja, ich werde es ihm sagen.« Er legte auf und sagte zu Leadbetter: »Das war Richter Mackey. Er sagte, wenn Sie etwas wirklich Erstaunliches sehen wollen, sollten Sie sich die vorletzte Seite des ersten Teils der Times anschauen.«

»Hat er gesagt, worum es sich handelt?«

»Nein, Euer Ehren. Nur dass Sie nachschauen und ihn dann sofort zurückrufen sollen.«

Leadbetters Neugier war geweckt, und er warf einen Blick auf die Zeitung. Mackey war ein guter Freund und hatte ähnliche Interessen wie Leadbetter. Wenn Mackey etwas erstaunlich fand, reagierte er höchstwahrscheinlich genauso darauf. Der Fahrer hielt an einer Ampel. Das war gut, weil Leadbetter nicht in einem fahrenden Wagen lesen konnte, ohne dass ihm übel wurde. Er holte die Times aus der Aktentasche, aber es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Er schaltete die

Leselampe im Wagen ein und schlug die Zeitung auf.

Der Marshal blickte sich verärgert um. »Euer Ehren, ich habe Ihnen schon des Öfteren gesagt, Sie sollen das Licht nicht einschalten. So sitzen Sie praktisch auf dem Präsentierteller...«

Als er Glas zersplittern hörte, fuhr der Marshal zusammen. Und erstarrte, als er sah, wie Richter Louis Leadbetter mit dem Kopf auf seine geliebte New York Times kippte, deren Seiten nun mit seinem Blut besudelt waren.

 

KAPITEL 12

 

Kevin Westbrooks Mutter war vermutlich tot, wie Web erfuhr, obwohl es ihm niemand mit absoluter Sicherheit sagen konnte. Sie war vor einigen Jahren spurlos verschwunden. Als Methund Crack-Abhängige hatte sie ihr Leben höchstwahrscheinlich mit einer verschmutzten Nadel oder einer Prise verunreinigten Pulvers beendet. Die Identität von Kevins Vater war unbekannt. Offenbar waren solche Lücken in der Lebensgeschichte nichts Ungewöhnliches in der Welt, in der Kevin Westbrook aufgewachsen war.

Web fuhr in einen Teil von Anacostia, den selbst die Polizei nach Möglichkeit mied, zu einem heruntergekommenen Zweifamilienhaus, in dem Kevin angeblich mit einem Mischmasch aus Vettern zweiten Grades, Großtanten, entfernt verwandten Onkeln oder Stiefschwägern wohnen sollte. Web war nicht ganz klar, in welcher Situation der Junge lebte, und allen anderen anscheinend auch nicht. Es war ein Musterbeispiel der neuen amerikanischen Kleinfamilie. Die Umgebung sah aus, als gäbe es in der Nähe einen seit Jahrzehnten undichten Reaktor. Hier schienen keine Blumen oder Bäume wachsen zu können, das Gras in den kleinen Hinterhöfen war von kränklich gelber Farbe, und sogar die Hunde und Katzen auf der Straßen sahen aus, als würden sie jeden Augenblick tot umfallen. Menschen, Tiere und Dinge schienen kurz vor dem Ende zu stehen.

Im Innern war das Zweifamilienhaus eine Müllhalde. Draußen überwältigte einen der Gestank vergammelnden Abfalls, und drinnen herrschte eine undefinierbare Mischung unangenehmer Gerüche, deren Wirkung durch die Enge noch verstärkt wurden. Als Web diese tödliche Wolke entgegenschlug, hatte er das Gefühl, nach wenigen Schritten zusammenbrechen zu müssen.

Lieber würde er jeden Tag Tränengas inhalieren, als sich dieser hausgemachten Giftatmosphäre auszusetzen.

Die Leute, denen er im Haus begegnete, schienen sich keine besonderen Sorgen über Kevins Abwesenheit zu machen. Vielleicht tauchte das Kind regelmäßig nach größeren Schießereien unter. Ein mürrischer junger Mann saß auf der Couch. »Wir haben schon mit den Bullen geredet«, sagte er. Man konnte es eigentlich nur so ausdrücken, dass er die Worte in Webs Richtung spuckte.

»Es gibt da noch ein paar Unklarheiten«, erwiderte Web, der gar nicht daran denken wollte, was Bates mit ihm anstellen würde, wenn er herausfand, dass Web auf eigene Faust herumschnüffelte. Er war es Riner und den anderen schuldig - zur Hölle mit den Vorschriften der Bundespolizei. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl.

»Halt die Klappe, Jerome«, sagte die großmütterliche Frau, die neben Jerome saß. Sie hatte weißes Haar, eine riesige Brille, einen gewaltigen Busen und machte den Eindruck, dass sie sich nichts bieten lassen würde. Sie hatte Web nicht gesagt, wie sie hieß, und er hatte sie nicht danach gefragt. Er stand zweifellos in den FBI-Akten, aber er hatte ihn aus anderen Quellen erfahren. Sie war so groß wie ein Kleinwagen und sah aus, als könnte sie es problemlos mit Jerome aufnehmen. Verdammt, es sah aus, als könnte sie es sogar mit Web aufnehmen! Sie hatte ihn zweimal nach seinem Namen und Ausweis gefragt, bevor sie die Türkette abgenommen und ihn hereingelassen hatte. »Ich mag es nicht, Leute in mein Haus zu lassen, die ich nicht kenne«, erklärte sie. »Egal, ob Polizisten oder sonst wer. Diese Gegend hier ist nicht mehr sicher. Und zwar auf beiden Seiten des Spielfeldes.« Sie sagte es mit hochgezogenen Augenbrauen und einem wissenden Blick, der Web mitten in seine Seele als Bundespolizist traf.

 

Eigentlich will ich gar nicht hier sein, hätte Web ihr am liebsten gesagt, in erster Linie, weil ich den Atem anhalten muss, damit ich mich nicht übergebe. Als Web sich setzte, konnte er durch die Löcher in den Bodendielen bis zum harten Lehmboden hinunterschauen, auf dem das Haus errichtet war. Hier musste es im Winter kuschelig warm sein, dachte er. Draußen waren es knapp zwanzig Grad, und drinnen fühlte es sich an wie um den Gefrierpunkt. Kein beruhigendes Geräusch eines Ofens war zu hören, und keine köstlichen Düfte wehten aus Omas gemütlicher Küche herein. In einer Ecke lag ein großer Haufen Diet-Pepsi-Dosen. Anscheinend gab jemand Acht auf sein Gewicht. Doch unmittelbar daneben befand sich ein Berg aus McDonald's-Abfällen. Wahrscheinlich von Jerome, dachte Web. Er sah aus wie jemand, der Big Macs und Fritten mochte. »Leben Sie schon lange hier?«, fragte Web.

 

Jerome schnaufte nur, während die Alte auf ihre verschränkten Hände blickte. »Seit drei Monaten«, sagte sie. »Wo wir vorher gewohnt haben, haben wir sehr lange gewohnt. Hatten es richtig nett.«

»Aber dann war man der Meinung, dass wir zu viel Geld verdienen, um in einem so netten Haus zu wohnen. Also warf man uns raus«, fügte Jerome wütend hinzu. »Man hat uns einfach rausgeworfen.«

»Niemand hat behauptet, dass es im Leben gerecht zugeht, Jerome«, sagte die Frau zu ihm. Sie sah sich in diesem Dreckstall um und sog einen schweren Atemzug ein, der Webs letzte Hoffnungen schwinden ließ. »Wir werden es uns auch hier schön machen. Irgendwann wird's auch hier nett sein.« Sie klang nicht sehr überzeugt, wie Web bemerkte.

»Hat die Polizei schon irgendwelche Fortschritte bei der Suche nach Kevin gemacht?«

»Warum fragen Sie nicht selbst danach?«, erwiderte die Alte. »Weil man uns nämlich nichts über den armen kleinen Kevin sagt.«

»Die Polizei hat ihn verloren«, sagte Jerome und rutschte etwas tiefer in den Berg aus durchgesessenen, fleckigen Kissen, aus denen die Couch bestand. Web konnte nicht einmal erkennen, ob noch ein Gestell vorhanden war. Die Decke war an drei verschiedenen Stellen durchgebrochen, soweit Web sehen konnte, und hing so tief herunter, dass man gar keine Treppe brauchte, um ins obere Geschoss zu gelangen. Man musste nur die Arme ausstrecken und sich hochziehen. Auf den Wänden wuchs schwarzer Schimmel, wahrscheinlich war auch bleihaltige Farbe drauf, und die Rohrleitungen waren zweifellos mit Asbest verkleidet. Überall lagen die Hinterlassenschaften von kleinen Nagetieren, und Web hätte tausend Dollar darauf verwettet, dass Termiten den größten Teil des verbauten Holzes gefressen hatten. Die Leute vom Bauamt mussten die gesamte Gegend längst abgeschrieben haben - oder sie saßen irgendwo zusammen beim Kaffee und lachten sich schlapp.

»Gibt es ein Foto von Kevin?«

»Natürlich. Die Polizei hat schon eins«, sagte die Alte.

»Haben Sie noch eins?«

»He, wir werden Ihnen gar nichts geben!«, knurrte Jerome.

Web beugte sich vor und ließ den Griff seiner Pistole sehen. »Doch, Jerome. Und wenn Sie Ihre negative Einstellung nicht ändern wollen, werde ich Sie in die Stadt bringen und in den Akten nachsehen, ob es noch irgendwelche offenen Haftbefehle gibt, mit denen ich Ihr großes Maul für eine Weile wegsperren kann. Es sei denn, Sie wollen behaupten, Sie hätten nie Ärger mit der Polizei gehabt.«

Jerome wandte den Blick ab. »Scheiße«, murmelte er.

»Sei still, Jerome«, sagte die Alte. »Halt einfach deine verdammte Klappe.«

Na also, Oma, dachte Web.

Sie holte eine kleine Brieftasche hervor und zog ein Foto heraus. Sie reichte es Web, und dabei zitterten ihre Finger ein wenig, und ihre Stimme versagte, doch dann hatte sie sich wieder gefangen. »Das ist mein letztes Bild von Kevin. Bitte verlieren Sie es nicht.«

»Ich werde gut darauf aufpassen. Sie bekommen es dann zurück.«

Web betrachtete das Foto. Es war Kevin. Zumindest der Kevin, dem Web das Leben gerettet hatte. Also war der Junge, bei dem Cortez und Romano Babysitter gespielt hatten, ein anderer gewesen. Das hatte einige Planung erfordert, aber es musste zumindest teilweise improvisiert gewesen sein. Doch zu welchem Zweck?

»Sie sagten, Sie hätten der Polizei ein Foto von Kevin gegeben?«

Die Alte nickte. »Er ist ein guter Junge. Er geht zur Schule, wissen Sie, fast jeden Tag. Eine Sonderschule, weil er ein ganz besonderer Junge ist«, fügte sie stolz hinzu.

In dieser Gegend war es in der Tat eine besondere Leistung, zur Schule zu gehen. Es kam wahrscheinlich gleich nach der Meisterleistung, eine Nacht zu überleben.

»Ich bin überzeugt, er ist ein guter Junge.« Er warf Jerome einen Blick zu, der ihn nervös anstarrte, wie ein Gauner auf der Lauer. Du warst auch einmal ein guter Junge, nicht wahr Jerome? »Waren es uniformierte Polizisten?«

Jerome stand auf. »Was soll das? Halten Sie uns für blöd? Es waren FBI-Leute, genauso wie Sie.«

»Setzen Sie sich, Jerome«, sagte Web.

»Setz dich, Jerome«, sagte die Alte, und Jerome setzte sich.

Web dachte hastig nach. Wenn das FBI ein Foto von Kevin hatte, wusste man, dass man den falschen Jungen in - wenn auch kurzem - Gewahrsam gehabt hatte. Oder? Romano hatte keine Ahnung, dass es zwei Jungen gab. Er hatte ihn einfach nur als Kind von schwarzer Hautfarbe beschrieben. Was war, wenn das der gesamte offizielle Bericht war? Wenn der falsche Kevin

Westbrook verschwunden war, bevor Bates und die anderen auf dem Schauplatz eingetroffen waren, wussten sie nur, dass ein schwarzer Junge von etwa zehn Jahren vermisst wurde. Sie kamen zu dieser Adresse, sprachen mit der Familie, ließen sich ein Foto geben und setzten ihre Ermittlungen wie gehabt fort. Sie würden niemals auf die Idee kommen, Romano und Cortez zu fragen, ob sie den Jungen auf dem Foto wiedererkannten, da sie keinen Anhaltspunkt hatten, dass der Junge vielleicht ausgetauscht worden war. Und Ken McCarthy hatte gesagt, dass die Scharfschützen den echten Kevin nicht aus der Nähe gesehen hatten, als das Charlie-Team an ihm vorbeigekommen war. Vielleicht war Web der Einzige, der von diesem Betrug wusste.

Web sah sich um, und aus Rücksicht auf die Großmutter - oder in welcher verwandtschaftlichen Beziehung sie auch immer zu Kevin stehen mochte - versuchte er, seinen Abscheu nicht zu deutlich werden zu lassen. »Hat Kevin wirklich hier gewohnt?« Bates hatte gesagt, Kevin würde in miserablen Verhältnissen leben und wäre vermutlich so selten wie möglich zu Hause. Das würde zumindest erklären, warum er nachts allein unterwegs war, statt hier in seinem Bett zu liegen. Im Haus sah es wirklich schlimm aus, aber wahrscheinlich nicht schlimmer als in den meisten Häusern dieses Stadtviertels. Überall herrschten Armut, Verbrechen und Verfall. Doch die Alte machte den Eindruck eines unerschütterlichen Felsens in der Brandung; ihr schien wirklich etwas an Kevin zu liegen. Warum sollte der Junge sich vor ihr drücken?

Die Großmutter und Jerome tauschten einen Blick aus. »Die meiste Zeit schon«, sagte die Alte.

»Und wo hat er gewohnt, wenn er nicht hier war?«

Keiner von beiden sagte ein Wort. Die Alte versenkte den Blick in ihren Schoß, während Jerome die Augen schloss und den Kopf wiegte, offenbar nach irgendeiner blöden Melodie, die nur er hörte.

»Ich weiß, dass er einen Bruder hat. Lebt Kevin manchmal bei ihm?«

Jerome riss die Augen auf, und die Alte schaute gleichfalls hoch. Der Gesichtsausdruck der beiden war eher so, als hätte Web sie mit einer Waffe bedroht und ihnen angekündigt, dass sie sich darauf gefasst machen sollten, ins Gras zu beißen.

»Kenn ich nicht, hab ich nie gesehen«, sagte die Alte hastig. Sie wiegte ihren Körper vor und zurück, als hätte sie plötzlich Schmerzen bekommen. Im Augenblick sah sie gar nicht mehr stark, sondern äußerst verletzlich aus. Sie war nur noch eine alte Frau, die furchtbare Angst hatte.

Als Web zu Jerome hinüberblickte, sprang dieser auf und war verschwunden, bevor Web irgendwie reagieren konnte. Er hörte, wie die Haustür geöffnet und zugeschlagen wurde, gefolgt vom Geräusch sich eilig entfernender Schritte.

Webs Blick kehrte zur Alten zurück.

»Jerome kennt ihn auch nicht«, sagte sie.

 

KAPITEL 13

 

Der Tag der offiziellen Trauerfeier war gekommen. Web stand früh auf, duschte und rasierte sich und zog seinen besten Anzug an. Die Zeit war gekommen, in aller Form um seine Freunde zu trauern und ihnen die letzte Ehre zu erweisen, doch viel lieber wäre Web einfach davongelaufen.

Er hatte nicht mit Bates darüber gesprochen, was er von Romano und Cortez oder Kevins Verwandten erfahren hatte. Er war sich nicht sicher, warum er es nicht getan hatte. Er wusste nur, dass er nicht gerade in vertrauensseliger Stimmung war und dass Bates ihm zweifellos wegen Einmischung in die Ermittlungen einen Rüffel erteilt hätte. Bates hielt den Jungen für Kevin Westbrook, was entweder bedeutete, dass der Junge ihm diesen Namen genannt hatte, oder dass Bates die Information von Romano und Cortez bekommen hatte, falls der Junge verschwunden war, bevor Bates die Szene betreten hatte. Web musste herausbekommen, wie sich die Sache verhielt. Wenn Bates das andere Kind gesehen hatte, bevor er Kevins Foto von der Großmutter bekommen hatte, musste ihm klar sein, dass es sich um zwei verschiedene Kinder handelte.

Web hatte also einem Jungen mit einer Schussnarbe in der Wange eine Nachricht für die Leute von der Geiselrettung gegeben. Dieser Junge hatte Web gesagt, sein Name sei Kevin. Der Zettel war abgeliefert worden, aber offenbar nicht von dem Kind, dem Web die Nachricht übergeben hatte. Also war der Junge auf dem Weg zu den Geiselrettern gegen ein anderes Kind ausgetauscht worden. Das konnte nur irgendwo auf der Straße geschehen sein. Für diese Aktion hatte nicht viel Platz zur Verfügung gestanden, aber für den Austausch reichte es allemal, was wiederum bedeutete, dass sich irgendwo an der Straße weitere Personen bereitgehalten hatten - vielleicht nicht nur für

diese Aktion, sondern für noch ganz andere Eventualitäten.

War es geplant gewesen, dass Kevin durch diese Straße zurückkehrte? Arbeitete er für seinen Bruder Big F? Sollte er sich davon überzeugen, dass alle Mitglieder des Charlie-Teams tot waren, und hatte er nicht damit gerechnet, auf einen Überlebenden zu stoßen? Und war die Planung durcheinander geraten, als er Web lebend vorgefunden hatte?

Aber was, zum Teufel, war der ursprüngliche Plan gewesen? Und warum hatte man das Kind gegen ein anderes ausgetauscht? Und warum hatte der falsche Kevin gelogen und Web als Feigling hingestellt? Und wer war der Anzugträger, der das ausgewechselte Kind mitgenommen hatte? Bates war sehr wortkarg gewesen, als es um die Frage ging, warum der Junge verloren gegangen war. War der Mann, mit dem Romano gesprochen hatte, überhaupt ein FBI-Agent? Aber falls nicht, konnte sich Web kaum vorstellen, wie ein Hochstapler die Dreistigkeit aufbrachte, auf den Schauplatz zu spazieren, Romano und Cortez mit einem gefälschten Ausweis zum Narren zu halten und sich dann mit einem zweiten Hochstapler aus dem Staub zu machen.

Es war alles äußerst verwirrend, und Web wusste kaum noch, was er glauben sollte und durfte. Und sein Bedürfnis, sich mit seinen Fragen an Bates zu wenden, war nicht besonders ausgeprägt.

Er stellte seinen Mach One so nahe wie möglich an der Kirche ab. Hier parkten bereits viele Autos, und es gab nicht mehr viel Platz. Die Kirche war ein düsteres Steinmonument, das gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden war, als das erste Gebot der Architekten lautete: »Dein Gotteshaus soll mehr Türmchen, Balustraden, ionische Säulen, Giebel, Bogen, Türen, Fenster und kühle Steinblöcke haben als das deines Nachbarn.«

In diesen heiligen Tempel kamen Präsidenten, Richter des

Obersten Gerichts, Kongressabgeordnete, Botschafter und Würdenträger geringeren Standes, um zu beten, zu singen und in seltenen Fällen zu beichten. Politiker wurden häufig fotografiert oder gefilmt, wie sie die breiten Stufen hinauf- oder hinunterstiegen, die Bibel in der Hand und einen gottesfürchtigen Ausdruck auf dem Gesicht. Trotz der Trennung von Kirche und Staat in den USA mochten die Wähler es gern, wenn ihre Vertreter gelegentlich etwas Frömmigkeit an den Tag legten.

Kein HRT-Mitglied hatte jemals diese Kirche besucht, aber die Politiker brauchten eine angemessene Bühne, auf der sie ihre Trauerreden halten konnten. Und die kleine Waldkapelle in der Nähe von Quantico, in der einige Mitglieder des Charlie-Teams tatsächlich am Gottesdienst teilgenommen hatten, reichte für diese Zwecke offensichtlich nicht aus.

Der Himmel war klar, die Sonne warm und die leichte Brise erfrischend. Der Tag war viel zu schön für einen Trauergottesdienst, fand Web. Dennoch ging er die Stufen zur Kirche hinauf. Jedes Klacken seiner geputzten Schuhe auf dem Stein war wie das Geräusch, mit dem sich die Trommel einer Waffe weiterdrehte, zur nächsten Kammer, zur nächsten Patrone, jedes Klicken ein weiteres beendetes Leben. Solche grausamen Analogien waren anscheinend sein Schicksal, überlegte Web. Bei dieser Einstellung war es kein Wunder, dass er deprimiert war.

Überall waren Agenten des Secret Service mit ihren Schulterhalftern, Pokermienen und geringelten Kabeln, die ins Ohr führten. Web musste durch einen Metalldetektor gehen, bevor er die Kirche betreten durfte. Er zeigte seine Waffe und seinen FBI-Ausweis vor, womit den Agenten klar war, dass Web seine Waffe erst dann abgeben würde, wenn er tot war.

Als er die Tür öffnete, wäre er beinahe gegen die hintersten Mitglieder der Menschenmenge geprallt, die sich irgendwie in das Gebäude gezwängt hatte. Er setzte die eher ungehobelte

Taktik ein, seine Dienstmarke aufblitzen zu lassen, worauf sich das Meer teilte und er nach vorn durchgelassen wurde. In einer Ecke hatte sich ein Kamerateam aufgestellt und übertrug die gesamte Veranstaltung. Welcher Idiot hatte ihnen die Genehmigung erteilt? Und wessen Idee war es überhaupt gewesen, die gesamte Welt zu einem Ereignis einzuladen, das eigentlich nur eine private Trauerfeier sein sollte? Sollten sich die Angehörigen so an ihre Verstorbenen erinnern - als Zirkusattraktionen?

Mit Hilfe einiger Agentenkollegen gelang es Web, sich auf eine Bank zu quetschen. Dann sah er sich um. Die Familien saßen in den ersten beiden Reihen, die durch ein Seil abgesperrt waren. Web senkte den Kopf und sprach für jeden einzelnen der Männer ein Gebet. Am längsten verweilte er bei Teddy Riner, der Webs Mentor gewesen war, ein Top-Agent, ein wunderbarer Vater und insgesamt ein guter Mensch. Web vergoss ein paar Tränen, als ihm bewusst wurde, wie viel er tatsächlich in den wenigen Sekunden der Hölle verloren hatte. Doch als er nach vorn zu den Familienangehörigen schaute, war ihm klar, dass sein Verlust nicht mit dem dieser Menschen zu vergleichen war.

Den jüngeren Kindern wurde erst jetzt bewusst, was geschehen war. Web hörte ihr Schluchzen und Klagen, dass Daddy nie mehr zurückkehren würde. Und das Jammern ging während aller erschöpften Ansprachen weiter - vom Blödsinn der Politiker, dass härter gegen Verbrecher durchgegriffen werden müsse, bis zu den Priestern, die keinem der Männer, auf die sie Lobeshymnen sangen, jemals begegnet waren.

 

Web wäre am liebsten aufgestanden und hätte leise gesagt: Sie kämpften für das Gute. Sie starben beim Versuch, uns alle zu beschützen. Wir dürfen sie niemals vergessen, denn sie alle waren auf ihre persönliche Art unvergesslich. Ende der Lobrede. Amen. Jetzt lasst uns was trinken gehen.

 

Endlich war der Trauergottesdienst vorbei, und die Versammlung stieß einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus. Auf dem Weg nach draußen sprach Web mit Debbie Riner und sagte ein paar tröstende Worte zu Cynde Plummer und Carol Garcia. Auch mit den anderen redete er kurz und umarmte sie. Er ging in die Hocke und unterhielt sich mit den Kindern, hielt ihre kleinen zitternden Körper in den Armen und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Dieser einfache Kontakt ging ihm sehr zu Herzen, und er hätte beinahe mitgeheult. Er hatte noch nie zu Tränenausbrüchen geneigt, in der letzten Woche hatte er jedoch mehr geweint als in seinem ganzen Leben. Aber die Kinder machten ihn einfach fertig.

Jemand tippte ihm auf die Schulter. Als er aufstand und sich umdrehte, dachte Web, er müsste einen weiteren Trauernden trösten. Doch die Frau, die ihn anstarrte, schien sein Mitgefühl nicht im Geringsten zu benötigen.

Julie Patterson war die Witwe von Lou Patterson. Sie hatte vier Kinder und war mit einem fünften schwanger gewesen, doch nur drei Stunden, nachdem sie erfahren hatte, dass sie plötzlich zur Witwe und allein erziehenden Mutter geworden war, hatte sie eine Fehlgeburt gehabt. Ein Blick in ihre glasigen Augen verriet Web, dass die Frau unter der Einwirkung von starken Medikamenten stand, von denen er hoffte, dass sie von einem Arzt verschrieben worden waren.

Und sie roch nach Alkohol. Das war keine gute Mischung, insbesondere nicht an einem Tag wie heute. Von allen Frauen hatte Julie am wenigsten Kontakt zu Web gehabt, weil ihr Mann Web wie einen Bruder geliebt hatte, und Web hatte stets gespürt, dass Julie auf diese Beziehung eifersüchtig gewesen war.

»Findest du wirklich, dass du hier sein solltest, Web?«, fragte Julie. Sie schwankte leicht in ihren schwarzen Stöckelschuhen, und ihre Augen schienen Schwierigkeiten zu haben, sich auf ihn zu konzentrieren. Sie sprach schleppend, ihre Zunge setzte bereits zu den nächsten Worten an, bevor sie die letzten zu Ende gesprochen hatte. Sie wirkte aufgedunsen, und ihre Haut war blass, aber mit roten Flecken übersät. Ihre Schwangerschaft war noch nicht sehr weit fortgeschritten gewesen, aber sie sollte zu Hause im Bett liegen, und Web fragte sich, warum sie stattdessen in die Kirche gekommen war. »Julie, lass uns nach draußen gehen und etwas frische Luft schnappen. Komm, ich helf dir.«

»Fass mich nicht an!«, schrie Julie - laut genug, dass alle im Umkreis von zehn Metern zu ihnen herüberstarrten. Die Fernsehleute waren ebenfalls aufmerksam geworden, und der Kameramann und der Reporter schienen gleichzeitig die Sensation zu wittern. Die Kamera drehte sich in Webs Richtung, und der Reporter kam zu ihnen geeilt.

»Julie, lass uns nach draußen gehen«, wiederholte Web leise. Er legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.

»Mit dir gehe ich nirgendwohin, du Mistkerl!« Sie stieß Webs Hand weg, und er stöhnte vor Schmerz auf. Er hielt sich die verletzte Hand. Ihre Fingernägel hatten genau in das Loch gestochen, sodass die Naht aufgerissen war und die Wunde zu bluten begann.

»Wasislos? Tudir deine Hand weh, du feiges Arschloch? Du Frankensteingesicht! Wie kann es deine Mutter ertragen, dich anzusehen? Du Missgeburt, du!«

Cynde und Debbie versuchten, auf sie einzureden, sie zu beruhigen, aber Julie schubste sie weg und kam wieder auf Web zu. »Du bis' hingefallen, als die Schießerei anfing, aber du weißt nich', warum? Einfach hingefallen? Und du erwartest ernsthaft, dass wir diesen Stuss glauben?« Ihre Fahne war so überwältigend, dass Web für einen Moment die Augen schließen musste. Und das verstärkte nur sein Gefühl, in wenigen Augenblicken das Gleichgewicht zu verlieren.

»Feigling! Feigling! Du hast sie einfach sterben lassen! Wie viel hast du dafür bekommen? Wie viel hast du an Lous Blut verdient, du Schwein?«

»Mrs Patterson.« Percy Bates hatte sich ihnen genähert und sprach die Frau an. »Julie«, fügte er mit sehr ruhiger Stimme hinzu. »Wir werden Sie zu Ihrem Wagen bringen, bevor der Verkehr zu dicht wird. Ich habe Ihre Kinder bereits nach draußen bringen lassen.«

Julies Lippen zitterten, als er ihre Kinder erwähnte. »Wie viele sind es?« Bates reagierte mit Verwirrung. »Wie viele Kinder habe ich?«, fragte Julie. Sie legte eine Hand auf ihren leeren Bauch. Ihr schwarzes Kleid hatte viele feuchte Tränenflecken. Dann wandte sie sich wieder Web zu und fletschte hasserfüllt die Zähne. »Eigentlich sollten es fünf sein. Ich hatte fünf Kinder und einen Mann. Und jetzt habe ich nur noch vier Kinder und keinen Lou. Ich hab Lou und mein Baby verloren, und nur wegen dir! Du bist schuld!« Ihre Stimme wurde immer schriller, und ihre Hand vollführte seltsame Kreisbewegungen auf ihrem Unterleib, als würde sie eine Zauberlampe reiben, um sich zu wünschen, dass ihr Baby und ihr Mann zurückkamen. Die Kamera zeichnete gierig alles auf. Der Reporter kritzelte hektisch mit.

»Es tut mir Leid, Julie. Ich habe alles getan, was ich tun konnte«, sagte Web.

Julie hörte auf, sich den Bauch zu reiben, und spuckte ihm ins Gesicht. »Das ist für Lou.« Sie spuckte noch einmal. »Das ist für mein Baby. Fahr zur Hölle! Du wirst zur Hölle fahren, Web London.« Dann gab sie ihm eine Ohrfeige. Der Schlag traf ihn genau auf seine wiederhergestellte Wange. Diese Anstrengung hätte sie beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht. »Und das ist für mich, du Scheißkerl! Du... du...!«

Julie hatte sich völlig verausgabt, und Bates musste sie auffangen, bevor sie zusammengebrochen wäre. Er und seine Leute brachten sie hinaus, und die aufgeregte Menge zog sich zurück, um kleine Diskussionsgruppen zu bilden. Viele warfen Web wütende Blicke zu.

Web rührte sich nicht. Er hatte sich nicht einmal Julies Speichel abgewischt. Sein Gesicht war gerötet, wo sie ihn geschlagen hatte. Er war soeben als Missgeburt, als Feigling und als Verräter bezeichnet worden. Julie Patterson hätte ihm genauso gut den Kopf abschneiden und auch den mitnehmen können. Web hätte jeden Mann, der so etwas zu ihm gesagt hätte, zu Tode geprügelt. Aber von einer trauernden Witwe und Mutter musste er sich diese Worte gefallen lassen. Er hätte seine Wut über diese Ungerechtigkeit am liebsten gegen sich selbst gerichtet. Kein Wort von dem, was sie gesagt hatte, stimmte, aber wie konnte Web ihr in irgendeinem Punkt widersprechen?

»Entschuldigung, Sie sind Web London, nicht wahr?«, sagte der Reporter, der schräg hinter ihm stand. »Ich weiß, dass jetzt wahrscheinlich ein ungünstiger Augenblick ist, aber die Nachrichten warten nicht. Wären Sie bereit, mit uns zu reden?« Web antwortete nicht. »Kommen Sie«, sagte der Reporter. »Nur eine Minute. Nur ein paar Fragen.«

»Nein«, sagte Web und machte sich auf den Weg nach draußen. Bis zu diesem Moment war er sich gar nicht sicher, ob er wirklich noch zum Gehen imstande war.

»Hören Sie, wir werden auch mit der Dame sprechen. Und Sie möchten bestimmt nicht, dass die Öffentlichkeit nur von Mrs Pattersons Seite erfährt. Ich gebe Ihnen die Gelegenheit, Ihre Version der Geschichte zu erzählen. Schließlich wollen wir nicht ungerecht sein.«

Web drehte sich um und packte den Mann am Arm. »Es gibt keine >Seiten< oder >Versionen<. Und Sie werden die Frau in Ruhe lassen. Sie hat schon genug gelitten. Für den Rest ihres Lebens. Lassen Sie sie zufrieden! Haben Sie mich verstanden?«

»Ich mache nur meinen Job.« Der Reporter löste behutsam Webs Hand von seinem Arm und blickte sich zum Kameramann um. Ausgezeichnet, lautete der unausgesprochene Gedanke, den die beiden stumm austauschten.

Web ging zur Tür hinaus und entfernte sich mit schnellen Schritten von der Kirche der Berühmten und Betuchten. Er stieg in den Mach, startete den Motor und fuhr los. Er riss sich die Krawatte ab und schaute in seine Brieftasche, um sich zu vergewissern, dass er genügend Bargeld dabeihatte. Dann hielt er an einem Getränkeladen und kaufte sich zwei Flaschen billigen Chianti und ein Sechserpack Negra Modelo.

Er fuhr nach Hause, verschloss alle Türen und ließ vor allen Fenstern die Jalousien herunter. Er ging ins Bad, schaltete das Licht ein und betrachtete sich im Spiegel. Die Haut auf seiner rechten Gesichtshälfte war leicht gebräunt, relativ glatt, mit Ausnahme einiger Barthaare, die er nicht mit dem Rasierapparat erwischt hatte. Ein gutes Stück Haut, völlig in Ordnung. »Ein Stück Haut.« So musste er es heutzutage ausdrücken. Die Zeiten waren lange vorbei, in denen die Leute manchmal gesagt hatten, wie gut er aussah. Julie Patterson jedoch hatte keine Schwierigkeiten gehabt, eine Bemerkung zu seiner Visage zu machen. Aber Frankenstein? So hat mich noch niemand genannt, Julie. Wenn er länger darüber nachdachte, konnte er nicht mehr so viel Verständnis für diese Frau aufbringen. Du hättest Lou schon vor langer Zeit verloren, wenn Frankenstein nicht getan hätte, was ihn eine verdammte Hälfte seines Gesichts gekostet hatte. Hast du das schon vergessen? Ich habe es nicht vergessen, Julie. Ich sehe es jeden Tag im Spiegel.

Er drehte sich ein wenig, um seine linke Gesichtshälfte betrachten zu können. Dort wuchsen überhaupt keine Barthaare. Und die Haut wurde niemals braun. Die Ärzte hatten gesagt, dass so etwas geschehen konnte. Und es schien nicht genügend Haut zu sein, denn sie war sehr straff gespannt. Manchmal, wenn er lachen oder grinsen wollte, konnte er es nicht, weil diese Gesichtshälfte nicht mitmachen wollte, als wollte sie ihm sagen: Nicht mit mir, Kumpel! Schau, was du mir angetan hast! Die Verletzung reichte bis zum Auge, sodass die linke Augenhöhle etwas mehr in Richtung Schläfe gezogen war. Vor den Operationen hatte er ein recht asymmetrisches Gesicht gehabt. Jetzt sah es wesentlich besser aus, aber die zwei Seiten würden niemals richtig zusammenpassen.

Unter der transplantierten Haut waren ihm Plastik- und Metallteile eingesetzt worden, die den zerstörten Knochen ersetzten. Das Titan in seinem Gesicht ließ immer wieder die Metalldetektoren an Flughäfen Alarm geben. Keine Bange, Jungs, das ist nur die AK-47, die ich mir in den Arsch geschoben habe.

Web hatte sich zahllosen Operationen unterziehen müssen, bis sein Gesicht einigermaßen wiederhergestellt gewesen war. Die Ärzte hatten gute Arbeit geleistet, auch wenn er für immer verunstaltet sein würde. Wenigstens hatten die Chirurgen ihm gesagt, dass sie die Grenzen ihrer professionellen Fähigkeiten erreicht und bereits ein kleines Wunder vollbracht hatten, und ihm schließlich alles Gute gewünscht. Es war schwieriger gewesen, sich daran zu gewöhnen, als er gedacht hatte, und bis zum heutigen Tag konnte er nicht behaupten, dass er es geschafft hatte. Es war eben etwas, womit man niemals fertig wurde, vermutete er, da man es jeden Tag aufs Neue im Spiegel sah.

Er legte den Kopf noch etwas schiefer und zog den Kragen seines Hemds herunter, bis die alte Schusswunde unten am Hals sichtbar wurde. Sie befand sich genau dort, wo die Schutzweste aufhörte, und es war ein Wunder, dass die Kugel seine lebenswichtigen Arterien und die Wirbelsäule verfehlt hatte. Die Wunde sah aus wie eine Verbrennung durch eine Zigarre. Zu groß zum Kunststopfen, wie er gescherzt hatte, als er im Krankenhaus gelegen hatte, ein Patient, dem eine Gesichtshälfte fehlte und der zwei große Löcher im Körper hatte. Und alle anderen hatten mit ihm gelacht, obwohl er genau ihr nervöses Unbehagen gespürt hatte. Man war zuversichtlich gewesen, dass er durchkommen würde, und er hatte es geschafft. Aber niemand von den anderen wusste, welche körperlichen und sonstigen

Albträume von seinen Verbänden verdeckt wurden. Die plastischen Chirurgen hatten ihm angeboten, die Schusswunden zu kaschieren. Aber Web hatte Nein gesagt. Er hatte genug von Ärzten, die ihm an einer Stelle ein Stück Haut klauten, um es anderswo wieder anzukleben. Besser würde der alte Web nicht mehr aussehen.

Er berührte die Stelle auf der Brust, wo sich seine zweite ruhmreiche »Zigarrenverbrennung« befand. Die Kugel war in seinen Körper eingedrungen und an der Rückseite der Schulter ausgetreten. Irgendwie war sie auf beiden Seiten an seiner Kevlar-Weste vorbeigekommen und hatte anschließend noch genügend Energie besessen, den Kopf eines Kerls zu zertrümmern, der hinter Web stand und gerade seinen Schädel mit einer Machete spalten wollte. Wenn das kein Glück war! Web lächelte sein Spiegelbild an. »Das Glück ist mit den Tüchtigen«, sagte er.

Das HRT hatte stets den größten Respekt vor seinem Heldentum gezeigt, mit dem er in jener Nacht in den Kampf gezogen war. Es war die Geiselnahme durch die »Freie Gesellschaft« an der Schule in Richmond, Virginia, gewesen. Web war kurz zuvor von den Scharfschützen zu den Kämpfern gewechselt und hatte sich noch nicht völlig eingelebt. Er war noch darauf bedacht gewesen, allen zu zeigen, was in ihm steckte. Dann hatte einer der »Freien« einen selbst gebrauten Cocktail geworfen, und Lou Patterson hätte die volle Wucht der Explosion abbekommen, wenn Web ihn nicht zur Seite gestoßen hätte. Der Feuerball hatte Webs linke Gesichtshälfte gestreift, ihn zu Boden geworfen und seine Maske mit der Haut verschmolzen. Er hatte sie sich abgerissen und dabei gleichzeitig einen Teil seines Gesichts verloren, aber unbeirrt weitergekämpft. Das Adrenalin, das bei jedem Kampf im Überfluss strömte, war das Einzige gewesen, das seine furchtbaren Schmerzen betäubt hatte.

Die Geiselnehmer hatten das Feuer eröffnet, und Web war in den Brustkorb getroffen worden. Die zweite Kugel hatte seinen Hals erwischt. Viele unschuldige Menschen wären gestorben, wenn Web nicht nach diesen Verletzungen weitergemacht hätte. Statt ihn zu schwächen, schienen die Treffer ihm neue Energie zu geben. Er hatte drei Männer getötet, die ihn und sein Team hatten töten wollen! Er hatte verletzte Kameraden in Sicherheit gebracht, einschließlich Lou Patterson, der einen Schuss in den Arm abbekommen hatte, nur eine Minute, nachdem Web ihn vor den Flammen gerettet hatte. Die Taten, die Web in jener Nacht vollbracht hatte, übertrafen bei weitem, was er im Hinterhof geleistet hatte; denn er war die ganze Zeit schwer verletzt gewesen und hatte nicht nur einen Kratzer an der Hand gehabt, der lediglich ein Fall für die erste Hilfe war. Sowohl für die Veteranen als auch für die Neuzugänge in der Geiselrettung war Web eine Legende. Und in der von schärfster Konkurrenz geprägten Alpha-Männchen-Gruppe gab es keine bessere Möglichkeit, in der Hackordnung aufzusteigen, als einen schweren Kampf mit Tapferkeit und Geschick zu bestehen. Und es hatte ihn nicht mehr gekostet als das meiste Blut, das sich in seinem Körper befunden hatte, und ein paar Kratzer an seiner Eitelkeit.

Web konnte sich nicht einmal an die Schmerzen erinnern. Doch als die letzte Kugel abgefeuert und der letzte Mann zu Boden gegangen war, war auch er zusammengebrochen. Er hatte die offene Wunde in seinem Gesicht berührt und gespürt, wie er aus zwei Löchern blutete. Da hatte Web gewusst, dass für ihn nun die Zeit zum Sterben gekommen war.

Im Krankenwagen war er vom Schock bewusstlos geworden, und als man ihn endlich bei den Ärzten des Medical College of Virginia abgeliefert hatte, war er klinisch so gut wie tot gewesen. Wie er in jener Nacht zurückgekehrt war, blieb ein Rätsel. Web hatte jedenfalls keine Antwort auf diese Frage. Er war nie besonders religiös gewesen, aber danach hatte er begonnen, sich Gedanken über Gott und ähnliche Dinge zu

machen.

Seine Gesundung war das Schmerzhafteste, was Web jemals durchgemacht hatte. Obwohl er nun ein Held war, gab es keine Garantie, dass er jemals zum HRT würde zurückkehren können. Zum Glück hatten seine Gesichtsverletzungen weder sein Augenlicht noch seine Zielsicherheit beeinträchtigt. Wer nicht perfekt war, hatte im Geiselrettungsteam nichts verloren. Die psychologischen Torturen seiner Rehabilitation waren jedoch viel schlimmer als die physischen Quälereien gewesen. Konnte er feuern, wenn er den Befehl erhielt? Würde er sein Team während einer Krise in Gefahr bringen? Nein, damit hatte er niemals Probleme gehabt - zumindest nicht, bis er auf diesen verdammten Hinterhof gekommen war. Er war zurückgekommen, und alles war wieder so gewesen wie früher. Es hatte fast ein Jahr gedauert, aber niemand konnte sagen, er hätte es nicht verdient, an seinen Platz zurückzukehren, aus eigener Kraft und ohne Sonderbehandlung. Aber was würden die Leute jetzt sagen? Würde er es auch diesmal schaffen, wieder der Alte zu werden? Diesmal war es nur ein Problem in seinem Kopf, und das war hundertmal schwieriger und erschreckender.

Web ballte eine Faust und trieb sie mitten durch den Spiegel. Er schlug sogar ein Loch in die Wand dahinter. »Ich habe sie nicht sterben lassen, Julie«, sagte er zu den Scherben. Er betrachtete seine Hand. Sie blutete nicht einmal. Seine Glückssträhne schien immer noch anzuhalten. Na bitte.

Er öffnete den zertrümmerten Medikamentenschrank und nahm ein Fläschchen heraus, in dem sich die unterschiedlichsten Tabletten befanden. Er hatte sie über einen längeren Zeitraum aus verschiedensten Quellen gesammelt, teils offiziell, teils inoffiziell. Er hatte sie gelegentlich benutzt, wenn er Schwierigkeiten mit dem Einschlafen gehabt hatte. Allerdings war er stets vorsichtig gewesen, weil er in der Zeit, als man sein Gesicht wiederaufbaute, beinahe von den Schmerzmitteln

abhängig geworden wäre.

Web schaltete das Licht aus, und Frankenstein verschwand.

Verdammt, jeder wusste doch, dass Monster sich in der Dunkelheit wohl fühlten.

Er ging hinunter ins Erdgeschoss und stellte sorgfältig alle Flaschen mit alkoholischen Getränken rund um sich auf, wie ein General, der mit seinen Adjutanten den Schlachtplan besprach. Aber er öffnete nicht eine einzige Flasche. Alle paar Minuten klingelte das Telefon, aber Web ging nicht ran. Es klopfte an der Tür, aber er machte nicht auf. Web saß nur da und starrte auf eine Wand, bis es recht spät geworden war. Er kramte in den Tabletten, bis er eine Kapsel nahm und herausholte. Er betrachtete sie und tat sie dann zurück. Er lehnte sich gegen einen Sessel und schloss die Augen. Um vier Uhr morgens schlief er im Sitzen ein. Er hatte sich noch immer nicht die Mühe gemacht, sich das Gesicht zu waschen.

 

KAPITEL 14

 

Sieben Uhr morgens. Web wusste, wie spät es war, weil die Uhr auf dem Kaminsims schlug, als er sich benommen vom Fußboden aufrappelte. Er rieb sich Hals und Genick. Er setzte sich auf, und dabei stieß er mit dem Fuß gegen eine Weinflasche. Sie fiel um, zersprang, und Chianti ergoss sich über den Boden. Web warf die Flasche in den Abfall, holte ein paar Haushaltstücher und wischte die Flüssigkeit auf. Danach waren seine Hände rot vom Wein, und einen benebelten Augenblick lang war sein träger Geist der Überzeugung, dass man auf ihn geschossen hatte, während er schlief.

Die Geräusche vor dem hinteren Fenster seines Hauses veranlassten ihn, die Treppe hochzustürmen und sich seine Pistole zu schnappen. Web ging zur Vordertür und hatte vor, sich von draußen anzuschleichen, um unbeobachtet festzustellen, was los war. Vielleicht war es nur ein streunender Hund oder ein Eichhörnchen, aber Web glaubte nicht daran. Menschliche Füße, die sich bemühten, möglichst leise aufzutreten, hatten einen ganz bestimmten Klang, wenn man auf solche Dinge zu achten verstand. Und Web verstand es.

Als er die Tür öffnete, kam der Ansturm der Menschenmenge so überraschend, dass Web beinahe seine Waffe gezogen und geschossen hätte. Die Reporter wedelten mit Mikrofonen und Notizblöcken und riefen ihm so schnell Fragen zu, dass es den Anschein hatte, sie würden Mandarin sprechen. Sie schrien ihm zu, er sollte in diese oder jene Richtung blicken, damit sie ihn fotografieren oder filmen konnten, als wäre er ein prominenter Star - oder wohl eher ein Tier im Zoo. Web blickte über die Menge hinweg auf die Straße, wo die Medienkreuzer mit ihren hohen elektronischen Masten neben seinem bescheidenen Auto vor Anker gegangen waren. Die zwei FBI-Agenten, die man abgestellt hatte, um sein Haus zu bewachen, versuchten die Masse zurückzuhalten, aber gegen diese Übermacht hatten sie nicht die geringste Chance.

»Was wollen Sie hier?«, schrie Web.

Eine Frau im beigefarbenen Leinenanzug, das blonde Haar kunstvoll hochgesteckt, schob sich nach vorn und stellte einen Fuß im Stöckelschuh auf die steinerne Schwelle, nur wenige Zentimeter von Webs Fuß entfernt. Als er ihr schweres Parfüm roch, drehte sich ihm der leere Magen um. »Ist es wahr«, fragte sie, »dass Sie behaupten, Sie wären gestürzt, kurz bevor alle übrigen Mitglieder Ihrer Einsatzgruppe getötet wurden, und dass Sie keine Erklärung dafür haben? Und dass das der Grund ist, warum Sie überlebt haben?« Die Bewegung ihrer Augenbrauen verriet ganz genau, was die Frau von dieser absurden Geschichte hielt.

»Ich... «

Ein anderer Reporter, ein Mann, hielt Web sein Mikrofon vors Gesicht. »Es gab Berichte, nach denen Sie gar nicht mit Ihrer Waffe geschossen haben sollen, dass das Maschinengewehrfeuer irgendwie von selbst aufhörte und dass Sie in Wirklichkeit niemals in Gefahr waren. Was sagen Sie dazu?«

Die Masse der Körper bestürmte Web mit weiteren Fragen. »Ist es wahr, dass Sie während Ihrer Zeit im Washington Field Office eine Bewährungstrafe erhielten, weil Sie einen Regelverstoß begingen, der zur Verletzung eines Verdächtigen führte?«

»Was, zum Teufel, hat das mit...«, sagte Web.

Eine andere Frau drängte sich von der Seite an ihn heran. »Ich habe aus zuverlässigen Quellen erfahren, dass der Junge, den sie angeblich gerettet haben, in Wirklichkeit ein Komplize bei dieser Aktion war.«

Web starrte sie an. »Wessen Komplize? Wobei?«

Die Frau bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir diese Frage beantworten.«

Web schlug die Tür zu, lief in die Küche, schnappte sich die Schlüssel des Suburban und ging wieder nach draußen. Er drängte sich durch die Menge und warf seinen Agentenkollegen Hilfe suchende Blicke zu. Sie näherten sich ihm, versuchten ein paar Leute aus dem Weg zu ziehen, aber Web hatte den Eindruck, dass sie nur halbherzig bei der Sache waren. Außerdem wichen sie seinem Blick aus. So läuft der Laden also, dachte Web.

Plötzlich schob sich die Menge dichter an ihn heran und versperrte ihm den Weg zu seinem Fahrzeug.

»Gehen Sie beiseite!«, schrie Web. Er sah sich um. Die gesamte Nachbarschaft beobachtete das Geschehen. Männer, Frauen und Kinder, die seine Freunde oder zumindest Bekannte waren, verfolgten dieses Spektakel mit großen Augen und offenen Mündern.

»Werden Sie auf Mrs Pattersons Anklagepunkte antworten?«

Web hielt inne und sah sich den Mann an, der diese Frage gestellt hatte. Es war der Reporter vom Trauergottesdienst.

»Nun?«, drängte er hartnäckig.

»Ich wusste gar nicht, dass Julie Patterson das Recht hat, Anklage zu erheben«, sagte Web.

»Sie hat sehr deutlich gemacht, dass Ihr Verhalten entweder auf Feigheit beruht oder dass Sie irgendwie involviert sind. Dass man Sie bezahlt hat.«

»Sie wusste nicht, was sie sagte. Sie hat soeben ihren Mann und ihr ungeborenes Kind verloren.«

»Also behaupten Sie, dass diese Vorwürfe falsch sind?«, bohrte der Mann weiter und schob das Mikrofon näher an Web heran. Irgendjemand stieß von hinten gegen ihn, worauf Web das Mikrofon ins Gesicht gerammt wurde. Er blutete aus dem

Mundwinkel. Bevor er wusste, was er tat, hatte Web seine Faust hochgerissen, dann lag der Reporter am Boden und hielt sich die Nase. Doch der Angriff schien ihn nicht sehr aus der Fassung gebracht zu haben. Er schrie seinen Kameraleuten zu: »Habt ihr das? Habt ihr es gefilmt?«

Wieder bestürmte ihn die Menge, und Web wurde wie ein Spielball hin und her geschubst. Kameras richteten sich auf sein Gesicht, und die Blitze blendeten ihn. Schwere Videoausrüstungen zeichneten alles auf, und zahllose Stimmen redeten gleichzeitig auf ihn ein. Schließlich verfing sich Webs Fuß in einem Kabel, und er ging zu Boden. Die Menge schien ihn verschlingen zu wollen, aber er kämpfte sich wieder nach oben. Die Situation war längst außer Kontrolle geraten. Web spürte, wie ihn eine knochige Faust in den Rücken traf. Als er sich umdrehte, erkannte er den Angreifer, einen Mann, der in der Nachbarschaft wohnte und mit dem Web bisher kaum Kontakt gehabt hatte. Bevor Web sich verteidigen konnte, lief der Mann davon. Allmählich wurde ihm klar, dass die Menge nicht nur aus Reportern bestand, die um den Pulitzer-Preis wetteiferten. Es war ein Mob.

»Lassen Sie mich in Ruhe, verdammt noch mal!«, brüllte Web. Dann schrie er die beiden Agenten an. »Wollen Sie mir nun helfen oder nicht?«

»Jemand sollte die Polizei rufen«, sagte die parfümierte Blondine und zeigte auf Web. »Er hat gerade diesen unschuldigen Mann angegriffen. Wir alle haben es gesehen.« Sie bückte sich, um ihrem gestürzten Kollegen auf die Beine zu helfen, während überall Handys aus den Taschen gezogen wurden.

Web betrachtete das Chaos. So etwas hatte er noch nie erlebt, und er hatte schon viel mehr als die meisten Menschen erlebt. Aber nun hatte er definitiv genug. Er zog seine Pistole. Als die Leute es sahen, schienen sie plötzlich aufzuwachen. Web richtete die Pistole senkrecht nach oben. Nun zog sich der Mob auf allen Seiten von ihm zurück. Einige stürzten, schrien auf und flehten ihn an, sie nicht zu erschießen, weil sie doch alle nur ihren Job machten. Die parfümierte Blondine ließ ihren geschätzten Kollegen einfach zurück in den Dreck fallen und lief um ihr Leben. Ihre hohen Absätze versanken im weichen Gras, aber sie rannte weiter und ließ ihre Schuhe zurück. Ihr voller Hintern hätte ein prächtiges Ziel abgegeben, wenn Web geneigt gewesen wäre, seine Waffe darauf zu richten. Der Reporter mit der blutigen Nase kroch auf dem Bauch davon und schrie: »Habt ihr das? Verdammt, Seymour, hast du alles aufgezeichnet?« Die Nachbarn griffen ihre Kinder und flüchteten zurück in ihre Häuser.

Web steckte die Pistole wieder ein und ging zum Suburban. Als sich die Agenten näherten, sagte er nur: »Denken Sie nicht einmal daran!« Er stieg in den Wagen und startete den Motor. Dann kurbelte er das Seitenfenster herunter. »Vielen Dank für die Hilfe«, sagte er zu den beiden Männern, dann fuhr er davon.

 

KAPITEL 15

 

»Haben Sie völlig den Verstand verloren?« Buck Winters starrte Web an, der neben der Tür des kleinen Konferenzraums im Washington Field Office stand. Percy Bates hielt sich in Webs Nähe. »Die Waffe zu ziehen, vor einer Horde von Reportern, während alles gefilmt wird! Haben Sie den Verstand verloren?«, wiederholte er.

»Vielleicht!«, gab Web zurück. »Trotzdem will ich wissen, wer Informationen an Julie Patterson weitergegeben hat. Ich dachte, die Untersuchung dieses Falls wäre vertraulich. Woher hat sie gewusst, was ich zu den Ermittlern gesagt habe?«

Winters warf Bates einen angewiderten Blick zu. »Bates, Sie waren der Mentor dieses Kerls. Wie konnten Sie die Sache so verpatzen?« Er wandte sich wieder Web zu. »Dieser Fall wird von mehreren Ermittlern bearbeitet. Spielen Sie nicht die erstaunte Jungfrau, wenn etwas durchsickert, vor allem nicht, wenn eine Ehefrau wissen will, was mit ihrem Mann geschehen ist. Sie haben den Kopf verloren, Web, Sie haben Mist gebaut, und es ist nicht das erste Mal.«

»Hören Sie, ich trete vor meine Haustür und werde von einem Mob bestürmt, und meine eigenen Leute rühren keinen Finger, um mir zu helfen. Man hat mich geschlagen, mir niederträchtige Anschuldigungen ins Gesicht geschrien. Ich habe nur getan, was jeder in einer solchen Situation getan hätte.«

»Zeigen Sie ihm, was er getan hat, Bates.« Bates ging stumm zu einem Fernseher, der in einer Ecke stand. Er nahm die Fernbedienung und drückte verschiedene Knöpfe. »Mit besten Empfehlungen von der Medienabteilung«, sagte Winters. Als das Videoband anlief, sah Web das Innere der Kirche während des Trauergottesdienstes. Und er sah, wie Julie Patterson sich den Bauch rieb, in dem sich kein Baby mehr befand, wie sie ihn anschrie, ihm ins Gesicht spuckte und ihn mit all ihrer Kraft schlug. Und wie er einfach nur dastand und alles stumm über sich ergehen ließ. Seine Antwort, dass er alles getan hatte, was er konnte, war auf mysteriöse Weise abhanden gekommen. Zumindest war sie nicht zu hören. Auf dem Band sagte er lediglich zu Julie: »Es tut mir Leid.« Dadurch erweckte Web den Eindruck, dass er selbst auf Lou Patterson geschossen hatte.

»Und das ist noch gar nicht das Beste«, sagte Winter, der nun aufstand und Bates die Fernbedienung aus der Hand nahm. Er ließ das Band weiterlaufen, und Web sah die Szenen, die sich vor seinem Haus abgespielt hatten. Sie waren geschickt geschnitten worden, und es herrschten enge Bildausschnitte vor, sodass die aggressive Stimmung des Mobs verschwunden war. Die einzelnen Reporter wirkten professionell und sogar aufdringlich, aber in jeder Hinsicht rücksichtsvoll. Der Kerl, den Web geschlagen hatte, machte einen besonders heldenhaften Eindruck. Er gab sich keine Mühe, seine blutige Nase vor den Zuschauern zu verbergen, sondern kündigte sachlich den Wahnsinn an, den das Publikum miterleben würde. Und dann war Web zu sehen, der wie ein tollwütiges Tier tobte. Er schrie, fluchte und hob dann seine Waffe. Es schien beinahe, als würde er die Pistole in Zeitlupe ziehen, sodass es wirkte, als würde er sie absichtlich und gezielt einsetzen wollen, nicht wie ein Mann, der um sein Leben kämpfte. Es folgten einige erschreckende Bilder von Nachbarn, die mit ihren Kindern flüchteten, um sich vor diesem Wahnsinnigen in Sicherheit zu bringen. Und dann stand Web ganz allein da. Eiskalt steckte er die Waffe wieder ein und entfernte sich seelenruhig vom Chaos, das er verursacht hatte.

Außer in Hollywood-Filmen hatte Web noch nie zuvor Szenen gesehen, die so geschickt manipuliert worden waren. Er wurde als sadistisches, bösartiges Monstrum dargestellt, der Mann mit dem Frankenstein-Gesicht. Die Kamera hatte die Spuren seiner Verletzungen aus mehreren Blickwinkeln eingefangen, aber nirgendwo wurde erwähnt, wie er dazu

gekommen war.

Web schüttelte den Kopf und sah Winters an. »Verdammt«, sagte er, »so war es gar nicht. Ich bin doch nicht Charles Manson.«

Winters regte sich auf. »Wen interessiert es, ob es die Wahrheit ist oder nicht? Nur die Wahrnehmung zählt. Diese Bilder laufen jetzt auf jedem Fernsehkanal der Stadt. Und sie werden gerade von landesweiten Sendern übernommen. Herzlichen Glückwünsch, Sie haben für dicke Schlagzeilen gesorgt. Der Chef hat eine wichtige Besprechung in Denver verlassen und ist sofort zurückgeflogen, als er darüber informiert wurde. Sie sitzen mit dem Arsch im Feuer, London, und zwar mittendrin.«

Web ließ sich in einen Sessel fallen und sagte nichts. Bates nahm ihm gegenüber Platz und trommelte mit einem Stift auf dem Tisch.

Winters baute sich vor ihm auf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Web hatte den Eindruck, dass es dem Kerl einen Riesenspaß machte, ihn zusammenzuscheißen.

»Sie wissen vielleicht, dass die Philosophie der Bundespolizei vorsieht, auf so einen Fall mit Nichtstun zu reagieren. Wir haben die Vogel-Strauß-Politik schon des Öfteren eingesetzt. Manchmal funktioniert sie, manchmal nicht, aber die hohen Tiere ziehen diese Form der passiven Verteidigung vor. Je weniger gesagt wird, desto besser.«

»Schön für sie. Ich habe das FBI nicht darum gebeten, nichts für mich zu tun, Buck.«

Bates meldete sich wieder zu Wort. »Nein, Web, diese Sache werden wir nicht mit eingezogenen Köpfen über uns ergehen lassen. Diesmal nicht.« Bates zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Erstens werden die Leute von der Medienabteilung selber einen Film mit den Highlights zusammenstellen. Im Augenblick hält die Welt Sie für einen gefährlichen Irren. Sie werden Fakten vorlegen, die beweisen, dass Sie einer der hochkarätigsten Agenten sind, die wir jemals hatten. Wir werden Pressemitteilungen herausgeben, in denen alle Einzelheiten nachzulesen sind. Zweitens würde unser guter Buck Sie am liebsten auf der Stelle erwürgen, aber er wird morgen Mittag eine Pressekonferenz geben, die vom Fernsehen übertragen wird. Und darin wird er klarstellen, dass Sie ein ganz hervorragender Agent sind, bevor wir unseren Film zeigen und Sie in Ihrer ganzen Pracht präsentieren. Und wir werden weitere Einzelheiten über die Geschehnisse in dieser Seitenstraße veröffentlichen, die eindeutig beweisen, dass Sie nicht getürmt sind, sondern im Alleingang ein Waffenstellung ausgeschaltet haben, die genügt hätte, ein gesamtes Bataillon auszulöschen.«

»Das können Sie nicht tun, solange die Ermittlungen noch laufen«, sagte Web. »Damit könnten Sie den falschen Leuten wichtige Hinweise geben.«

»Wir sind bereit, dieses Risiko einzugehen.«

Web blickte zu Winters auf. »Es ist mir egal, was all diese Leute über mich denken! Ich weiß, was ich getan habe. Ich will auf keinen Fall, dass etwas unternommen wird, das die Untersuchungen gefährdet. Ich will, dass Sie herausfinden, warum mein Team vernichtet wurde!«

Winters' Gesicht näherte sich dem von Web bis auf wenige Zentimeter. »Wenn es nach mir ginge, wären Sie schon längst achtkantig rausgeflogen. Aber manche Leute im FBI betrachten Sie als eine Art Held, und es wurde entschieden, dass wir für Ihre Ehre kämpfen. Glauben Sie mir, ich habe mich dagegen ausgesprochen, weil wir damit in der Öffentlichkeit nicht gerade ein gutes Bild abgeben. Der Einzige, der in einem positiven Licht dasteht, werden Sie sein.« Er sah sich zu Bates um. »Aber Ihr Freund hat diese Kampf gewonnen.«

Web warf Bates einen überraschten Blick zu.

»Den Kampf, aber nicht den Krieg«, fuhr Winters fort. »Und ich habe nicht vor, einen Märtyrer aus Ihnen zu machen.« Winters betrachtete Webs verletztes Gesicht. »Einen entstellten Märtyrer. Und jetzt wird Perce mit Ihnen die Einzelheiten der Show durchgehen, die das FBI inszeniert, um die Sauerei aufzuräumen, die Sie angerichtet haben. Ich werde nicht bleiben und es mir ansehen, weil ich wahrscheinlich kotzen müsste. Nur eins noch, Web London, und Sie sollten mir sehr gut zuhören: Im Augenblick hängen Sie an einem ganz dünnen Faden, und ich würde nichts lieber tun, als diesen Faden zu zerschneiden. Ich werde Sie so aufmerksam beobachten, dass ich jeden Ihrer Atemzüge zählen kann. Und wenn Sie wieder Mist bauen, kommt sofort der Hammer, und Sie sind weg vom Fenster. Und dann werde ich die dickste Zigarre rauchen, die ich auftreiben kann. Ist das klar?«

»Ja. Wesentlich klarer als Ihre Anweisungen in Waco.«

Winters richtete sich auf, und die beiden Männer starrten sich eine Weile an.

»Ich habe mich schon immer gefragt, Buck«, sagte Web schließlich, »wie es kommt, dass Sie der Einzige in der BefehlsHierarchie - Entschuldigung, der Chaoshierarchie - sind, dessen Karriere nicht unter diesem Fiasko gelitten hat. Wissen Sie, als ich da draußen mehrere Male auf meinem Posten als Scharfschütze Dienst schob, habe ich wirklich gedacht, Sie würden für die Davidianer arbeiten, weil Sie ständig so merkwürdige Entscheidungen getroffen haben.«

»Web, halten Sie die Klappe!«, sagte Bates streng und warf Winters einen besorgten Blick zu. »Ich übernehme von jetzt an, Buck.«

Winters starrte Web noch einige Sekunden lang an, dann marschierte er zur Tür. Aber er drehte sich noch einmal um. »Wenn es nach mir ginge, würde es gar kein HRT geben. Und irgendwann wird es nach mir gehen. Raten Sie mal, welches Arschloch dann zuerst gehen wird? Das ist die

Befehlshierarchie!«

Winters schloss die Tür, und Web stieß den Atem aus. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er die Luft angehalten hatte. Dann fiel Bates über ihn her. »Ich habe gerade meinen Kopf für Sie hingehalten, ich habe sämtliche Beziehungen spielen lassen, die ich in der Bundespolizei aufgebaut habe, und Sie hätten es beinahe vermasselt. Was haben Sie sich dabei gedacht, Winters so eine Ohrfeige zu verpassen? Sind Sie wirklich nur ein verdammter großer Trottel?«

»Es scheint so«, antwortete Web trotzig. »Aber ich habe niemanden um etwas gebeten. Die Presse kann mich meinetwegen fertig machen, aber nichts und niemand darf die Ermittlungen gefährden.«

»Ihretwegen bekomme ich noch einen Herzinfarkt.« Allmählich beruhigte sich Bates. »Okay, so lautet Ihr Marschbefehl: Sie werden für eine Weile untertauchen. Gehen Sie nicht nach Hause. Wir stellen Ihnen einen Wagen aus dem Fahrzeugpark zur Verfügung. Fahren Sie irgendwohin und bleiben Sie dort für eine Weile. Das FBI wird für Ihre Rechnungen geradestehen. Wir werden über Ihr sicheres Handy Kontakt halten. Melden Sie sich regelmäßig. Auch wenn Sie jetzt im Fernsehen ziemlich mies aussehen, das wird sich schlagartig ändern, wenn wir unsere Version vorgestellt haben. Und wenn ich Sie in den nächsten dreißig Tagen irgendwo in der Nähe von Buck Winters sehe, werde ich Sie persönlich erschießen. Und jetzt verschwinden Sie von hier!« Bates ging zur Tür, doch Web blieb sitzen.

»Perce, warum tun Sie das alles? Sie gehen ein großes Risiko ein, wenn Sie sich für mich einsetzen.«

Bates betrachtete den Fußboden. »Es klingt vermutlich ziemlich blöd, aber es ist die Wahrheit. Ich tue es, weil der Web London, den ich kenne, sein Leben für die Bundespolizei häufiger aufs Spiel gesetzt hat, als ich mich erinnern kann. Weil ich gesehen habe, wie Sie drei Monate lang im Krankenhaus lagen, während ich nicht wusste, ob Sie durchkommen würden. Damals hätten Sie mit vollem Gehalt in den Ruhestand gehen und ein angenehmes Leben führen können. Um zu angeln, oder was immer pensionierte FBI-Agenten am liebsten tun. Aber Sie sind zurückgekehrt und haben sich wieder in die vorderste Reihe stellen lassen. Ich kenne nicht viele Männer, die so etwas getan haben.« Er holte tief Luft. »Und weil ich weiß, was Sie in diesem Hinterhof getan haben, auch wenn der Rest der Welt keine Ahnung hat. Aber die Welt wird davon erfahren, Web, darauf können Sie Gift nehmen. Heutzutage gibt es nicht mehr viele Helden. Aber Sie sind einer der wenigen. Mehr werde ich dazu nicht sagen. Und Sie werden mich nie wieder danach fragen.«

Er ging und ließ Web zurück, der plötzlich über eine ganz andere Seite von Percy Bates nachdenken musste.

Es war fast Mitternacht, und Web war unterwegs. Er stieg über Zäune und schlich sich durch die Gärten von Nachbarn. Sein Vorhaben war einfach und absurd zugleich. Er musste durch ein Fenster auf der Rückseite in sein eigenes Haus einbrechen, weil auf der Vorderseite immer noch die Medien auf der Lauer lagen. Um ihn zu erwischen und fertig zu machen. Zwei uniformierte Sicherheitsbeamte des FBI waren ebenfalls anwesend, unterstützt durch einen Streifenwagen der Polizei von Virginia, dessen Blaulicht durch die Dunkelheit rotierte. Web hoffte, dass es zu keinem weiteren Aufruhr kam. Dass niemand beobachtete, wie er durch sein eigenes Badezimmerfenster einstieg. Dann hatte er verloren.

Web packte im Dunkeln leise einige Sachen in einen Beutel, warf noch etwas Extramunition hinein und einige andere Gegenstände, die sich als nützlich erweisen mochten. Dann kroch er wieder nach draußen. Er stieg über den Zaun in den Garten seines Nachbarn, dann hielt er an. Er holte einen batteriebetriebenen Restlichtverstärker aus dem Sack und setzte ihn auf. Nun war die Dunkelheit genauso hell wie bei Tageslicht, auch wenn das Bild einen starken Grünstich hatte. Er beobachtete die Armee, die vor seinem Haus kampierte und stellte eine stärkere Vergrößerung ein. All diese Leute, deren einziges Ziel im Augenblick darin bestand, so viel Schmutz wie möglich zu Tage zu fördern und die Wahrheit zum Teufel zu schicken, veranlassten Web zur Erkenntnis, dass man jede sich bietende Gelegenheit zur Revanche unverzüglich wahrnehmen sollte. Und im Augenblick hatte er das dringende Bedürfnis, ein Hühnchen zu rupfen. Web nahm sich eine Leuchtpistole, lud sie mit einer Patrone, zielte auf einen Punkt am Himmel, der sich genau über dieser Gruppe aus lauter netten Leuten befand, und feuerte. Die Leuchtkugel flog in die Höhe, explodierte und tauchte die Umgebung in einen gelblichen Schein. Web beobachtete durch das Nachtsichtgerät, wie die Schar netter, vorbildlicher Leute erschrocken aufblickte und dann schreiend um ihr Leben lief. Es waren wirklich die kleinen Dinge, die das Leben so angenehm machten: einen Spaziergang zu machen, einen Regenschauer zu genießen, mit Hundewelpen zu spielen oder einer Horde scheinheiliger Reporter einen gewaltigen Schrecken einzujagen.

Er lief zurück zu dem Crown Vic, den Bates ihm zur Verfügung gestellt hatte, und fuhr davon. Web verbrachte die Nacht in einem dreckigen Motel an der Route One südlich von Alexandria. Hier konnte er bar bezahlen, niemand behelligte ihn, und der einzige Zimmerservice war die McDonald's-Tüte, die man selbst mitbrachte, oder der Getränke- und Snackautomat, der draußen vor seinem Zimmer an eine mit Graffiti beschmierte Säule angekettet war. Er sah fern und aß seinen Cheeseburger mit Pommes frites. Dann nahm er das Tablettenfläschchen aus seinem Beutel und schluckte zwei Pillen. Kurz danach fiel er in einen tiefen Schlaf, und ausnahmsweise wurde er in dieser Nacht nicht von Albträumen heimgesucht.

 

KAPITEL 16

 

An einem frühen Samstagmorgen fuhr Scott Wingo mit seinem Rollstuhl eine Rampe hinauf und schloss die Tür eines vierstöckigen Ziegelhauses aus dem neunzehnten Jahrhundert auf, in dem sich sein Büro befand. Wingo war geschieden, hatte erwachsene Kinder und eine florierende Anwaltspraxis in Richmond, der Stadt, in der er geboren war und in der er sein gesamtes Leben verbracht hatte. Die Sonnabende waren für ihn die Zeit, in der er sein Büro aufsuchte und nicht von klingelnden Telefonen, klappernden Tastaturen, genervten Kollegen und anstrengenden Klienten belästigt wurde. Diese Nettigkeiten verteilten sich auf die übrige Woche. Er ging hinein, machte sich eine Kanne Kaffee, würzte sie mit Gentleman Jim, seinem Lieblingsbourbon, und rollte in sein Arbeitszimmer.

Die Rechtsanwälte Scott Wingo und Partner waren seit fast dreißig Jahren eine feste Institution in Richmond. Wingo hatte allein in einem Büro angefangen, das kaum größer als ein Kleiderschrank gewesen war, und praktisch jeden verteidigt, der genug Geld hatte, um ihn zu bezahlen, und heute war er Chef eines Unternehmens mit sechs Anwälten, einem Privatdetektiv, der ausschließlich für ihn arbeitete, und acht Angestellten. Als einziger Teilhaber der Firma machte er in einem guten Jahr einen Gewinn in siebenstelliger Höhe und blieb selbst in schlechten Zeiten im mittleren sechsstelligen Bereich. Und seine Klienten waren auch immer vermögender geworden. Er hatte sich jahrelang geweigert, Leute aus dem Drogengeschäft zu verteidigen, aber damit war eine Menge Geld zu machen, und Wingo hatte es irgendwann satt gehabt, dass wesentlich imkompetentere Anwälte diese Dollars einsackten. Er tröstete sich damit, dass jeder, ganz gleich, welche Verbrechen er begangen haben mochte, das Recht auf eine gute - und sogar auf

eine sehr gute - Verteidigung hatte.

Wingo war ein äußerst fähiger Anwalt vor Gericht, und seine Wirkung auf die Geschworenen hatte kein bisschen darunter gelitten, dass er seit zwei Jahren an den Rollstuhl gefesselt war, weil sein Diabetes und die Leber- und Nierenprobleme immer schlimmer geworden waren. In gewisser Weise hatte er sogar den Eindruck, dass sein sichtbares Gebrechen ihm einen viel besseren Zugang zu den Geschworenen ermöglichte. Und viele seiner juristischen Kollegen neideten ihm die Serie von gewonnenen Prozessen. Gleichzeitig verabscheuten ihn viele, die der Ansicht waren, er sei lediglich ein Handlanger für reiche Kriminelle, die sich auf diese Weise den rechtmäßigen Konsequenzen ihrer Missetaten entzogen. Wingo sah das natürlich anders. Aber er hatte es schon vor längerer Zeit aufgegeben, diesen Meinungsstreit für sich zu entscheiden, weil es einer der wenigen Punkte war, von denen er meinte, dass sie eines Streites unwürdig waren.

Er wohnte in einem repräsentablen Haus in Windsor Farms, einem wohlhabenden und begehrten Viertel von Richmond. Er fuhr einen Jaguar, den er sich speziell für seine Behinderung hatte umrüsten lassen. Er unternahm Luxusreisen an jeden Ort der Welt, den er besuchen wollte. Er war gut zu seinen Kindern und großzügig zu seiner Exfrau, mit der er sich noch immer gut verstand und die nach wie vor in ihrem alten Haus wohnte. Aber die meiste Zeit arbeitete er.

Im Alter von neunundfünfzig Jahren hatte Wingo bereits mehrere Prognosen seines vorzeitigen Todes Lügen gestraft. Solche Prognosen kamen entweder von Ärzten, die seine verschiedenen Krankheiten begutachtet hatten, oder von enttäuschten Klienten oder Klägern, die fanden, dass die Gerechtigkeit zu kurz gekommen war, weil Wingo das getan hatte, was er am besten konnte. Und seine Aufgabe bestand nun einmal darin, bei den zwölf Geschworenen begründete Zweifel an der Schuld des Angeklagten zu wecken. Dennoch wusste er, dass seine Zeit zu Ende ging. Er spürte es in seinen erschöpften Organen, in seinem schwachen Kreislauf und an seiner allgemeinen Ermattung. Er vermutete, dass er bis zum Tod arbeiten würde, aber das wäre gar kein so schlechter Abgang.

Er trank einen Schluck Kaffee mit Gentleman Jim und nahm den Telefonhörer ab. Er telefonierte gern, selbst am Wochenende, vor allem, um Leute zurückzurufen, mit denen er eigentlich gar nicht sprechen wollte. Am Samstagmorgen waren sie nur selten zu Hause, und dann hinterließ er eine freundliche Nachricht, dass es ihm Leid tat, sie nicht erreicht zu haben. Er erledigte zehn solcher Anrufe und hatte das Gefühl, sehr produktiv zu sein. Sein Mund wurde immer trockener, vermutlich vom vielen Reden, und er trank einen weiteren Schluck von seinem Kaffee mit Schuss. Er nahm sich einen Antrag vor, an dem er gearbeitet hatte. Falls ihm stattgegeben wurde, würden in einem Verfahren gegen einen Einbrecherring die Beweise für unzulässig erklärt werden. Vielen Leuten war gar nicht bewusst, dass Prozesse manchmal schon gewonnen waren, bevor irgendjemand einen Gerichtssaal betreten hatte. Wenn dieser Antrag erfolgreich war, würde es gar kein Verfahren geben, weil die Anklage über keinerlei Handhabe mehr verfügte.

Nach mehreren Stunden Arbeit und weiteren Telefonaten nahm er seine Brille ab und rieb sich die Augen. Der verdammte Diabetes beeinträchtigte fast jeden Teil seines Körpers, und erst letzte Woche hatte er erfahren, dass er auch noch grünen Star hatte. Vielleicht holte der Herr ihn zurück, weil er hier auf Erden so gute Arbeit geleistet hatte.

Er glaubte, er hätte gehört, wie sich eine Tür öffnete. Vielleicht kam einer seiner überbezahlten Anwälte tatsächlich am Wochenende ins Büro, um irgendwelche liegen gebliebenen Akten zu erledigen. Die jungen Leute hatten einfach nicht mehr dieselbe Arbeitsethik wie Wingos Generation, obwohl sie phänomenale Summen verdienten. Wann hatte er in den ersten fünfzehn Jahren seiner Tätigkeit einmal nicht am Wochenende geschuftet? Heutzutage beklagten sich die Jungen bereits, wenn sie bis nach sechs bleiben mussten. Verdammt, seine Augen würden ihn endgültig umbringen.

Er trank den Kaffee aus, aber sein Durst war noch nicht gelöscht. Aus einer Schreibtischschublade holte er sich eine Flasche Wasser und nahm einen Schluck. Jetzt bekam er Kopfschmerzen. Und sein Rücken tat ihm auch weh. Er legte einen Finger ans Handgelenk und zählte. Sein Puls war ebenfalls aus dem Gleichgewicht, aber das passierte ihm etwa alle zwei Tage. Sein Insulin hatte er bereits genommen, und der nächste Schuss war erst in einigen Stunden fällig. Trotzdem überlegte er, ob er den Termin vorziehen sollte. Vielleicht war sein Blutzuckerwert aus irgendeinem Grund runtergegangen. Er hatte immer wieder Schwierigkeiten gehabt, seine Insulin-Dosis richtig zu kalkulieren. Sein Arzt hatte ihm geraten, mit dem Trinken aufzuhören, aber das war einfach nicht drin. Wingo machte sich keine Illusionen. Für ihn war Bourbon eine Notwendigkeit, kein Luxus.

Diesmal war er sich sicher, dass er die Tür gehört hatte. »Hallo!«, rief er. »Bist du das, Missy?« Verdammt!, dachte er, was ist nur mit mir los? Missy war sein Hund, der vor zehn Jahren gestorben war. Wie zum Teufel war er jetzt auf Missy gekommen? Er versuchte sich auf den Antrag zu konzentrieren, aber seine Augen lieferten nur noch ein verschwommenes Bild, und mit seinem Körper geschahen so seltsame Dinge, dass Wingo sich allmählich ernsthafte Sorgen machte. Scheiße, vielleicht bekam er einen Herzinfarkt. Allerdings spürte er keine Schmerzen in der Brust, kein dumpfes Pulsieren im linken Oberarm.

Er blickte auf die Uhr, konnte aber nicht erkennen, wie spät es war. Okay, er musste etwas unternehmen. »Hallo!«, rief er wieder. »Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.« Er glaubte zu hören, wie sich Schritte näherten, aber niemand kam. Also gut, dann nicht!, dachte er. »Mistkerle!«, brüllte er. Er hob den Telefonhörer ab und schaffte es, seinen Finger zur Taste mit der Neun zu dirigieren und dann zweimal auf die Eins zu drücken. Er wartete, aber niemand meldete sich. Das bekam man also für seine Steuern. Man wählte die Notrufnummer, und nichts passierte. »Ich brauche Hilfe!«, rief er ins Telefon. Dann fiel ihm auf, dass er gar keinen Wählton hörte. Er legte auf und nahm wieder ab. Es gab nicht einmal ein Freizeichen. Scheiße. Wütend legte er wieder auf, aber er verfehlte den Apparat, und der Hörer fiel zu Boden. Er zerrte an seinem Hemdkragen, weil er kaum noch Luft bekam. Er hatte seit längerem vorgehabt, sich eins dieser blöden Handys zuzulegen, war aber nie dazu gekommen. »Ist da draußen jemand, verdammt nochmal?« Jetzt konnte er deutlich Schritte hören. Inzwischen konnte er fast gar nicht mehr atmen, so, als würde etwas in seiner Luftröhre stecken. Er war schweißüberströmt. Er blickte zur Tür. Durch die Nebelschleier in seinem Gesichtsfeld konnte er erkennen, dass sie sich öffnete. Jemand kam herein.

»Mutter?« Er wollte einen Besen fressen, wenn das nicht seine Mutter war, auch wenn sich in diesem November zum zwanzigsten Mal ihr Todestag jährte. »Mutter, ich brauche Hilfe. Es geht mir nicht gut.«

Natürlich war niemand da. Wingo halluzinierte.

Langsam rutschte er aus dem Rollstuhl, weil er sich darin nicht mehr halten konnte. Er kroch ihr über den Boden entgegen. Er keuchte angestrengt. »Mutter«, sagte er heiser zu seiner Vision. »Du musst deinem Jungen helfen, es geht ihm gar nicht gut.« Als er sie erreichte, verflüchtigte sie sich, einfach so. In dem Moment, als er sie am meisten brauchte. Wingo legte den Kopf auf den Boden und schloss langsam die Augen.

»Ist da jemand? Ich brauche Hilfe«, sagte er ein letztes Mal.

 

KAPITEL 17

 

Francis Westbrook steckte in ernsthaften Schwierigkeiten. Seine Stammlokale, die Orte, an denen er gewöhnlich seine Geschäfte abwickelte, waren für ihn nicht mehr verfügbar. Er wusste, dass das FBI nach ihm suchte, und wer immer ihn hereingelegt hatte, wollte ihn zweifellos restlos fertig machen. Davon musste er ausgehen. Auf seinem Tätigkeitsfeld war extreme Paranoia das Einzige, was ihn so lange am Leben erhalten hatte. Also hielt er sich, zumindest für die nächste Stunde, im Hintergrund eines Fleischerei-Lagerhauses im Südosten von D.C. auf.

Von dort, wo er saß und sich den Arsch abfror, waren es nur zehn Minuten Fahrt zum Kapitol und anderen nationalen Baudenkmälern. Westbrook hatte sein ganzes Leben in Washington verbracht und bisher keine einzige dieser Sehenswürdigkeiten besucht. Die großen Gebäude einer großen Nation bedeuteten ihm überhaupt nichts. Er hielt sich nicht einmal für einen Amerikaner, Washingtoner oder einen Bürger von sonst was. Er war nur ein Mensch, der sich irgendwie durchzuschlagen versuchte.

Mit zehn Jahren war es sein großes Ziel gewesen, das Alter von fünfzehn Jahren zu erreichen. Dann setzte er alles daran, zwanzig zu werden, bevor er sterben musste. Und danach fünfundzwanzig. Als er vor einigen Jahren dreißig geworden war, hatte er eine Party veranstaltet, die eines Achtzigjährigen würdig gewesen wäre. Weil es in seiner Welt nur damit vergleichbar war. Alles war relativ, und das galt für Francis Westbrook vielleicht in stärkerem Ausmaß als für andere Menschen.

In diesen Tagen dachte er vielleicht am meisten über die Frage nach, warum er es sich mit Kevin vermasselt hatte. Sein

Wunsch, dass der Junge ein einigermaßen normales Leben führen konnte, hatte dazu geführt, dass er seine Sicherheit sträflich vernachlässigt hatte. Einige Zeit hatte er Kevin ständig bei sich gehabt, aber dann war eine Meinungsverschiedenheit unter seinen Leuten zu einem gewalttätigen Streit eskaliert, und Kevin hatte einen Schuss ins Gesicht abbekommen, an dem er beinahe gestorben wäre. Francis hatte ihn nicht ins Krankenhaus bringen können, weil er dort höchstwahrscheinlich verhaftet worden wäre. Danach hatte er den Jungen bei einer Ersatzfamilie wohnen lassen, einer alten Dame und ihrem Enkel. Er behielt Kevin genau im Auge und besuchte ihn so oft er konnte, aber er ließ ihm seine Freiheit, weil jedes Kind seine Freiheit brauchte.

Klar war, dass Kevin nicht wie Francis aufwachsen würde. Er würde ein richtiges Leben führen, ohne Waffen, Drogen und die Ambulanz, die einen irgendwann zu einem Behandlungstisch bringen würde, auf dem man ein Etikett an den Zeh geknotet bekam. Wer sich zu lange in Francis' Nähe aufhielt, wer sein Leben hautnah miterlebte, musste zwangsläufig in Versuchung geraten, auch einmal den Zeh ins Wasser zu stecken, vor allem als junger Mensch. Und wer das einmal getan hatte, kam für den Rest seines Lebens nicht mehr heraus, weil dieser verlockende Teich ein gieriges Schlammloch war, in dem es vor Wassermokassinschlangen wimmelte, die behaupteten, dein Freund zu sein, bis man ihnen den Rücken zukehrte und eine der Schlangen einem ihre Giftzähne ins Genick schlug. Das sollte nicht mit Kevin geschehen, hatte sich Francis geschworen, als der Junge auf die Welt gekommen war. Aber vielleicht war es jetzt trotzdem geschehen. Es wäre wahrlich eine Ironie, wenn Kevin ihn nicht überleben würde.

Während Westbrook eins der erfolgreicheren Drogenunterne hmen im Zentrum von D.C. aufgebaut hatte, war er nie wegen irgendetwas verhaftet worden, nicht einmal wegen ungebührlichen Benehmens, obwohl er bereits dreiundzwanzig

Jahre im Geschäft war. Er hatte sehr jung angefangen und niemals zurückgeblickt, weil es nichts gab, auf das er hätte zurückblicken können. Er war stolz, dass seine Akte trotz seiner Verbrechen sauber geblieben war.

Das war nicht allein Glück gewesen; in erster Linie hatte er es seinen ausgefeilten Überlebensplänen zu verdanken. Wie er Informationen an die richtigen Leute weitergab, wenn sie benötigt wurden, die es ihm wiederum erlaubten, seine Aktionen friedlich durchzuziehen. Das war der Knackpunkt. Man durfte nie versuchen, das Boot zum Kentern zu bringen oder auf der Straße für Unruhe sorgen. Und man durfte nie auf jemanden schießen, wenn es nicht unvermeidlich war. Man durfte der Polizei keine Schwierigkeiten machen, weil sie über genügend Mittel verfügte, um einem die Hölle heiß zu machen, und damit war niemandem gedient. Sein Leben war auch so schon kompliziert genug. Und ohne Kevin bedeutete sein Leben gar nichts mehr.

Er sah sich zu Macy und Peebles um, seinen beiden Schatten. Er vertraute ihnen genauso, wie er allen anderen vertraute, also nicht besonders. Er trug stets eine Waffe und hatte sie schon bei mehr als nur einer Gelegenheit einsetzen müssen, um sein Leben zu retten. Eine Lektion musste man nur einmal lernen.

Er warf einen Blick zur Tür, durch die gerade der große Toona hereinkam.

»Toona, ich hoffe, du bringst mir Neuigkeiten. Gute Neuigkeiten über Kevin.«

»Bis jetzt leider nichts Neues, Chef.«

»Dann setz deinen lahmen Arsch wieder in Bewegung und komm erst zurück, wenn du etwas hast.«

Toona verzog missmutig das Gesicht und ging. Westbrook sah Peebles an.

»Erzähl mir was, Twan.«

Antoine »Twan« Peebles hatte eine mürrische Miene aufgesetzt und rückte penibel seine teure Lesebrille zurecht. Westbrook wusste, dass der Mann ausgezeichnete Augen hatte, aber er dachte, dass er durch die Brille ehrlicher und seriöser wirkte. Doch er strebte nach etwas, das er niemals sein würde. Westbrook dagegen hatte sich schon vor langer Zeit mit den Tatsachen abgefunden. Im Grunde war die Entscheidung bereits gefallen, als er auf dem Rücksitz eines auf Ziegelsteinen aufgebockten Cadillacs geboren worden war, als seine Mutter seelenruhig Koks geschnupft hatte, während Francis zwischen ihren Beinen herausgekommen und in die Arme ihres damaligen Kerls gefallen war. Der Kerl hatte das Kind abgelegt, die Nabelschnur mit einem Messer durchschnitten und dann die frisch gebackene Mutter gezwungen, ihm einen zu blasen. Seine Mutter hatte ihm später davon erzählt, plastisch und detailliert, als wäre es die komischste Geschichte, die sie jemals gehört hatte.

»Es sind keine guten Neuigkeiten«, sagte Peebles. »Unser Hauptlieferant sagte, er sei sich nicht sicher, ob er uns weitere Ware liefern kann, solange es in deiner Umgebung zu heiß ist. Und unsere Vorräte sind zurzeit nicht gerade üppig.«

»Verdammt, das ist wirklich übel«, sagte Westbrook. Er lehnte sich zurück. Vor Peebles, Macy und seinen anderen Leuten musste er den starken Mann spielen, aber es gab nichts daran zu rütteln, dass er ein großes Problem hatte. Wie jeder andere Zwischenhändler auch hatte Westbrook Verpflichtungen gegenüber jenen, die in der Verteilungskette unter ihm standen. Wenn sie von ihm nicht bekamen, was sie brauchten, würden sie es sich von jemand anderem holen. Dann waren seine Tage gezählt. Und wenn man die Kunden einmal enttäuscht hatte, waren sie nur äußerst selten bereit, irgendwann wieder Geschäfte mit einem zu machen. »Okay, darum werde ich mich kümmern. Dieser Web London, was hast du über ihn rausgekriegt?«

Peebles zog eine Akte aus einem Lederkoffer und rückte sich erneut die Lesebrille zurecht. Zuvor hatte er sein mit Monogramm besticktes Taschentuch benutzt, um sorgfältig den Stuhl abzuwischen, auf den er sich nun setzte. Damit stellte er klar, dass es weit unter seiner Würde war, eine Besprechung im Lagerhaus einer Fleischerei abzuhalten. Peebles mochte dicke Geldbündel in seinen Taschen und ordentliche Kleidung und gute Restaurants und nette Damen, die alles taten, was er von ihnen verlangte. Er trug keine Waffe, und soweit Westbrook wusste, war ihm nicht einmal bekannt, wie man damit schoss. Er war zu einer Zeit ins Drogengeschäft eingestiegen, als die Welt noch wesentlich friedlicher und ordentlicher gewesen war; er kannte sich mit Buchhaltung und Computern und Aktenordnern aus und wusste, wie man schmutziges Geld in sauberes verwandelte; er gehörte zu den Leuten, die Aktienfonds und sogar Ferienhäuser hatten, zu denen sie im Privatjet reisten.

Westbrook war zehn Jahre älter als Peebles und ausschließlich auf der Straße aufgewachsen. Er hatte Crack geschmuggelt, für ein paar Cent pro Beutel, in Rattenlöchern geschlafen, hatte immer wieder Kohldampf geschoben, war Kugeln ausgewichen und hatte welche auf andere Leute abgefeuert, wenn es sein musste. Peebles war auf seinem Gebiet ein ASS; er sorgte dafür, dass Westbrooks Geschäfte reibungslos abgewickelt wurden und die Ware kam, wenn sie benötigt wurde, und an die Leute gelangte, für die sie gedacht war. Und er hatte immer darauf geachtet, dass Außenstände - Westbrook hatte schallend gelacht, als Peebles ihm gegenüber zum ersten Mal diesen Begriff verwendet hatte - unverzüglich beglichen wurden. Geld wurde gründlich gewaschen, Überschüsse wurden wohlüberlegt investiert, und alles unter den wachsamen Augen von Antoine Peebles. Trotzdem gelang es Westbrook nicht, Respekt vor diesem Mann zu haben.

Wenn es jedoch zu Problemen mit dem Personal kam, was darauf hinauslief, dass jemand sie reinzulegen versuchte, trat

Antoine Peebles schnell zur Seite. Dieser Aspekt des Geschäfts war ihm zuwider. Dann übernahm Westbrook und kümmerte sich persönlich darum. Und an diesem Punkt bewies Clyde Macy, dass er jeden Dollar wert war, den er verdiente.

Westbrook sah sich zu seinem kleinen weißen Mitarbeiter um. Zuerst hatte er gedacht, es wäre nur ein schlechter Witz, als Macy ihm angeboten hatte, für ihn zu arbeiten. »Du bist auf der falschen Seite der Stadt, mein Junge«, hatte er zu Macy gesagt. »Die Weißen tummeln sich im Nordwesten. Da gehörst du hin.« Er hatte gedacht, damit wäre die Sache erledigt, bis Macy zwei Kerle fertig gemacht hatte, die Westbrook ins Handwerk pfuschen wollten. Macy hatte damals gesagt, er hätte ihm diesen Dienst auf Goodwill-Basis erwiesen, um ihn von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Und der kleine Glatzkopf hatte seinen Chef bisher niemals enttäuscht. Wer hätte gedacht, dass der große schwarze Francis Westbrook als Arbeitgeber das Prinzip der Chancengleichheit vertrat!

»Web London«, sagte Peebles und hielt inne, um zu husten und sich die Nase zu putzen, »ist seit über dreizehn Jahren beim FBI und seit etwa acht Jahren bei der Geiselrettung. Man hält große Stücke auf ihn. In seiner Akte stehen zahlreiche Belobigungen und ähnliche Sachen. Bei einer Mission wurde er schwer verwundet und wäre beinahe gestorben. Bei diesem Einsatz ging es um eine Miliz.«

»Milizen«, sagte Westbrook. »Weiße mit Knarren, die glauben, die Regierung hätte sie über den Tisch gezogen. Die sollten sich mal öfter in schwarzen Wohnvierteln umsehen, damit sie kapieren, wie gut sie es haben.«

»Zurzeit wird eine Untersuchung durchgeführt«, berichtete Peebles weiter, »bei der festgestellt werden soll, was tatsächlich bei der Schießerei im Hinterhof geschah.«

»Twan, erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß, weil mir allmählich der Arsch abfriert. Und wie ich die Lage beurteile,

geht es dir genauso.«

»London geht zu einem Psychiater. Kein Mitarbeiter der Bundespolizei, sondern ein unabhängiger Berater.«

»Wissen wir, wer sich um ihn kümmert?«

»Es handelt sich um eine Gemeinschaftspraxis in Tyson's Corner. Uns ist noch nicht ganz klar, zu welchem Psychiater er geht.«

»Dieser Punkt sollte geklärt werden. London dürfte ihm Sachen erzählen, die er niemand anderem erzählt. Es wäre gut, wenn wir uns mal mit dem Seelenklempner unterhalten könnten.«

»Richtig«, sagte Peebles und machte sich eine Notiz.

»Ach ja, Twan, kannst du mir sagen, was die Typen in dieser Nacht eigentlich gesucht haben? Meinst du nicht, das könnte vielleicht irgendwie wichtig sein?«

Peebles reagierte mit leichtem Zorn. »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen.« Er blätterte ein paar Seiten durch, während Macy sorgfältig seine Pistole reinigte und Staub vom Lauf entfernte, den offenbar nur er sehen konnte.

Peebles hatte gefunden, wonach er suchte, und blickte zu seinem Chef auf. »Das wird dir überhaupt nicht gefallen.«

»Es gibt eine Menge Scheiße, die mir überhaupt nicht gefällt. Schieß los.«

»Gerüchten zufolge hatte man dich im Visier. In diesem Gebäude sollte sich angeblich unsere komplette Finanzverwaltung befinden. Erbsenzähler, Computer, Akten, der ganze Kram.« Peebles schüttelte entrüstet den Kopf, als wäre er in seiner persönlichen Ehre verletzt worden. »Als wären wir so dumm, all diese Dinge zu zentralisieren! Man hat das HRT geschickt, weil man die Buchhalter lebend herausholen wollte, damit sie gegen dich aussagen können.«

Westbrook war so verdutzt, dass er nicht einmal dagegen protestierte, dass Peebles von »unserer« Finanzverwaltung gesprochen hatte. Es war Westbrooks Unternehmen, daran gab es nichts zu rütteln. »Wie sind sie bloß auf so eine Idee gekommen? Dieses Gebäude haben wir doch nie benutzt! Ich war noch nicht mal in der Nähe dieser verdammten Gegend!« Plötzlich kam ihm ein ganz neuer Gedanke, aber er beschloss, ihn vorläufig für sich zu behalten. Wenn man handeln wollte, musste man zum Treffen etwas mitbringen, und vielleicht hatte er etwas - etwas, das mit diesem Gebäude zu tun hatte. Als Westbrook seine Karriere auf der Straße begonnen hatte, war er sogar bestens mit diesem Haus vertraut gewesen. Es war in den Fünfzigern errichtet worden und gehörte zu einer staatlichen Wohnungsbaugesellschaft, die verarmten Familien helfen sollte, wieder auf die Beine zu kommen. Etwa zwanzig Jahre später war daraus eines der schlimmsten Drogenzentren der Stadt geworden, und in jeder Nacht hatte es dort Tote gegeben. Die weißen Kinder in den Vorstädten hatten abends ferngesehen, und Westbrook hatte gleichzeitig reale Morde in seinem eigenen Hinterhof beobachtet. Aber mit diesem Gebäude und anderen hatte es etwas auf sich, das die Bundespolizei vielleicht gar nicht wusste. Ja, diese Sache konnte er einsetzen, wenn es ans Handeln ging. Er fühlte sich ein wenig besser, aber nur ein wenig.

Peebles' Brille balancierte auf der Nasenspitze, während er Westbrook ansah. »Nun, ich vermute, das FBI hat einen Undercover-Agenten auf diesen Fall angesetzt, und der muss ihnen wohl etwas anderes erzählt haben.«

»Wer ist dieser verdammte Agent?«, fragte Westbrook.

»Das wissen wir nicht.«

»Das muss ich aber unbedingt wissen! Wenn da Leute rumlaufen, die Lügen über mich erzählen, will ich wissen, wer diese Leute sind!« Auf einmal spürte Westbrook etwas sehr Kaltes in seiner Brust, während er gleichzeitig versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Jetzt fühlte er sich gar nicht mehr so gut. Wenn ein FBI-Agent gegen ein Operationsziel vorging, das dieser für Westbrooks Finanzzentrum hielt, bedeutete das logischerweise, dass sich die Bundespolizei für ihn interessierte. Aber warum? Sein Geschäft war gar nicht so groß, und er war keineswegs der Einzige in dieser Stadt. Andere hatten deutlich mehr auf dem Kerbholz als er. Niemand kam ihm in die Quere, und niemand versuchte ihm sein Revier streitig zu machen, aber er hatte sich jahrelang verhältnismäßig unauffällig verhalten und niemandem Ärger gemacht.

»Nun«, sagte Peebles, »wer immer dem FBI den Tipp gegeben hat, wusste genau, welche Fäden er ziehen muss. Das HRT wird erst dann gerufen, wenn wirklich ein ernsthaftes Problem vorliegt. Man wollte das Gebäude stürmen, weil sich darin angeblich Beweise befanden, die gegen dich verwendet werden können. Zumindest behaupten das unsere Quellen.«

»Und was haben sie dort gefunden - außer den MGs?«

»Nichts. Das Gebäude war völlig leer.«

»Also hat der Undercover-Agent Scheiße erzählt?«

»Oder seine Quellen ihm.«

»Oder man hat ihn reingelegt, um mich reinzulegen«, sagte Westbrook. »Weißt du, Twan, den Bullen wird es ziemlich egal sein, was sie dort nicht gefunden haben. Sie werden trotzdem glauben, dass mein Arsch dafür verantwortlich ist, weil es in meinem Revier passiert ist. Wer immer mir das antun wollte, der hat die Karten vorher genau sortiert und von Anfang an so verteilt, dass ich dieses Spiel auf gar keinen Fall gewinnen konnte. Habe ich Recht, Twan, oder wie siehst du das?«

Westbrook beobachtete ihn aufmerksam. Peebles' Körperhaltung hatte sich leicht verändert. Westbrook entging es nicht, nachdem er seinen Instinkt trainiert hatte, auf solche Dinge zu achten. Westbrook war viele Jahre lang darauf angewiesen, mit Hilfe seines Instinkts zu überleben, der in dieser Zeit immer zuverlässiger geworden war. Peebles hatte nie die Notwendigkeit dazu gehabt, eine solche Fähigkeit zu entwickeln.

»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte Peebles.

»Ja, wahrscheinlich«, sagte Westbrook. Er starrte Peebles unerbittlich an, bis dieser endlich den Blick senkte und auf seine Unterlagen sah.

»Wie ich die Lage also wahrscheinlich beurteile, ist es so, dass wir absolut nichts über London wissen, außer dass er zu einem Seelenklempner geht, weil er irgendwie einen Blackout hatte. Aber er könnte auch mit drinstecken und allen etwas vorspielen und behaupten, alles wäre nur psychisch gewesen.«

»Ich bin überzeugt, dass er mit drinsteckt«, bemerkte Peebles.

Westbrook lehnte sich lächelnd zurück. »Nein, er steckt nicht mit drin, Twan. Ich wollte nur sehen, ob du inzwischen einen Riecher für solche Sachen entwickelt hast. Aber du bist noch weit davon entfernt, Bruder. Meilenweit.«

Peebles blickte überrascht auf. »Aber du hast doch gesagt...«

»Ja, ja, ich weiß, was ich gesagt habe, Twan, ich bin ja nicht taub oder vergesslich!« Er beugte sich vor. »Ich hab im Fernsehen und in den Zeitungen alles verfolgt, was man über diesen Web London weiß, Twan. Es ist genauso, wie du gesagt hast: Der Kerl ist ein verdammter Held, er hat jede Menge abbekommen und so weiter.«

»Ich habe ebenfalls die Nachrichten verfolgt«, sagte Peebles. »Und ich habe nichts entdeckt, das mich überzeugt hätte, dass London nichts vom geplanten Hinterhalt wusste. Die Witwe einer seiner Kollegen glaubt sogar, dass er darin involviert ist. Und hast du gesehen, was vor seinem Haus passiert ist? Der Kerl hat seine Waffe gezogen und auf einen Haufen Reporter geschossen. Er ist eindeutig verrückt.«

»Nein, er hat in die Luft geschossen. Wenn jemand wie er wirklich töten will, dann gibt es Tote. Dieser Mann kennt sich

mit Waffen aus, das sieht man sofort.«

Doch Peebles wollte nicht klein beigeben. »Ich glaube, er ist nur nicht auf diesen Hof gegangen ist, weil er von der Falle wusste. Er ging zu Boden, kurz bevor die MGs das Feuer eröffneten. Er muss es gewusst haben!«

»Wirklich, Twan? MUSS er?«

Peebles nickte. »Du hast mich nach meiner sachkundigen Meinung gefragt, und das ist sie.«

»Nun, dann will ich deine verdammte Meinung noch ein klein wenig sachkundiger machen. Hat man schon mal auf dich geschossen?«

Peebles blickte sich zu Macy um und wandte sich wieder Westbrook zu. »Nein. Zum Glück nicht.«

»Ja, das ist etwas, wofür man sehr dankbar sein sollte. Auf mich hingegen wurde schon geschossen. Auf dich auch, stimmt's, Mace?«

Macy nickte und legte seine Pistole weg, um dieses Gespräch aufmerksamer verfolgen zu können.

»Weißt du, die meisten Leute mögen es gar nicht, wenn man auf sie schießt, Twan. Es ist einfach unnatürlich, es toll zu finden, wenn einem der Kopf weggeballert wird. Und wenn London in der Sache mit drinstecken würde, hätte er zahlreiche Möglichkeiten gehabt, seinen Kopf aus der Schusslinie zu ziehen. Er hätte sich während des Trainings in den Fuß schießen können, er hätte was Schlechtes essen können, um sich ins Krankenhaus einliefern zu lassen, er hätte gegen eine Wand rennen und sich den Arm brechen können - irgendwas, damit er gar nicht in die Nähe dieses Gebäudes gekommen wäre. Aber nein, er ist treu und brav mit seinem Team losgezogen. Dann kann er sich auf einmal nicht mehr bewegen, und alle seine Kollegen werden erschossen. Und was hätte er nun gemacht, wenn man ihn bestochen hätte und er blöd genug wäre, mit auf die Party zu gehen? Er hätte sich zurückgehalten, vielleicht ein paar Schüsse abgegeben und wär dann zum Seelenklempner gelaufen, um ihm zu sagen, dass er vielleicht 'ne Schraube locker hat. Aber so ein Kerl hätte sich auf keinen Fall in den Hof gewagt und versucht, die Maschinengewehre auszuschalten. Er wär schön in Deckung geblieben und hätte das Geld eingesackt, das man ihm für diesen Betrug gezahlt hätte. Aber London ist losgezogen und hat etwas getan, was ich nicht einmal im Traum wagen würde.« Er hielt kurz inne. »Und er hat noch was getan, das genauso verrückt ist.«

»Und das wäre?«

Westbrook schüttelte den Kopf und stellte wieder einmal fest, dass Peebles wirklich großes Glück hatte, dass er in geschäftlichen Dingen ein ASS war, weil ihm eindeutig alle anderen Fähigkeiten abgingen, die in diesem Gewerbe überlebensnotwendig waren. »Wenn nicht halb Washington in der Sache mit drinsteckt, gibt es keinen Zweifel, dass dieser Mann Kevin das Leben gerettet hat. Und wer sich bestechen lässt, hätte sich nie mit solchen Kleinigkeiten aufgehalten.«

Peebles lehnte sich zurück. Er war fassungslos und erschüttert. »Aber wenn du Recht hast und er nichts mit der Sache zu tun hat, dürfte er auch nicht wissen, wo Kevin abgeblieben ist.«

»Richtig. Und ich weiß auch nichts, gar nichts - außer Sachen, die völlig unwichtig sind!« Während er das sagte, starrte er Peebles an. »Und ich bin meinem Ziel, Kevin zurückzubekommen, kein Stück näher gekommen als vor einer Woche! Bist du damit zufrieden, Twan? Ich bin es nämlich nicht.«

»Was werden wir also tun?«, fragte Peebles.

»Wir behalten London im Auge und finden heraus, zu welchem Psychiater er geht. Und wir warten. Die Leute, die sich Kevin geschnappt haben, bezwecken damit irgendwas. Sie werden sich an uns wenden, und dann sehen wir weiter. Aber ich sag euch noch eins: Wenn ich feststelle, dass jemand mich verraten hat, kann er zum Südpol flüchten, und ich werde ihn trotzdem finden. Und dann werde ich ihn stückweise an die Eisbären verfüttern. Und wer glaubt, dass ich es nicht ernst meine, sollte hoffen, dass ich niemals die Gelegenheit erhalte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.«

Obwohl es im Lagerhaus sehr kühl war, lief Peebles ein Schweißtropfen über die Stirn, als Westbrook die Besprechung vertagte.

 

KAPITEL 18

 

Die Luft war keineswegs frisch, und es roch manchmal recht übel, aber zumindest war es warm. Man gab ihm so viel zu essen, wie er wollte, und das war gut. Und er hatte Bücher, auch wenn das Licht etwas schwach zum Lesen war, aber dafür hatten sie sich sogar entschuldigt. Und sie hatten ihm sogar Papier und ein paar Kohlestifte gegeben, als er darum gebeten hatte. Das alles hatte ihm die Gefangenschaft ein wenig erleichtert. Wenn es das Leben wieder einmal nicht gut mit ihm meinte, konnte er jederzeit etwas zeichnen, was zumindest ein gewisser Trost war. Und obwohl alle recht freundlich waren, war er jedes Mal, wenn jemand in den Raum kam, fest davon überzeugt, dass er jetzt sterben würde. Warum sonst hätten sie ihn an diesen Ort bringen sollen?

Kevin Westbrook sah sich im Raum um, der deutlich größer war als das Zimmer, das er zu Hause hatte. Dennoch wirkte es hier eng, als würde seine Umgebung schrumpfen oder er größer werden. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier war. Wenn es keinen Wechsel von Tag und Nacht mehr gab, verlor man jedes Zeitgefühl, wie er festgestellt hatte. Und er hatte längst aufgehört, nach jemandem zu rufen. Er hatte es einmal versucht, und sofort war der Mann gekommen und hatte ihn ermahnt, das nie wieder zu tun. Er hatte es sehr höflich und keineswegs in drohendem Tonfall gesagt, als wäre Kevin lediglich über ein hübsches Blumenbeet gestapft. Dennoch spürte Kevin genau, dass dieser Mann ihn töten würde, wenn er noch einmal schrie. Die Menschen, die am sanftesten sprachen, waren immer am gefährlichsten.

Ständig war dieses rasselnde Geräusch zu hören - und ein Zischen und das Rauschen von fließendem Wasser irgendwo in der Nähe. Von außen übertönte das wahrscheinlich jeden Laut, den er von sich geben konnte, und es störte ihn so, dass er nachts mehrmals davon aufwachte. Auch dafür hatten sie sich entschuldigt. Sie waren viel freundlicher, als Entführer eigentlich sein sollten, dachte Kevin.

Er hatte sich nach Fluchtmöglichkeiten umgesehen, aber der Raum hatte nur eine Tür, und die war verschlossen. Also las er in den Büchern und zeichnete Bilder. Er saß und trank und wartete auf den Moment, wenn jemand kommen würde, um ihn zu töten.

Während er an einer neuen Zeichnung arbeitete, deren Bedeutung nur er entschlüsseln konnte, zuckte er zusammen. Er hörte Schritte. Er hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde, und fragte sich, ob seine Zeit jetzt abgelaufen war.

Es war derselbe Mann, der ihm gesagt hatte, dass er nicht schreien sollte. Kevin hatte ihn schon mehrmals gesehen, aber er wusste nicht, wie er hieß.

Er erkundigte sich, ob alles zu Kevins Zufriedenheit war, ob er noch etwas brauchte.

»Nein. Sie behandeln mich wirklich gut. Aber meine Oma wird sich Sorgen um mich machen. Vielleicht wäre es besser, wenn ich jetzt wieder nach Hause gehen könnte.«

»Nein, jetzt noch nicht«, sagte der Mann nur. Er setzte sich auf den großen Tisch in der Mitte des Raums und betrachtete das kleine Bett in der Ecke. »Schläfst du gut?«

»Es geht so.«

Dann wollte er noch einmal wissen, was sich genau zwischen Kevin und dem Mann in der Seitenstraße zugetragen hatte - dem Mann, der Kevin geschnappt, ihm den Zettel in die Hand gedrückt und ihn dann zu den anderen geschickt hatte.

»Ich habe ihm nichts gesagt, weil ich ihm nichts zu sagen hatte.« Kevins Tonfall war trotziger, als er beabsichtigt hatte, aber der Mann hatte ihm dieselben Fragen schon einmal gestellt, und er hatte es satt, ihm immer wieder dieselben Antworten geben zu müssen.

»Denk nach«, sagte der Mann ruhig. »Er ist ein ausgebildeter Ermittler, er hat deinen Worten vielleicht etwas entnommen, auch wenn du den Eindruck hattest, sie wären ohne besondere Bedeutung. Du bist doch ein kluger Junge, du wirst dich bestimmt an alles erinnern.«

Kevin hielt den Kohlestift in der Hand und drückte zu, bis seine Gelenke knackten. »Ich bin in die Straße gegangen. Ich habe alles getan, was Sie mir gesagt haben. Nicht mehr und nicht weniger. Aber Sie haben gesagt, er würde sich nicht mehr bewegen. Dass es ein einziges Blutbad sein würde. Aber so war es nicht. Er hat mir einen riesigen Schrecken eingejagt. In diesem Punkt haben Sie sich geirrt.«

Kevin zuckte zusammen, als der Mann seinen Arm ausstreckte, aber er legte ihm nur sanft eine Hand auf die Schulter. »Wir haben dir nicht gesagt, dass du zu diesem Hof gehen sollst, oder? Wir haben dir nur gesagt, dass du dich nicht von der Stelle rühren und warten sollst, bis wir dich holen. Siehst du? Unser Timing war perfekt.« Der Mann lachte. »Du hast uns wirklich ganz schön auf Trab gehalten, Junge.«

Kevin spürte, wie der Griff an seiner Schulter fester wurde, und obwohl der Mann lachte, wusste er genau, dass er verärgert war. Also wechselte er das Thema. »Warum hatten Sie den anderen Jungen dabei?«

»Nur, damit er auch etwas zu tun hat, genauso wie du. Er hat sich ein paar Dollar verdient, genauso wie du. Eigentlich solltest du ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, aber dann mussten wir unsere Pläne ändern, weil du nicht mehr da warst, wo du eigentlich sein solltest. Die Sache wurde ziemlich brenzlig.« Die Hand griff noch etwas fester zu.

»Also haben Sie ihn schon freigelassen?«

»Kümmere dich nicht um diesen Jungen, Kevin. Sag mir, was

du getan hast und warum das so gelaufen ist.«

Wie sollte Kevin es ihm erklären? Er hatte keine Ahnung gehabt, was geschehen würde, als er getan hatte, was man ihm gesagt hatte. Dann hatten die Maschinengewehre gefeuert, und er hatte große Angst gehabt, aber gleichzeitig war auch seine Neugier geweckt worden. Es war genau diese Mischung aus Angst und Neugier gewesen, die ihn getrieben hatte, nachzusehen. Als würde man zum Beispiel einen Stein von einer Brücke auf einen Highway fallen lassen, nur um zu sehen, ob man dadurch ein paar Autofahrer erschreckte oder ob man einen Unfall auslöste, bei dem sich fünf Fahrzeuge ineinander verkeilten. Also war Kevin nicht davongelaufen, sondern hatte sich näher herangewagt, weil er wissen wollte, was er bewirkt hatte. Auch die Waffen hatten ihn nicht etwa abgeschreckt, sondern eher angelockt. Es war wie mit einer Leiche, die gleichzeitig etwas Furchteinflößendes und Verlockendes hatte. »Und dann hat mich der Mann angeschrien«, sagte er nun zu seinem Entführer. Mensch, dabei hätte er sich fast in die Hosen gemacht! Als er sich plötzlich von all den Toten erhoben hatte, als er ihn angebrüllt und sogar gewarnt hatte, dass er nicht näher kommen sollte!

Kevin beobachtete den Mann, nachdem er ihm alles erzählt hatte. Er hatte für sie getan, was sie ihm gesagt hatten, und zwar aus dem ältesten Grund der Welt: Geld. Genug Geld, um seiner Oma und Jerome zu helfen, in ein netteres Haus zu ziehen. Es war so viel Geld, dass Kevin glaubte, er könnte einmal anderen helfen, statt immer nur auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Seine Oma und Jerome hatten ihn vor solchen Angeboten gewarnt, wenn Leute durch die Gegend streiften und einem schnelles Geld versprachen, wenn man Dinge tat, die man nicht tun sollte. Viele von Kevins Freunden hatten sich auf solche Angebote eingelassen und waren nun tot, verkrüppelt, im Gefängnis oder hatten jede Hoffnung verloren. Und nun gehörte auch er zu diesem armseligen Haufen, obwohl er erst zehn Jahre

alt war.

»Und dann hast du gehört, wie die anderen dir entgegenkamen«, drängte der Mann behutsam.

Kevin nickte und dachte wieder an diesen Moment. Er hatte schreckliche Angst gehabt. Auf der einen Seite MGs, auf der anderen Männer mit Waffen, die ihm seinen einzigen Fluchtweg abschnitten. Er hätte nur über den Hof entkommen können. Zumindest hatte er es gedacht. Doch der Mann hatte ihn davon abgehalten, und damit hatte er ihm das Leben gerettet. Er kannte ihn gar nicht, und doch hatte er ihm geholfen. Das war eine ganz neue Erfahrung für Kevin. »Wie war noch mal der Name dieses Mannes?«, fragte er.

»Web London«, sagte der Mann. »Der, mit dem du geredet hast. Er ist der Einzige, der mich wirklich interessiert.«

»Ich habe ihm gesagt, ich hätte nichts getan«, wiederholte Kevin die Antwort, die er schon mehrmals gegeben hatte, in der Hoffnung, dass man ihn dann in Ruhe ließ und er weiterzeichnen konnte. »Er sagte zu mir, wenn ich auf den Hof gehe, würde ich auch erschossen werden. Er zeigte mir seine Hand, die einen Treffer abbekommen hatte. Als ich in die andere Richtung weglaufen wollte, sagte er, dass man auch da auf mich schießen würde. Dann gab er mir seine Mütze und den Zettel.

Er feuerte die Leuchtpistole ab und sagte mir, ich sollte losgehen. Und das habe ich gemacht.«

»Gut, dass ein anderer Junge bereitstand, um deinen Platz zu übernehmen. Du hast eine Menge durchgemacht.«

Irgendwie glaubte Kevin nicht, dass die Sache auch für den anderen Jungen gut ausgegangen war.

»Und London ist tatsächlich zurück auf den Hof gegangen?«

Kevin nickte. »Ich habe mich einmal zu ihm umgesehen. Er hatte dieses Riesengewehr. Er ging auf den Hof, und dann hörte ich, wie er damit schoss. Ich bin schnell weitergelaufen.« Ja, er war schnell gelaufen. Er war nicht gerannt, aber schnell gelaufen, bis ein paar Männer aus einem Eingang kamen und ihn geschnappt hatten. Kevin hatte den anderen Jungen ganz kurz gesehen. Er war ungefähr so groß und so alt wie er gewesen, aber Kevin war ihm noch nie zuvor begegnet. Er schien genauso viel Angst wie Kevin zu haben. Einer der Männer hatte schnell gelesen, was auf dem Zettel stand, und Kevin gefragt, was geschehen war. Dann hatten sie dem anderen Jungen die Mütze und die Nachricht gegeben und ihn losgeschickt, damit er die Sachen anstelle von Kevin ablieferte.

»Warum hatten Sie den anderen Jungen dabei?«, fragte Kevin erneut, aber der andere Mann gab ihm keine Antwort. »Warum haben Sie ihn mit der Nachricht losgeschickt und nicht mich?«

Auch diese Frage ignorierte der Mann. »Wirkte London auf dich irgendwie von der Rolle? Als ob er nicht mehr klar denken könnte?«

»Er hat mir gesagt, was ich tun soll. Er schien noch ziemlich klar denken zu können, würde ich sagen.«

Der Mann atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Dann lächelte er Kevin an. »Du wirst wohl nie begreifen, wie außergewöhnlich das war, Kevin. Web London muss wirklich ein ganz besonderer Mann sein, wenn er so etwas getan hat.«