Kapitel 18

Newhaven, Juni 2015

 

„Charlotte, zum Glück geht es dir besser, komm doch rein.“ Amanda Bishop trat zur Seite, um sie einzulassen, sah sie besorgt an. „Wobei, ein wenig blass um die Nase bist du schon noch.“

Charly lächelte und winkte ab. „Ich … ich bleibe nicht lange. Ich möchte Ihnen nur etwas sagen.“

Amanda schüttelte bestimmt den Kopf. „Kommt ja gar nicht infrage. Du bist vorhin umgefallen und musst dich schonen. Wir setzen uns jetzt gemütlich ins Wohnzimmer und trinken einen Tee.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und winkte Charly ins Haus, wies sie an, schon mal auf dem Sofa Platz zu nehmen.

Während Charly es sich bequem machte, verschwand Amanda in der Küche und klapperte mit Geschirr. Kurz darauf kam sie mit einem voll beladenen Tablett ins Wohnzimmer zurück. „Was wolltest du mir denn erzählen?“, fragte sie, während sie duftenden Tee in zwei Tassen füllte.

Charly schluckte schwer. „Es geht um Megan. Genauer gesagt um den Tag, an dem sie starb.“

Amandas Gesicht verdüsterte sich, doch sie hörte weiter zu.

„Ich habe mich jahrelang nicht erinnert, was damals passiert ist, doch als ich heute Nachmittag bei Ihnen war …“, sie stockte, „plötzlich kam die Erinnerung zurück.“

Amanda griff nach ihrer Tasse und nippte an dem Tee. Sie sah Charly währenddessen in die Augen, schien abzuwarten.

„Imogen und ich … wir haben Sie angelogen. Wir hatten keinen Streit mit Megan an jenem Tag. Wir sind mit den Rädern losgefahren und haben Blödsinn gemacht. Klingelstreiche und so was. Irgendwann hatte Imogen dann die Idee, unsere Freundschaft durch eine Mutprobe zu besiegeln. Megan war von Anfang an dagegen, hatte Angst. Imogen und ich haben sie dann dazu überredet. Wir sind zu den Klippen gefahren, über die Absperrung geklettert und jede von uns musste so nah an den Abgrund treten, bis unsere Zehenspitzen darüber hinausragten. Bei Imogen und mir ging es gut, doch dann war Megan an der Reihe. Sie wollte nicht, wurde wütend als Imogen sie einen Feigling nannte. Sie hat immer wieder gestichelt, mich damit angesteckt und irgendwann haben wir Megan beide geärgert. So lange, bis sie es schließlich getan hat.“ Charly stoppte, schnappte nach Luft. Dann sah sie Amanda an, die inzwischen stocksteif in ihrem Sessel saß und sie mit aufgerissenen Augen anstarrte.

„Es tut mir so leid“, sagte Charly leise. „Das müssen Sie mir glauben. Und auch Imogen tat es leid. Sie wollte es Ihnen schon viel früher sagen. Ich war diejenige, wegen der es so lange dauerte, bis sie die Wahrheit erfuhren.“

Amanda sah Charly verblüfft an und schüttelte den Kopf. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, spiegelte Verachtung wider. Schließlich brach die Frau in hysterisches Gelächter aus. „Ihr habt mein Kind also erst zu so einem Blödsinn angestiftet und als sie dadurch verunglückte, habt ihr sie einfach ihrem Schicksal überlassen?“

Charly schluckte hart und schwieg. Dann nickte sie.

„Man hätte sie vielleicht retten können, wenn ihr nicht so verdammt feige gewesen wärt.“

Wieder ein Nicken. Dann stand Charly auf. „Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen, das schwöre ich, so wahr ich hier vor Ihnen stehe.“

„Raus!“ Auf einmal kam Bewegung in Amanda Bishop. „Mach, dass du verschwindest! Schnell!“

Charly rannte fast aus dem Wohnzimmer, als Amanda sie einholte und ihr im Gang eine Plastiktüte in den Arm drückte. „Da sind deine Schuhe und dein anderes Zeug drin, was du vorhin vergessen hast. Ich will, dass du dich hier nie wieder blicken …“

„Was ist denn hier los?“, unterbrach Jake, der unbemerkt hinzu gekommen war, das Gezeter und sah von seiner Mutter zu Charly. „War ich nicht deutlich genug? Ich hab dir doch gesagt, dass du dich von meiner Familie fern …“

„Sie war es“, rief Amanda und unterbrach damit ihren Sohn. „Sie und Imogen. Wegen ihnen ist deine Schwester gestorben.“ Plötzlich sackte die Frau innerlich zusammen, ließ die Schultern und den Kopf hängen, wirkte innerhalb von Sekunden um Jahre gealtert. „Bring sie hier weg, bitte“, sagte sie erschöpft und ging ohne ein weiteres Wort ins Haus.

„Was hast du ihr erzählt?“, herrschte Jake sie an. „Warum ist meine Mutter derart fertig mit ihren Nerven?“

Charly schluckte und sagte ihm, was sie zuvor seiner Mutter erzählt hatte.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, rief er, als sie fertig war. „Weißt du eigentlich, was du getan hast? Du wolltest dein Gewissen befreien und hast meiner Mutter den sprichwörtlichen Todesstoß gegeben. Davon wird sie sich nie erholen.“ Er ging in die Hocke, atmete tief durch. Als er wieder aufblickte, wirkte sein Gesichtsausdruck nicht mehr zornig, sondern tieftraurig. „Was geschehen ist, kann niemand mehr ändern. Auch deine Wahrheit nicht, Charly. Was wir alle aber tun können, ist weiterleben. Wir dürfen uns nicht jedes Mal aufs Neue von der Vergangenheit einholen und fertigmachen lassen, weil wir nichts mehr daran verändern können. Was du hier versuchst zu tun, macht meine Schwester auch nicht wieder lebendig.“

Charly schüttelte fassungslos den Kopf. „Was hätte ich deiner Meinung nach denn tun sollen? Deine Mutter weiterhin im Glauben lassen, dass es ein bedauerlicher Unfall war? Vielleicht hat sie sich die Schuld für alles gegeben, weil sie nicht bei ihr war? Wer weiß das schon genau? Ich wollte dafür sorgen, dass sie endlich erfährt, dass es weder ihre noch Megans Schuld war. Imogen und ich tragen die Verantwortung für das, was passiert ist, und da eine von uns zwischenzeitlich nicht mehr am Leben ist, musste ich das übernehmen.“

Jake stand auf und packte Charly grob an den Schultern, schüttelte sie. „Hör damit auf! Sofort!“ Er ließ sie los, als hätte er sich an ihr verbrannt, starrte sekundenlang auf seine Handflächen. „Ich hab es dir schon einmal gesagt: Verschwinde, so lange es noch geht, Charly!“

Sie schüttelte den Kopf, blitzte ihn trotzig an. „Du weißt, dass ich das nicht kann. Jetzt nicht mehr!“

Jake ballte seine Hände zu Fäusten. „Megan ist tot, Charlotte“, brüllte er. „Und deine Freundin Imogen auch. Je eher das in deinen Schädel geht, umso besser.“

Sie funkelte ihn wütend an. „Denkst du, das weiß ich nicht?“, schrie sie zurück. „Trotzdem gibt es Menschen, die nicht einfach wegstecken können, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Einen Fehler, der eine Freundin das Leben kostete.“

Jake sah sie einen Moment an, dann lächelte er traurig. „Ihr wart Kinder. Gerade mal sieben Jahre alt. Wer in diesem Alter weiß schon so genau, was Recht und Unrecht ist? Ihr habt gespielt, eure Grenzen ausgelotet, dabei ist eine von euch – meine Schwester – ums Leben gekommen.“

Charly hörte Jakes Worte wie aus weiter Ferne, spürte einen unerträglich brennenden Schmerz in der Brust. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass die an die Wand gekritzelten Buchstaben, welche das Wort MÖRDERIN ergaben, die Wahrheit dargestellt hatten. Sie war eine Mörderin. Zumindest im übertragenen Sinne. Verantwortlich für eines anderen Menschen Tod. Sie spürte, wie ihr Hals sich verengte. Als sie Jake ansah, konnte sie nur seine Umrisse erkennen, weil die überlaufenden Tränen ihre Sicht beeinträchtigten. „Wir hätten es nicht einfach verschweigen und alle belügen dürfen. Dann wäre Megan heute noch am Leben.“

Jake trat auf sie zu und atmete tief durch. „Das ist nur eine Wunschvorstellung meiner Mutter. Ein Hirngespinst. Megans Körper war zerschmettert, sie hatte unendlich viele Knochenbrüche, verletzte innere Organe, ein Schädel-Hirn-Trauma. Das alles hätte sie nie im Leben überstehen können, selbst wenn Imogen und du sofort Hilfe gerufen hättet.“

Charly sah Jake an, schenkte ihm ein bitteres Lächeln. „Ich weiß zu schätzen, was du hier versuchst. Die Frage ist aber, ob Megan das genauso sehen oder uns nicht auch für ihre Mörder halten würde.“

Jake hob die Schultern. „Diese Frage kannst du dir nur selbst beantworten. Du musst aufstehen, Tag für Tag, und wählen, wie du dich selber sehen willst. Als Schuldige oder als Mädchen, das einmal im Leben die falsche Entscheidung getroffen hat, weil es zu dem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt war. Wie auch immer deine Wahl ausfällt, sie wird maßgeblich für dein weiteres Leben sein. Denn letztendlich bist du es selbst, die sich vergeben muss, was damals passiert ist.“

 

Ein Kichern drang wie aus der Ferne in ihr Ohr. Es klang boshaft und grauenerregend, riss sie unsanft aus dem Schlaf. Benommen setzte Charly sich auf, rieb sich die Augen, erkannte an den Umrissen der Möbel, dass sie im Wohnzimmer auf dem Sofa eingeschlafen war. Ihr Herz hämmerte heftig gegen ihren Brustkorb, der Atem ging nur stoßweise. Panisch sah Charly sich um, prüfte, ob ihr wieder irgendetwas Seltsames auffiel, doch heute Nacht schien alles in bester Ordnung zu sein.

Plötzlich wieder dieses Kichern. Es klang irgendwie hohl und dunkel, gar nicht nach einem Menschen. Sie stand auf, ging unsicheren Schrittes zur Tür, spähte in den dunklen Gang. Nach den Gesprächen mit Amanda und Jake hatte sie sich ausgebrannt, erschöpft und jenseits all ihrer Kräfte gefühlt. Umso dankbarer war sie Alice gewesen, als diese angeboten hatte, etwas zum Abendessen zu besorgen und Jody noch vor Beginn ihrer Schicht ins Bett zu stecken, sodass Charly einen ruhigen Abend genießen und sich ein wenig ablenken konnte. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter auf der anderen Seite der Wand, fand ihn, drückte ihn.

Nichts!

Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Sie griff nach dem Schalter im Wohnzimmer, versuchte, auch dort das Licht einzuschalten.

Ebenfalls Fehlanzeige.

„Das ist ja mal ganz was Neues“, murmelte Charly und tapste in die Küche, um die Taschenlampe in der Schublade unter der Arbeitsplatte hervorzuholen. Plötzlich bemerkte sie einen Lufthauch im Rücken, drehte sich panisch einmal um die eigene Achse. „Wer ist da? Und was wollen Sie?“ Ihr Atem ging hektisch und viel zu schnell. Charly spürte, dass, wenn sie sich nicht schnell in den Griff bekam, sie hyperventilieren würde. Die letzten Meter bis zur Küche rannte sie, riss die Schublade aus der Verankerung, schrak zusammen, als das Besteck sich scheppernd auf dem Fußboden verteilte. Sie ging auf alle viere, suchte verzweifelt nach dem runden Griff der Taschenlampe. Als sie sie endlich gefunden hatte, schaltete sie sie an, machte sich auf den Weg nach oben in den ersten Stock. Auch dort schien es keinen Strom zu geben, sodass sie sich mit dem schummerigen Licht der Taschenlampe begnügen musste.

Wieder das Kichern. Viel näher diesmal.

Jody!

Es kam aus ihrem Zimmer!

Wie eine Besessene rannte Charly auf die Tür zu, riss sie aus letzter Kraft auf, sackte wimmernd vor dem Kinderbett zusammen.

Es war leer.

 

„Und jetzt noch mal ganz in Ruhe“, versuchte Officer Stark, Charly zu beruhigen. „Sie sind also der notariell beglaubigte Vormund von Jody Melinda Shaw?“

Sie nickte stumm.

„Können Sie das belegen?“

Charly nickte schwach. „Es gibt Papiere, die das belegen, und zwei Damen von der Fürsorge. Die Telefonnummern hab ich zu Hause.“

Der Officer winkte ab. „Die Papiere dürften ausreichen. Bitte lassen Sie sie uns baldmöglichst zukommen.“

„Okay.“

Der junge Mann blickte auf die Uhr. „Wie lange ist das Mädchen mittlerweile verschwunden?“

Charly hob die Schultern und seufzte. „Das weiß ich nicht. Ich hab geschlafen.“

„Aber sie war noch da, als sie zu Bett gingen?“

„Ja. Meine Freundin brachte sie ins Bett, um mich zu entlasten“, erklärte Charly und wand sich unbehaglich auf dem Stuhl im Vernehmungszimmer. „Ich hatte einen harten Tag, wollte einfach noch kurz auf andere Gedanken kommen, sah mir einen Film an und …“

„Welchen Film“, unterbrach der Officer sie interessiert.

Charly stieß verärgert die Luft aus. „Was soll das? Ein kleines Mädchen ist verschwunden und anstatt sie zu suchen, sitzen Sie hier rum und stellen mir dämliche Fragen.“

„Bitte, Miss Beck, ich mache nur meinen Job“, erwiderte er und hob beschwichtigend die Hände. „Was für einen Film haben Sie gesehen?“

„Irgendeine Schnulze mit zwei Frauen, die auf denselben Mann standen. Am Ende kam eine dritte Frau hinzu, die ihnen geholfen hat, den Typen so richtig fertigzumachen. Sind Sie jetzt zufrieden?“

Der Officer grinste. „Den Film kenne ich. Wie fanden Sie ihn?“

Charly stöhnte und sprang auf. „Also wenn Sie nichts tun, dann werd ich jetzt …“

„Setzen Sie sich auf der Stelle wieder hin!“, sagte der Mann mit schneidender Stimme und wies auf den Stuhl. „Seit Sie vor über zwei Stunden bei uns angerufen haben, tun meine Kollegen nichts anderes, als nach dem Kind zu suchen. Trotzdem müssen wir alle Eventualitäten ausschließen und dazu gehört nun mal, dass wir Sie befragen und ebenfalls überprüfen.“

„Sie glauben, dass ich Jody etwas angetan haben könnte?“ Charly spürte eine Welle des Entsetzens über ihr zusammenschlagen und sank auf dem Stuhl zusammen. „Ich würde doch nie, ich könnte gar nicht …“ Sie brach ab. „Hören Sie, alles war genau, wie ich es Ihnen erzählt habe. Alice – Imogens Halbschwester – brachte das Mädchen ins Bett und ist dann zur Arbeit gefahren. Ich hab mir dann noch einen Film angesehen und währenddessen immer wieder mal nach Jody geschaut. Dann muss ich auf dem Sofa eingeschlafen sein. Als ich wieder zu mir kam, ging der Strom im Haus nicht mehr und Jody war weg.“

Officer Stark schüttelte nachdenklich den Kopf. „Und die Türen und Fenster waren zu?“

Charly nickte. „Ich hab sogar im Keller nachgesehen, weil Jody neulich nachts schon mal …“ Sie stockte, als ihr klar wurde, wie seltsam es sich anhören würde, wenn sie erzählte, dass sie die Kleine vor einigen Tagen weinend im Keller vorgefunden hatte. Sie hob die Schultern. „Ihre Kollegen haben alles auf Einbruchspuren überprüft.“

Der Officer nickte. „Was wollten Sie eben in Bezug auf den Keller erzählen?“

Charly seufzte innerlich auf und senkte ergeben den Kopf.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Jake stürmte ins Zimmer.

„Was suchst du denn hier“, fragte Stark und sah seinen Kollegen missbilligend an. „Du hast doch erst morgen Mittag Dienst.“

Jake verzog das Gesicht. „Die Kollegen vor Ort haben mich aus dem Bett gerissen, damit ich bei der Suche helfe.“ Er sah Charly mit unergründlichem Blick an. „Ich fass das alles einfach nicht“, sagte er schließlich nur.

Charly sprang von ihrem Stuhl auf und trat auf Jake zu. „Gott sei Dank, dass du hier bist“, rief sie erleichtert und brach in Tränen aus. „Dieser Mann denkt, dass ich Jody etwas … dass sie wegen mir …“ Sie brach ab, schluchzte noch heftiger.

Jake machte keine Anstalten, sie tröstend in den Arm zu nehmen. Stattdessen musterte er sie nur finster und sah seinen Kollegen auffordernd an. „Lass sie gehen, okay. Die Sache ist durch.“

Stark hob fragend die Hände und starrte Jake verständnislos an. „Habt ihr die Kleine?“

Jake sah von ihm zu Charly und schluckte. „Sie war nie weg.“

„Was?“ Charly spürte, wie ihr die Luft wegblieb und auch Officer Stark sah vollkommen überfordert aus.

„Kommt mit raus“, sagte Jake und nahm Charly am Oberarm, zog sie aus dem Raum. „Da“, sagte er schließlich und wies mit der Hand auf die andere Seite des Ganges.

Charlys Mund klappte auf und wieder zu, dann sah sie ungläubig zu Jake auf. „Was wird hier gespielt? Warum tut ihr mir das an?“

„Warum tun WIR DIR das an?“, schnauzte er. „Ich habe einen Sohn, für den ich da sein muss. Doch seit du hier bist, bringst du alles durcheinander. Das ist übrigens schon das zweite Mal, dass ich ihretwegen auf meinen Schlaf verzichte“, erklärte er an seinen Kollegen gewandt. „Wenn das noch mal passiert, sollten wir überlegen, ob wir sie nicht einfach mal ein paar Nächte lang einbuchten, um Ruhe vor ihr zu haben.“ Er brach ab, winkte Alice zu sich, die völlig verschlafen im Jogginganzug dastand und Jody fest im Arm hielt. Ihr Blick sprach Bände. „Ich verstehe nicht, was hier los ist“, sagte sie, als sie näher kam und drückte Jody einen beruhigenden Kuss auf die Stirn. Dann wandte sie sich Charly zu, sah sie mit einer Mischung aus Angst und Sorge an. „Bitte, erklär mir, was hier los ist. Warum sucht ganz Newhaven nach Jody, wo du doch wissen musstest, dass ich sie am Abend mit zu mir genommen habe.“

Plötzlich legte sich ein Schalter in Charly um. „Ich will Jody“, sagte sie zu Alice. „Sofort!“

„Aber was …“

„Das war keine Bitte. Gib sie mir! Jetzt!“

Alice warf Jake einen fragenden Blick zu.

Der schüttelte entschieden den Kopf. „Zuerst erklärst du uns das, Charly. Was stimmt nicht mit dir?“

Etwas in ihr brach, als beide sie mitleidig ansahen. Dann flutete Zorn ihre Adern. „Alice kann das gar nicht mit mir abgesprochen haben, weil sie meines Wissens Spätdienst haben sollte.“

Die runzelte die Stirn. „Ich habe momentan Urlaub, Charly, und das habe ich dir auch erzählt.“

Charly biss sich auf ihre Unterlippe und schüttelte stur den Kopf. „Das hast du nicht. Du sagtest, dass du zum Nachtdienst müsstest, wolltest Jody aber zuvor noch ins Bett bringen. Als ich später am Abend nach ihr gesehen habe, war sie auch noch in ihrem Bett. Erst spät in der Nacht war sie dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.“

Alice holte tief Luft, blickte von Jake zu Officer Stark. Dann sah sie Charly entschuldigend an. „Hast du erzählt, dass das nicht zum ersten Mal passiert ist? Dass du seit Längerem unter Halluzinationen und Albträumen leidest, manchmal nicht weißt, was real ist und was nicht?“ Sie sah Stark an. „Neulich hat sie Jody nachts im Keller eingeschlossen und sich später nicht mehr daran erinnert.“

Jake nickte bestätigend. „Und sie sieht Dinge, die nicht da sind, glaubt, dass meine tote Schwester ihr was Böses will.“ Er sah Charly an, legte ihr seine Hand unters Kinn, hob ihren Kopf ein wenig an, um ihr in die Augen sehen zu können. „Du bekommst Jody natürlich wieder, schließlich wollte Imogen, dass du für sie da bist. Trotzdem möchte ich, dass du vorher noch zum Arzt gehst.“

„Allerdings nicht zum Hausarzt“, warf Alice ein, „sondern am besten gleich zum Spezialisten.“ Sie senkte den Kopf, als sie Charlys bitterbösen Blick auffing.

Ergeben hob Charly die Hände, ging einige Schritte rückwärts, weg von Alice, Jake und Officer Raid. „Okay, ich gehe zum Arzt. Eine Bedingung habe ich aber: Sobald ich zurück bin, gebt ihr mir umgehend Jody, danach will ich keinen von euch je wiedersehen!“