Kapitel 8
Newhaven, Juni 2015
In der Dunkelheit sah der Ozean tiefschwarz aus, trotzdem empfand sie weder Angst noch Beklemmung. Ganz im Gegenteil. Das Glitzern der Sterne am Nachthimmel spiegelte sich auf der Oberfläche der Wellen wider und bot einen einzigartigen Anblick. Langsam trat sie einen Schritt vor. Und noch einen. Dann wieder einen, bis sie schließlich am äußersten Rand der Klippe stand. Sie spürte die Kälte des Felsens unter ihren Fußsohlen, tastete sich weiter Millimeter für Millimeter nach vorn, bis unter ihren Zehenspitzen keinerlei Widerstand mehr zu spüren war. Jetzt war sie nur noch einen Windstoß von der Erlösung entfernt. Nur noch wenige Zentimeter bis zum freien Fall. Sie fragte sich, ob es wehtun würde? Würde sie den Aufprall spüren? Diesen Moment, in dem ihr Körper wie eine überreife Tomate aufplatzte und das Leben langsam aus ihrem Körper wich? Egal! Sie atmete tief ein, füllte ihre Lungenflügel mit Meeresluft, schmeckte das Salz auf ihrer Zunge. Wie sehr sie diesen Ort doch hasste. Oder viel mehr die Gewissheit ihrer Schuld. Der Gedanke versetzte ihr Innerstes in Aufruhr. Schuld? Woran? Etwa, weil sie noch am Leben war? Sie schnappte nach Luft, wankte, als ein Luftzug sie dem Abgrund entgegendrückte. Der vor ihr aus dem Meer aufragende Leuchtturm wirkte plötzlich seltsam fehl am Platz, beinahe wie ein mahnend erhobener Zeigefinger. Sie sollte nicht hier oben sein. Panik stieg in ihr auf. Weg! Sie musste fort von hier. Doch, anstatt einen Schritt zurückzumachen, schob sie sich immer weiter nach vorn, bis die Hälfte ihrer Fußsohlen über den Abgrund ragten. Es geht einfach nicht, schrie es in ihr. Ich kann nicht mehr zurück. Sie legte ihren Kopf in den Nacken, schloss die Augen. Plötzlich kam ihr das Toben des Meeres unter ihr wie eine Aufforderung vor. Das Klatschen der Wellen gegen die Felswand wie ein Lockruf. Sie streckte die Arme seitlich aus, als wären es Flügel und kippte nach vorn, spürte die Schwerelosigkeit während des Falls. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie die aufragenden Spitzen der am Ufer herumliegenden Felsbrocken auf sich zukommen. Sie wirkten wie Reißzähne, die nur darauf warteten, zu zerstören und an ihr zu zerren. Auf einmal hatte der Ozean nichts Schönes und Lockendes mehr an sich, wirkte stattdessen wie ein riesiger schwarzer Schlund, der nur darauf wartete, sie zu verschlingen. Ihr Mund klappte auf, doch anstelle eines Schreis brachte sie nur mehr ein heiseres Krächzen hervor. Ergeben wartete sie auf den Schmerz des Aufpralls. Ihr letzter Gedanke galt Jody.
JODY!
Nass geschwitzt und vollkommen außer Atem riss Charly sich die warme Decke vom Körper und sprang auf. Verwirrt sah sie sich um. Erkannte die Umrisse von Imogens Wohnzimmermöbel in der Dunkelheit. Dann rannte sie aus dem Raum, die Treppen rauf, bis zu Jodys Kinderzimmer. Vorsichtig schob sie die Tür auf, spitzte durch den Spalt hinein. Als sie Jodys friedlichen Gesichtsausdruck registrierte, atmete sie auf, lehnte ihre Stirn gegen das Holz des Türrahmens. Es war nur ein Traum gewesen. Ein beschissener Traum. Sie lachte leise, zog die Tür wieder ran, machte sich auf den Weg zurück zum Wohnzimmer. Als sie vor dem Sofa stand, fiel ihr Blick auf das Buch auf dem Boden. Plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Sie hatte am gestrigen Abend keine Lust gehabt, fernzusehen, sich stattdessen einen historischen Roman aus Imos Bücherregal ausgesucht, in der Hoffnung, ein wenig Ablenkung zu finden. Sie musste während des Lesens eingeschlafen sein und … Moment mal … Die Panik flutete Charlys Innerstes wie ein Stromschlag. Wenn sie über dem Buch eingenickt war, wer hatte dann das Licht ausgemacht? Sie selbst konnte es nicht gewesen sein, es sei denn, sie hätte es im Schlaf getan, was Blödsinn war. Und Jody war zu klein, um an den Lichtschalter zu kommen. Charly riss den Kopf herum und sah zum Fenster. Es war verschlossen. Dann ging sie zur Haustür, rüttelte an der Klinke. Ebenfalls zu. Erleichterung breitete sich in ihr aus. Sie überprüfte noch alle anderen Fenster und Türen im Haus und ging wieder zurück ins Wohnzimmer. Vielleicht war sie doch wach geworden und im Halbschlaf zur Toilette gegangen, hatte auf dem Weg das Licht gelöscht? Es musste einfach so gewesen sein, redete sie sich selbst zu und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Ihr war auf einmal schrecklich kalt und sie sehnte sich nach einer Tasse heißem Tee. Schlaf würde sie jetzt sowieso keinen mehr finden. Seufzend machte sie sich auf den Weg in die Küche.
Als sie wenig später einen Becher heißen Tees mit ihren Händen umklammerte, kam ihr der Traum von vorhin wieder in den Sinn. Charly spürte, wie sich die feinen Härchen im Nacken aufstellten. Was hatte dieser Traum zu bedeuten? Sie erinnerte sich an das erdrückende Gefühl in ihrem Innern, kurz bevor sie vornübergekippt war. Nervös nippte sie an dem Getränk, zuckte zusammen, als die heiße Flüssigkeit ihre Zunge benetzte und ihre Oberlippe verbrannte. Fluchend stellte sie die Tasse ab, spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Der Traum war zwar vorüber, doch die Schuld nagte noch immer an ihr, riss an ihren Eingeweiden, verursachte ihr Übelkeit. Bittere Galle schoss ihr in den Rachen. Charly schaffte es gerade noch ins Badezimmer, bevor sie sich mit einem heftigen Würgen übergab. Als sie wieder zu Atem kam, rappelte sie sich hoch, spülte sich den Mund mit kaltem Wasser aus. Was zur Hölle war nur mit ihr los? Fühlte sie sich etwa schuldig, weil sie noch lebte, während Imogen längst tot war? Oder handelte der Traum gar nicht von ihr selbst? Hatte sie im Traum Imogens Suizid leibhaftig miterlebt? War so etwas überhaupt möglich? Sie erinnerte sich daran, in ihrem Traum das Gefühl gehabt zu haben, nicht mehr rückwärts gehen zu können. Es war wie ein Zwang gewesen, immer weiter auf den Rand zuzugehen, bis sie gar nicht mehr anders konnte, als nach vorne zu kippen. Hatte Imogen ihr im Traum ein Zeichen gegeben? Dass es tatsächlich Depressionen gewesen waren, die sie in den Tod getrieben hatten? Sie erinnerte sich daran, wie die Wellen und das Meer sie gelockt und ihr das Gefühl vermittelt hatten, das Richtige zu tun. War es bei Imogen so gewesen? Auf dem Weg zurück in die Küche hatte sie plötzlich das Bedürfnis, ihrer toten Freundin nahe zu sein. Sie stieg die Treppe ins Schlafzimmer hinauf, schaltete das Licht ein, öffnete den Kleiderschrank. Der Anblick von Imogens Kleidung ließ sie nach Luft schnappen. Sie nahm eine hellblaue Strickjacke heraus und presste ihr Gesicht in den weichen Stoff. Der vertraut blumige Duft nach Kokos stieg ihr in die Nase, füllte sie beinahe aus. Schluchzend ging Charly in die Knie. Dabei fiel ihr Blick auf einen Stapel Fotoalben neben den Geschenketüten für Jody. Ihre Hand zitterte, als sie nach dem ganz oben liegenden Album griff. Sie schlug es auf und erstarrte, als ihr die glücklichen Gesichter von Imogen und Adam auf der ersten Seite entgegenblickten. Charly schüttelte den Kopf, während sie sich durch die Seiten blätterte. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass aus einem glücklichen Paar wie diesem zwei Menschen wurden, die nicht mehr miteinander redeten und Probleme einfach totschwiegen? Oder stimmte es am Ende gar nicht, was Jake Bishop ihr erzählt hatte? Doch warum sollte er sie in dieser Hinsicht belügen? Jake war als Polizist mit dem Fall betraut, was hätte er davon, ihr etwas vorzumachen? Hatte er Imogens Aussage vielleicht falsch interpretiert? Seufzend klappte sie das Album zu, legte es zurück auf seinen Platz. Dann ging sie in die Küche, wo ihr Tee inzwischen lauwarm geworden war. In Gedanken noch immer bei Adam und Imogen trank sie die Tasse leer und stellte sie in die Spülmaschine. Dann ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Plötzlich wurde Charly klar, was hier ganz und gar nicht stimmte. Angeblich kriselte es seit Längerem in Imogens Ehe. Doch davon hätte ihre Freundin ihr sicherlich erzählt, denn zu ihrem Streit war es erst viel später gekommen. Stattdessen war Charly plötzlich sicher, dass Imogen ihr nichts von einer Krise und Adams angeblicher Affäre erzählt hatte, weil sie selbst erst nach seinem Tod herausgefunden hatte, dass es da wirklich jemanden gab. So musste es gewesen sein. Jake Bishop kannte Imogen nicht so gut, wie sie sie gekannt hatte, er reimte sich da einfach etwas zusammen. In Charlys Kopf überschlugen sich die Gedanken, vermischten sich zu einem konfusen Brei. Wahrscheinlich hatte Imogen nach Adams Tod Hinweise gefunden und daraufhin angefangen, intensiv nachzuforschen, wer seine Geliebte gewesen war. Vielleicht hatte sie sogar einen begründeten Verdacht gehabt, anzunehmen, dass diese Person auch für seinen Tod verantwortlich war. War ihr dieses Wissen schlussendlich selbst zum Verhängnis geworden? Es sprach so vieles dafür. Die Geschenke für Jody. Die Tatsache, dass sie niemandem, nicht einmal ihrer besten Freundin davon erzählt hatte, bevor sie wirklich sicher sein konnte. Charly fing an zu zittern. So könnte es doch gewesen sein, oder nicht? Adam hatte eine Affäre gehabt und diese beendet, als Imogen schwanger wurde. Vielleicht hatte seine Geliebte ihn damit erpresst, seiner Frau alles zu sagen, wenn er nicht tat, was sie verlangte. Anfangs hatte er sich gefügt und als er sich irgendwann weigerte, kam es zur Katastrophe. Imogen fiel daraufhin in einen Schockzustand, bis sie schließlich erste Hinweise entdeckte, die auf seine verflossene Affäre deuteten. Doch niemand hatte ihr glauben wollen. Auch Jake nicht. Stattdessen hatten sie sie für verrückt erklärt, alles auf ihre Depressionen geschoben, sie mit ihrem Kummer und ihrer Angst allein gelassen. Und als Imogen der verantwortlichen Person zu nahe gekommen war, hatte diese dafür gesorgt, dass sie ebenfalls von der Bildfläche verschwand.
Charly schnappte nach Luft. War es so gewesen? Oder verrannte sie sich in etwas? Sie spürte ein Pochen hinter den Augen – Anzeichen einer drohenden Migräne – und legte sich hin. Eine Weile hing sie noch ihren Gedanken um Imogen und Adam nach, bis die Müdigkeit sie überrollte und sie endlich in einen tiefen und glücklicherweise traumlosen Schlaf fiel.
Ein Klingeln riss sie aus dem Schlaf. Benommen fuhr Charly vom Sofa hoch und sah auf die Uhr. Erst kurz nach acht. Sie stand auf und rannte die Treppe hinauf, um nach Jody zu sehen, doch die lag noch immer friedlich in ihrem Bettchen und nuckelte im Schlaf am Daumen. Charly seufzte erleichtert, dann rannte sie ins Erdgeschoss und öffnete die Haustür. Eine bildhübsche dunkelhaarige Frau stand vor ihr und lächelte sie an. „Entschuldigen Sie die frühe Störung, doch ich war gerade in der Nähe und da dachte ich …“ Sie brach ab, sah betreten zu Boden. Als sie wieder aufblickte, räusperte sie sich. „Sie müssen Charly sein“, meinte sie dann. „Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.“ Charly hob verwirrt die Schultern. „Ich weiß nicht genau … kennen wir uns?“
Die Frau lächelte warmherzig. „Tut mir leid, wo sind nur meine Manieren geblieben.“ Sie streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin Alice. Alice Lee – Imogens Halbschwester.“
Wenige Minuten später hatte Charly eine Kanne mit Kaffee aufgesetzt und den Frühstückstisch gedeckt. Dann setzte sie sich zu Alice an den Tisch. „Ehrlich gesagt wusste ich bis vor Kurzen gar nicht, dass du existierst“, gab sie zu. „Edward Clark hat es erwähnt, als ich ihn fragte, ob es niemanden anders gebe, der für Jody sorgen könne.“
Alice verzog das Gesicht. „Ich kann nicht zählen, wie oft ich nach Imogens Tod bei ihm war und ihn angefleht habe, mir zu helfen, damit Jody nicht in diese Pflegefamilie muss. Ich wollte sie zu mir nehmen, das war ich Imogen schuldig.“ Sie seufzte und senkte den Blick. „Wir kannten uns nicht lange, aber die Zeit, die wir einander hatten, waren wir uns sehr nahe.“
Charly spürte bei Alice' Worten einen Stich in der Brust. Trotzdem lächelte sie. „Es ist schön, zu wissen, dass Imogen nicht alleine war. Nach allem, was sie durchmachen musste …“ Sie brach ab, sah Alice an. „Warum hast du erst so spät Kontakt zu ihr aufgenommen?“
Die junge Frau – Charly schätzte sie auf Mitte bis Ende zwanzig – sah zu Boden. „Ich wusste nicht, dass ich eine Schwester habe. Meine Mutter hat zu Lebzeiten nie darüber sprechen wollen, wer mein Vater ist. Sie sagte immer, dass er es nicht wert sei, ihm auch nur eine einzige Träne hinterherzuweinen, geschweige denn Teil seines Lebens werden zu wollen, weil er uns schon vor Jahren einfach weggeworfen habe. Als sie letztes Jahr an Krebs starb, fand ich in ihren Unterlagen alles, was ich wissen musste, um endlich nach meinen Wurzeln suchen zu können. Ich habe Nachforschungen angestellt und rausgefunden, dass mein Vater schon lange tot ist. Und dass ich eine Schwester habe. Imogen. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlte? Nach dem Tod meiner Mutter allein zu sein und dann herauszufinden, dass ich eine Schwester habe, von der ich noch nie zuvor etwas gehört hatte?“
Charly schüttelte mitfühlend den Kopf.
„Ich hatte weiche Knie, als ich zum ersten Mal vor dem Haus stand“, erklärte Alice. „Ich dachte, was, wenn sie kein Interesse hat, mich kennenzulernen? Oder schlimmer noch – was, wenn sie mir nicht glaubt?“ Alice seufzte leise. Dann lächelte sie. „Meine Angst war unbegründet. Imogen war sehr nett. Sie hat sich meine Unterlagen angesehen und mich schließlich mit offenen Armen in ihrem Herzen aufgenommen. Weil sie mich ebenso dringend brauchte wie ich sie, nehme ich an. Es gab da etwas, das uns beide verband: der Verlust eines geliebten Menschen. Sie war fassungslos, dass unser Vater eine Affäre gehabt und sich nicht um sein eigenes Kind gekümmert hatte. Ich glaube sogar, dass sie sich in gewisser Weise verantwortlich fühlte. Sie wollte wiedergutmachen, was er getan hatte, und egal, wie oft ich ihr gesagt habe, dass es nicht notwendig sei, sie ließ sich nicht davon abbringen, bis sie plötzlich …“ Alice brach ab.
„Bis sie was?“, fragte Charly und beugte sich über den Tisch.
Alice schüttelte unschlüssig den Kopf. „Es war drei Monate vor ihrem Tod“, erklärte sie. „Imogen veränderte sich, wurde immer seltsamer, fast schon paranoid und …“
„Ich dachte, sie litt seit Adams Tod an Depressionen? Das zumindest behauptet Jake Bishop, der Polizist, der ihren Suizid untersucht hat.“
Alice schüttelte den Kopf. „Imogen trauerte um ihren Mann, sie weinte viel, versuchte aber, es vor Jody zu verbergen. Überhaupt tat sie alles für ihre kleine Tochter, doch dann …“, sie holte tief Luft, suchte nach Worten, „… dann veränderte sie sich plötzlich. Sie litt unter Ängsten und Wahnvorstellungen, behauptete, jemand habe es auf sie abgesehen und wolle sie töten. Und dass dieser Jemand auch Adam getötet habe.“
Charlys Mund klappte auf. Fassungslos starrte sie Alice an. „Dass ist genau, was ich vermutet habe.“
„Was meinst du?“
„Dass Imogens Suizid überhaupt keiner war und sie vielleicht umgebracht wurde.“
Alice schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht …“
Charly schnappte nach Luft. „Adam, er muss eine Affäre gehabt haben. Damit könnte auch sein Tod zusammenhängen. Und vielleicht hat Imogen rausgefunden, wer dahintersteckt, und musste deswegen sterben.“
Alice schüttelte den Kopf. „Von einer Affäre ihres Mannes hat Imogen aber nie etwas gesagt. Auch nicht, als sie langsam … sonderbar wurde.“
„Was genau meinst du mit sonderbar?“, wollte Charly wissen.
„Wie ich schon sagte, sie hatte auf einmal Angstzustände und litt unter Verfolgungswahn. Sie war sicher, dass sie bald sterben würde, traute niemandem mehr. Auch mir nicht.“ Alice räusperte sich. „Das tat weh, weißt du, nachdem wir uns zuvor so nahe waren. Das muss die Zeit gewesen sein, als sie die Idee mit der Verfügung hatte und zu Edward Clark nach London fuhr. Sie verbarrikadierte sich mit Jody im Haus, ließ niemanden mehr an sich heran, redete wirres Zeug.“
„Was für wirres Zeug?“, fragte Charly aufgeregt.
Alice hob die Schultern. „Ich konnte damit nichts anfangen, doch vielleicht wollte ich das auch nicht. Es war einfach zu schmerzhaft, mit ansehen zu müssen, wie meine Schwester, der letzte Rest meiner Familie, langsam vor die Hunde ging.“
„Warum hast du ihr nicht geholfen?“, fragte Charly scharf.
„Das hab ich doch“, begehrte Alice auf. „Ich war es, die dafür gesorgt hat, dass sie ärztliche Hilfe bekommt, sich auf eine Therapie einlässt. Ich war es, die sich um Jody kümmerte, als sie dazu nicht in der Lage war. Ich hätte noch viel mehr getan, wenn sie mich nur gelassen hätte.“ Tränen glitzerten in ihren Augen.
„Was ist dann passiert?“, fragte Charly etwas sanfter.
„Als sie ihre Medikamente nahm, wurde es etwas besser. Sie kümmerte sich wieder selbst um Jody, ging sogar wieder einkaufen, bekam langsam, aber sicher Boden unter ihre Füße. Doch das Gerede der Leute, deren Blicke – das alles war zu viel für Imogen. Sie hörte auf, ihre Medizin zu nehmen, ging irgendwann auch nicht mehr zur Therapie. Und dann kamen noch ihre Schuldgefühle hinzu.“
„Schuldgefühle? Weswegen?“
Alice senkte den Blick. „Wie gesagt, ich weiß es nicht genau, weil Imogen immer mehr auf Abstand ging. Aber so wie ich es verstanden habe, gab es da etwas in ihrer Vergangenheit. Etwas über das sie nicht reden wollte, von dem sie aber sicher war, dass es sie jetzt einholte. Es muss mit einem Mädchen zu tun haben, das sie früher kannte.“
Charly runzelte die Stirn. „Hat sie dir den Namen des Mädchens gesagt?“
Alice schüttelte den Kopf. „Gesagt hat sie ihn mir nicht. Aber ich weiß ihn trotzdem, weil ich sie ihn ein paar Mal habe rufen hören, als sie mich hier übernachten ließ.“
Charly sah Alice erwartungsvoll an.
„Der Name, den Imogen im Schlaf gerufen hat lautete Megan.“