Kapitel 16

Newhaven, Juni 2015

 

Ihr Herz hämmerte hart und schnell gegen ihren Brustkorb. Nicht aus Angst, sondern in froher Erwartung der nahenden Erlösung. Sie lächelte, als sie sich das letzte Stück bis zum Rand der Klippe vorarbeitete. Zentimeter für Zentimeter tasteten ihre Füße sich voran, bis nicht einmal mehr eine Fußlänge sie vom Sturz in die Tiefe trennte. Die Wellen klatschten hart an die Felswand unter ihr, ein Geräusch, das Charly seltsamerweise nicht als bedrohlich empfand. Einzig die Stimme in ihrem Kopf störte den friedvollen Augenblick.

Ihr habt mich getötet.

Ihr seid schuld.

Ihr müsst dafür bezahlen.

Genau in dem Moment, als sie den letzten Schritt tun und sich nach vorne kippen lassen wollte, wurde es um sie herum taghell.

Charly fuhr schwer atmend aus dem Schlaf hoch, stürzte aus ihrem Bett, drehte sich benommen um die eigene Achse. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass alles nur ein Traum gewesen war, aus dem irgendetwas sie geweckt hatte. Sie schlüpfte in ihre Strickjacke, die sie vor dem Zubettgehen achtlos auf den Boden geworfen hatte, und trat in den Gang. Die Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb. Das Licht brannte überall im ersten Stock. Sie rannte die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, auch dort war das Licht in jedem Raum eingeschaltet. Charly ballte ihre Hände zu Fäusten. War sie wieder schlafgewandelt? Sie spürte, wie ihr schlecht wurde, und ging in die Küche, um sich ein Glas eiskaltes Wasser einzuschenken. Während sie gierig trank, fielen ihr die Schlaftabletten ein. Sie hatte am Abend zwei davon genommen und daraufhin innerhalb von wenigen Minuten einschlafen können. So weit, so gut. Doch das hier zog sie auf einen Schlag wieder runter. Was, wenn sie in diesem Zustand eines Tages mehr tat, als nur das Licht einzuschalten und Jody im Keller einzusperren? Vielleicht war sie schon jetzt eine ernst zu nehmende Gefahr für die Kleine? Sie seufzte, sah noch im Keller nach, überprüfte alle Türen und Fenster. Anschließend ging zurück nach oben, löschte überall das Licht. Als sie wieder auf ihrem Bett saß, spürte sie etwas, das sie in die Unterseite ihres Oberschenkels stach. Sie hob das Bein ein wenig an, ließ ihre Hand daruntergleiten, stieß auf einen winzigen Widerstand, griff danach und zog ihn hervor. Als sie registrierte, was sie gestochen hatte, krampfte sich ihr Innerstes zusammen. Sie spürte, wie sich alles um sie herum zu drehen begann, hatte plötzlich das Gefühl, unter Wasser zu atmen.

Nur mit Mühe schaffte sie es, sich aus dieser Schockstarre zu befreien und aufzustehen. Sie wankte hinunter ins Erdgeschoss und riss ihre Handtasche vom Haken an der Wand, durchwühlte diese, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte.

Schließlich starrte sie sekundenlang auf das Foto in ihrer Hand, strich wimmernd über das Loch, wo einst Imogens Gesicht gewesen war. Beim Anblick des kleinen blonden Mädchens links außen hatte Charly das Bedürfnis loszubrüllen. Hastig presste sie sich ihren Handrücken fest auf den Mund, schüttelte entsetzt den Kopf. Das ist absolut unmöglich – schrie es in ihr. Das ist nicht real! Dann brach sie in Tränen aus.

 

„Du hast was?“ Jake starrte sie entgeistert an.

Wortlos hielt Charly ihm die Handfläche ihrer rechten Hand entgegen. „Kommt der dir nicht auch irgendwie bekannt vor?“

Jake schüttelte den Kopf, ließ sie dabei nicht aus den Augen. „Ich mache mir langsam wirklich Sorgen um dich.“

„Dieser Ohrring gehört Megan“, fuhr Charly ihn an. „Und es gibt auch nichts, worüber du dir Sorgen machen musst. Zumindest nicht, was meine geistige Gesundheit angeht.“ Sie nahm das Foto vom Küchentisch, hielt es Jake entgegen. „Da, sieh doch selbst. Die Ohrringe auf dem Foto sehen ganz genauso aus wie der, den ich vorhin in meinem Bett gefunden habe.“

Jake riss Charly das Bild aus der Hand und warf einen Blick darauf. Dann schnippte er es wütend fort. „Weißt du, wie viele Mädchen solche Dinger haben? Vielleicht gehört er Jody. Oder ihrer toten Mutter. Die Kleine könnte ihn irgendwo im Haus gefunden und damit gespielt haben. Immerhin ist er bunt und sieht aus wie eine Blume.“

„Das ist ein verdammter Schmetterling“, schoss Charly zurück. Plötzlich erstarrte sie.

In ihrem Kopf formierten sich einige Bilder zu einer blassen Erinnerung:

Eine Victoria-Creme-Torte mit sieben Kerzen darauf. Megans Geburtstag.

„Sie hat die Ohrringe zu ihrem siebten Geburtstag bekommen“, stieß Charly hervor. „Ich erinnere mich genau. Dein Vater hat sie auf einem Künstlermarkt gekauft und Megan erzählt, dass das Einzelstücke sind. Kein Paar ist wie das andere. Darauf war sie so stolz, dass sie die Ohrringe nicht mal zum Schlafen abgemacht hat. Nach ein paar Tagen bekam sie von den Clips Druckstellen an den Ohrläppchen, die sich später entzündet haben. Megan war zu Tode betrübt, dass sie die Ohrringe nicht mehr tragen konnte, und schleppte sie deswegen in ihrer Hosentasche mit sich rum.“

Charly stockte, als sie Jakes Gesichtsausdruck sah. Er wirkte, als würde er ihr am liebsten den Hals umdrehen.

„Du erinnerst dich nicht, wie, wann und warum meine Schwester gestorben ist, aber dass sie diese Ohrringe von meinem Vater bekommen hat, das weißt du noch?“ Seine Stimme klang gefährlich leise, fast bedrohlich. „Hörst du dir eigentlich selber zu? Das alles klingt so dermaßen irre, dass es schon fast lustig ist.“

Er wandte sich zum Gehen, marschierte schnaubend auf die Haustür zu.

„Jake, da ist noch etwas.“

Charly schickte in Gedanken ein Stoßgebet gen Himmel. „Gestern Nacht ist etwas Seltsames passiert. Ich hab Megan gesehen. Oder viel mehr von ihr geträumt. So genau weiß ich das nicht. Sie hat mir gedroht und …“

„Du hast meine tote Schwester gesehen?“, unterbrach Jake sie und drehte sich langsam um. Sein Mundwinkel zuckte, als würde er jeden Augenblick loslachen. „Im Traum? Und sie hat dir zu allem Überfluss auch noch gedroht?“

Charly biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Inzwischen bin ich sicher, dass alles, was hier geschieht und bereits geschehen ist, mit Megan zu tun hat. Oder besser gesagt mit ihrem Tod. Irgendwas ist damals passiert, an das ich mich nicht mehr erinnere. Deswegen muss ich unbedingt mit deiner Mutter über sie sprechen. Vielleicht fällt mir dann alles wieder ein.“

Jake machte ein paar Schritte auf Charly zu, blieb dann dicht vor ihr stehen. „Du wirst gefälligst meine Mutter mit deinen Hirngespinsten in Ruhe lassen“, brachte er mühsam beherrscht hervor. „Sie hat genug durchlitten.“

„Aber das ist meine einzige Chance, herauszufinden …“

„Ich habe Nein gesagt“, brüllte er plötzlich los. Dann fing er sich wieder, strich sich fahrig durchs Haar, atmete ein paar Mal ein und aus. „Tut … mir leid“, sagte er schließlich und sah Charly müde an. „Ich will einfach nicht, dass alles wieder hochkommt, verstehst du? Da war erst neulich eine Journalistin bei meiner Mutter und hat sie interviewt. Es ging um eine Reportage über Beachy Head und all die Menschen, die sich dort das Leben genommen haben oder auf andere Art und Weise an diesem Ort den Tod fanden. Das Miststück hat meine Mutter so lange bearbeitet, bis sie ihr alle Fragen beantwortet hat. Danach ist sie in ein so tiefes Loch gefallen, dass ich schon dachte, sie fängt sich nicht mehr.“

Jake atmete tief durch und legte Charly eine Hand auf die Schulter. „Bitte, Charly, lass die Finger davon. Diese ganze Sache, die wächst dir total über den Kopf. Am besten wäre, du nimmst Jody und verschwindest von hier. Nicht, dass dir am Ende noch dasselbe passiert wie Imogen.“

 

„Er hat was?“ Alice starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an.

Charly nickte. „Er sagte wortwörtlich, ich solle Jody nehmen und verschwinden, bevor mir noch dasselbe wie Imogen passiert.“

Alice schüttelte den Kopf. „Und du bist sicher, dass es eine Drohung war? Das ergibt doch keinen Sinn.“

Charly seufzte. „Ich habe seit Stunden nichts anderes getan, als mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Deswegen habe ich dich angerufen. Vielleicht hat er es auch ganz anders gemeint und ich sehe das Ganze verquer. Was weiß ich denn? Jake ist …Seine Familie und er haben eine Menge mitgemacht.“ Sie schilderte Alice, was Jake ihr neulich anvertraut hatte, und wartete ab. „Wie siehst du das? Hab ich das richtig verstanden? Als Drohung? Oder macht er sich einfach nur Sorgen um mich und will nicht, dass ich durchdrehe wie Imogen?“

Alice zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Ich kann mir auch keinen vernünftigen Reim darauf machen. Fakt ist aber, dass all das tatsächlich nichts mit Adams Liebelei zu tun zu haben scheint, sondern wirklich mit Megans Tod. Die Zeichen sprechen eine deutliche Sprache. Zuerst dachte ich ja, du reimst dir da was zusammen, aber jetzt …“ Sie stand auf, nahm zwei Gläser aus dem Schrank über der Spüle, füllte sie mit Leitungswasser, stellte eines davon vor Charly auf den Küchentisch. „Da sind diese beunruhigenden Fotos. Imogens Abschiedsbrief. Deine Träume. Außerdem ist es schon seltsam, dass du, seit du wieder hier bist, schlafwandeln scheinst und sogar Megan zu sehen glaubtest, ob nun im Traum oder in einer vom Fieber ausgelösten Halluzination macht dabei keinen großen Unterschied.“

„Dann glaubst du mir?“, rief Charly erleichtert.

Alice schwieg einen Augenblick und nickte dann. „Allerdings weiß ich nicht, ob du dich darüber freuen solltest. Die Sache mit dem Ohrring ist total schräg. Von den vielen Toten ganz zu schweigen.“ Sie schüttelte sich unbehaglich und warf einen Blick auf das Foto vor sich auf dem Tisch, griff dann nach dem Schmuckstück. „Das Ding sieht ganz genauso aus. Irgendwie ist mir das zu viel Zufall. Und dass Jake das völlig anders sieht, dich nicht mit seiner Mutter sprechen lässt … komisch ist das schon. Als hätte er etwas zu verbergen.“

Charly atmete tief durch. „Vielleicht irre ich mich ja auch und er hat es ganz anders gemeint. Warum sollte er mir etwas Schlechtes wollen?“

„Willst du wissen, was ich denke?“

Charly nickte.

„Das wird dir aber sicher nicht gefallen.“ Sie hielt inne, sah Charly fragend an. „Versprichst du, dass du nicht böse wirst?“

Sie schluckte. „Spuck's einfach aus, Alice.“

„Okay, was, wenn Megan, Imogen und du an jenem Tag zusammen wart? Was, wenn ihr Unfall mit euch zu tun hatte? Und sagtest du nicht, dass du an Jodys Taufe einen furchtbaren Streit mit meiner Schwester hattest? Was, wenn sie mit dir über alles reden wollte? Was, wenn – was immer damals passiert ist, ihr so schlimme Schuldgefühle verursachte, dass sie es an die Öffentlichkeit bringen wollte? Vielleicht hat Imo dir nicht geglaubt, dass du Erinnerungslücken hast? Könnte doch sein, dass sie dachte, du willst dich davor drücken und sie sich selbst überlassen.“

„Das passt nicht“, sagte Charly schnell. „Wenn sie wegen so was sauer auf mich war, weshalb wollte sie dann, dass ich Jody aufziehe? Würdest du jemandem, der dich bitter enttäuscht hat, dein Kind anvertrauen?“

„Okay.“ Alice trank noch einen Schluck. Dann sah sie Charly ernst an. „Es gibt nur eine Möglichkeit, rauszufinden, was hier wirklich los ist.“ Sie sah Charly mitfühlend an. „Im Grunde ist es sogar die einzige Möglichkeit. Du musst zu den Klippen. Geh in dich, horche in dich rein. Vielleicht spuckt dein Unterbewusstsein etwas aus. In deinen Träumen tut es das jedenfalls.“

Charly griff nach ihrem Glas, doch ihre Hand zitterte bei der Vorstellung, zu den Felsen vor Beachy Head zu fahren, so sehr, dass sie die Hälfte des Wassers verschüttete. „Das kann ich nicht. Nicht nachdem, was mit Imo passiert ist. Das geht einfach nicht.“ Sie schnappte nach Luft. Stützte ihren Kopf in die Hände, versuchte, ruhig zu atmen. Dann sah sie Alice an. „Selbst wenn ich dazu bereit wäre, was soll ich mit Jody machen? Ich kann sie doch nicht mitnehmen! Immerhin ist ihre Mutter dort …“ Sie brach ab.

Alice sah Charly verständnisvoll an. „ Aber du musst dorthin. Es ist die einzige Möglichkeit, rauszufinden, was hier gespielt wird. Was hältst du davon, wenn ich Jody mit nach London in den Zoo nehme? Du hättest den Rest des Tages Zeit und ich verbringe währenddessen einen netten Nachmittag mit meiner Nichte.“

Charly sah Alice zweifelnd an. „Und du denkst, das bringt mir etwas?“

Alice verzog das Gesicht. „Hast du denn eine bessere Idee?“

Charly sah betreten zur Seite. Dann verneinte sie. Nach einem weiteren Blick zu Alice stand sie auf, straffte entschlossen die Schultern. „Okay. Du hast recht. Inzwischen bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr verlieren und nur noch gewinnen kann.“

 

Als Jody und Alice am Abend zum Haus zurückkamen, fühlte Charly sich vollkommen leer und erschöpft. Sie schluckte, als Alice sie fragend ansah, schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie hatte nach ihrem Ausflug zu den Klippen dringend Ablenkung nötig gehabt und ein Essen für drei aus dem Hut gezaubert. Jetzt roch das Haus zwar fantastisch nach frisch gebratenem Steak und Nuggets für Jody, doch der Hunger war ihr, je länger sie über alles nachdachte, vergangen.

Hinzukam die Frustration.

Sie hatte das Auto auf dem öffentlichen Parkplatz abgestellt und war zweieinhalb Stunden an den Klippen entlang bis Beachy Head gelaufen. Anschließend hatte sie sich auf eine Bank hinter der Absperrung gesetzt und auf den Horizont gestarrt, in der wahnwitzigen Hoffnung, Alice könnte recht haben, als sie sagte, dass dieser Ort der Schlüssel wäre. Zwischendurch hatte ihr Handy geklingelt und weil sie annahm, dass Alice anrief, war sie, ohne nachzusehen, drangegangen, nichts ahnend, dass ihr fuchsteufelswilder Ex am anderen Ende der Leitung war. Er hatte sich bei ihr beschwert, weil sie ihm die Bullen auf den Hals gehetzt hatte. Am Ende war Andreas so ausfällig geworden, dass ihr nichts anderes übrig geblieben war, als die Verbindung zu trennen. Als sie am Abend zum Haus zurückkehrte, kam kurz darauf Jake vorbei, um sie auf den neusten Stand bezüglich ihres Ex zu bringen. Alles in allem war ihre Verwirrung dadurch nur noch weiter gestiegen, selbst Alice fand es beachtenswert, dass er sie einerseits loswerden wollte, andererseits aber dafür Sorge trug, dass sie sich hier sicher fühlte.

Während des gemeinsamen Abendessens vermieden Charly und Alice das Thema weitestgehend und ließen Jody in vollen Zügen von ihrem Zooabenteuer schwärmen. Anschließend verfrachteten sie das Mädchen in die Badewanne und unterhielten sich vor der Tür im Flüsterton. Alice schüttelte den Kopf, als Charly missmutig erklärte, dass ihr Aufenthalt an den Klippen sie keinen Schritt weitergebracht hatte. „Es war eben ein Versuch, Charly“, erklärte sie. „Vielleicht war einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt für einen solchen Schritt.“

Als Jody im Bett lag, bot Alice an, gemeinsam noch eine Tasse Tee zu trinken.

Schließlich saßen sie einander gegenüber am Küchentisch, nippten in einträchtiger Enttäuschung an ihren Gläsern, bis Charly spürte, dass eine Migräne bereits die Klauen nach ihr ausstreckte. Sie stöhnte leise, schloss die Augen.

„Was ist?“, fragte Alice. „Geht es dir nicht gut?“ Wie auf Befehl stand sie auf, schulterte ihre Handtasche. „Wahrscheinlich schlägt das Wetter wieder um. Ich hab heute auch schon den ganzen Tag eine Matschbirne.“

Sie kramte in ihrer Tasche, gab Charly einen Streifen Schmerztabletten. Dann ging sie in den Gang hinaus. „Am besten nimmst du gleich zwei davon, dann kannst du bestimmt gut schlafen. Nimmst du eigentlich, was der Arzt dir verschrieben hat?“

Charly räusperte sich. „Morgens nicht, da will ich, wenn möglich einen klaren Kopf bewahren. Aber an den Abenden nehme ich sie seit einigen Tagen.“

Alice nickte zufrieden und trat zur Haustür hinaus.

Als ihr Wagen aus der Einfahrt fuhr, spürte Charly, wie ihr Magen zu rebellieren begann. Sie schluckte gegen die aufsteigende Übelkeit an, schleppte sich aus letzter Kraft ins Bett.

 

In der Nacht wurde Charly von einem ekelhaft metallischen Geschmack in ihrem Mund wach. Ihre Zunge und der Gaumen fühlten sich pelzig an, fast als hätte sie einen Büschel Haare im Rachen stecken. Sie schluckte schwer, sehnte sich nach einem Glas Wasser. Benommen setzte sie sich auf, stöhnte, als ihre Umgebung sich zu drehen begann. Wie es aussah, hatte das Virus sie noch immer fest im Griff. Sie versuchte zu schlucken und zuckte zusammen, als Trockenheit auf Trockenheit traf. Ein Schmerz, heiß und brennend wie von einer pulsierenden Wunde, schoss von ihrem Rachen in ihren Kopf.

Trotzdem schaffte sie es irgendwie, sich aus dem Bett hochzuhieven und in den Gang zu wanken. Langsam nahm sie Stufe für Stufe nach unten ins Erdgeschoss und wunderte sich nicht einmal, dass wieder überall das Licht brannte. Wahrscheinlich hatte sie wegen ihrer Migräne am Abend zuvor schlicht und ergreifend vergessen, alles auszumachen. Sie schlurfte in die Küche, verzichtete darauf, ein Glas zu nehmen, und schaufelte sich gierig eine Handvoll Leitungswasser nach der anderen in den Mund. Als sie ihren Durst gestillt hatte, wollte sie wieder nach oben ins Bett gehen, schaltete unterwegs das Licht in allen Räumen aus. Sie stieß die Tür zum Wohnzimmer auf und tastete nach dem Schalter. Wie aus dem Nichts wurde sie erneut von einer Welle der Übelkeit erfasst. Sie hielt inne, starrte auf die Wand oberhalb des Sofas und klappte ihren Mund auf und wieder zu. Dann schloss sie die Augen, lehnte ihre Stirn an den Türrahmen, genoss das kühle Gefühl auf der Haut. Als sie die Augen wieder öffnete, hoffte sie von ganzem Herzen, einem Hirngespinst aufgesessen zu sein. Vergeblich. In roter Schrift auf weißem Hintergrund hatte jemand das Wort MÖRDERIN an die Wand gekritzelt.

Charly spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen.

Es war einfach zu viel.

Viel zu viel.

Sie trat in den Raum, bemerkte erst jetzt, dass überall – auf dem Teppichboden und auf dem Tisch – Fotos herumlagen. Ihr Herz donnerte heftig in ihrer Brust, nahm ihr beinahe die Luft zum Atmen. Trotzdem schaffte sie es, sich tapfer bis zum Tisch vorzuarbeiten, nahm eines der Bilder zur Hand, spürte, wie bei deren Anblick die Beine unter ihr wegknickten.

Ein kraftloses Keuchen entrang sich ihrer Kehle, ging in ein Stöhnen über, zerriss die Stille im Raum. Dann wurde es schwarz um sie.