Kapitel 11

Newhaven, Juni 2015

 

Ein Poltern riss Charly aus dem Schlaf. Erschrocken fuhr sie aus dem Bett hoch und lauschte.

Was war das für ein Geräusch gewesen? Sie warf ihre Decke zurück und stand auf, schlich auf Zehenspitzen in den Korridor und hielt den Atem an.

Alles ruhig. Hatte sie sich das nur eingebildet? Oder war es am Ende wieder nur einer ihrer Albträume gewesen? Plötzlich fiel ihr ein, dass am Abend ein Unwetter über die Küste hereingebrochen war. Sie atmete erleichtert auf. Höchstwahrscheinlich hatte der Sturm einen der Holzhaufen im Garten hinter dem Haus umgeworfen. Sie ging zurück ins Bett, kuschelte sich in ihre Decke. Nach einigen Minuten seufzte sie. Ihr Gedankenkarussell war angelaufen und hatte ihre Schläfrigkeit komplett vertrieben. Frustriert starrte sie in die Dunkelheit, ließ den Rest des gestrigen Tages noch einmal Revue passieren. Als sie nach dem Besuch im Pflegeheim nach Hause gekommen waren, hatte Alice auf sie gewartet. Beim Gedanken an Jodys Begeisterung verspürte Charly wieder einen Stich in der Brust. Sie kam nicht umhin zuzugeben, dass sie eifersüchtig war. Sie wünschte, Jody würde für sie ebenso empfinden wie für ihre Tante. Sie hatte die beiden am Nachmittag beobachtet. Zugesehen, wie liebevoll Alice mit dem Mädchen umging und was die Kleine ihr dafür zurückgab. Charly schluckte hart. Würde sie es jemals schaffen, dass Jody ihr nur ansatzweise Gefühle dieser Art entgegenbrachte? Charly musste insgeheim zugeben, dass es kaum etwas gab, das sie sich mehr wünschte. Und dass sie schreckliche Angst hatte. Angst davor, Fehler zu machen und als Jodys Vormund ebenso zu versagen wie als Freundin. Alice hatte sie lächelnd in den Arm genommen, ihr gesagt, sie solle sich diesbezüglich keine Sorgen machen, dass sie in ihre neue Aufgabe hineinwachsen würde. Und dass Jody sie längst als Familienmitglied akzeptiert habe, auch wenn es manchmal noch nicht danach aussah.

Überhaupt hatte Charly den Eindruck, dass Alice und sie nach dem gestrigen Tag zu so etwas wie Freundinnen geworden waren. Und eine Freundin war genau das, was sie am dringendsten brauchte.

Alice hatte schließlich angefangen und ihr von ihrer Mutter erzählt. Dass sie eine starke Frau gewesen sei, obwohl sie ihr Leben lang darunter gelitten habe, dass der Vater ihrer Tochter nicht zu ihr und dem Kind stand. Dass sie für Alice alles gewesen sei, sie trotz aller Widrigkeiten eine schöne Kindheit erleben durfte, es ihr nie an etwas gefehlt habe. Sie war in Tränen ausgebrochen, hatte geschluchzt, dass Jody jetzt ihre einzige Familie sei, woraufhin Charly sie in den Arm genommen und ihr versichert hatte, dass sie jederzeit willkommen war. Ihr war klar geworden, dass sie Alice mochte, ihr vertraute, ihre Meinung hören wollte. Deswegen hatte sie ihr auch etwas aus ihrem Privatleben erzählt. Dass sie bisher jede ihrer Beziehungen in den Sand gesetzt hatte oder schlichtweg an den Falschen geraten war. So wie an Andreas. Sie hatte zugegeben, dass er ihr mittlerweile eine Heidenangst einjagte und dass sie befürchtete, dass er ihr gefolgt war und sie beobachtete. Womit das Gespräch wieder auf Imogen gekommen war, von der sie durch ihren Besuch bei Grace wusste, dass auch sie das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden. Dann hatte Charly ihrem Zorn Luft gemacht und Alice vom Telefonat mit Linda Shaw erzählt, gesagt, dass sie alles dafür tun würde, damit diese eiskalte Person Jody nicht bekäme. Nie hätte sie damit gerechnet, dass gerade Alice Partei für Imogens Schwiegermutter ergreifen könnte. „Im Grunde ist es nicht ganz verkehrt, was die Frau über meine Schwester denkt“, hatte Alice angemerkt. „Imogen war psychisch krank und die Auswirkungen bekam natürlich auch die Kleine zu spüren. Einmal hat Imogen völlig die Nerven verloren und Jody sogar geschlagen. Das war der Moment, als ich gesagt habe, dass es so nicht weitergeht. Ich hab darauf bestanden, dass sie ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt. Danach wurde es kurzfristig besser, bis sie die Therapie einfach abbrach. Das Ergebnis dieser Entscheidung kennst du ja … Dass Linda ihr nicht verzeihen kann, dass sie einfach aufgegeben und ihr Kind zurückgelassen hat, verstehe ich irgendwie. Auch dass sie um Jody kämpft, ist nicht verwerflich. Welche Großmutter möchte ihr Enkelkind nicht bei sich haben?“

Charly hatte dem nichts entgegensetzen können, musste sogar zugeben, dass Alice gewissermaßen recht hatte. Rückblickend betrachtet schien es, als wäre die Imogen, die sie kannte, eine völlig andere, als die, die Alice kennengelernt hatte. Beim Gedanken an die Hochzeitsfotos von vergangener Nacht krampften sich Charlys Eingeweide zusammen. Natürlich wollte sie die Bilder Alice gegenüber nicht unerwähnt lassen, doch als sie sie ihr zeigen wollte, waren sie auf einmal nicht mehr auffindbar gewesen. Charly hatte das ganze Haus auf der Suche nach ihnen umgekrempelt, doch sie blieben verschollen. Alice' Vermutung hinsichtlich ihrer Frage, ob Jody dahinterstecken könnte, war, dass sie die Bilder in der nächtlichen Aufregung aller Wahrscheinlichkeit nach verlegt hatte und dass sie irgendwann schon wieder auftauchen würden. Und was das Gekritzel anging, hatte Alice erklärt, könnte Imogen selbst ihr Gesicht verunstaltet haben. Gerade weil es sich dabei um Hochzeitsfotos handelte. „Vielleicht hat meine Schwester sich dafür verachtet, dass sie Adams Betrug einfach so hingenommen hat?“

Und so schwer es Charly auch fiel, das zuzugeben, es schien in Anbetracht von Imogens Gemütszustand durchaus im Bereich des Möglichen zu sein.

Andererseits wäre es durchaus denkbar, dass Jody ihrer Mutter gegenüber großen Zorn empfand. Weil diese sich so extrem verändert und sie zu guter Letzt sogar geschlagen hatte. Und sie dann zu allem Übel allein zurückließ.

Charly stieß die Luft aus. Am Ende ergab das, was Alice gesagt hatte, mehr Sinn. Irgendwie zumindest. Trotzdem sträubte sich alles in Charly, diese Variante als die einzig Wahre anzusehen.

Ein erneutes Poltern ließ sie zusammenzucken. Diesmal war sie absolut sicher, dass es aus dem oberen Stockwerk gekommen war.

Sie sprang aus dem Bett und rannte ins Wohnzimmer, nahm einen Schürhaken aus dem Ständer vorm Kamin. Ein leises Weinen drang von oben zu ihr herunter. Charly schloss erleichtert die Augen und stieß die Luft aus.

Jody!

Bestimmt war sie aufgewacht und musste zur Toilette.

Sie steckte den Haken zurück und machte sich auf den Weg nach oben. Am obersten Absatz der Treppe hielt sie inne und lauschte. Weder aus dem Kinderzimmer noch aus dem Bad waren irgendwelche Geräusche zu hören. Charly begann zu frösteln und ging weiter, bis sie vor Jodys Zimmer stand. Ihre Hand zitterte, als sie sie ausstreckte, um die Tür ein wenig aufzuschieben. Sie trat ins Zimmer auf das Bett zu, sah, dass Jody fest schlief. Hatte die Kleine im Schlaf geweint? Sie strich ihr sanft über die Wange, schüttelte verwundert den Kopf. Das Gesicht des Mädchens war trocken. Und sie war auch nicht zusammengezuckt, als sie sie berührt hatte. Für Charly hieß das, dass Jody tatsächlich fest zu schlafen schien. Hatte sie sich dieses Weinen nur eingebildet? Waren ihre Nerven schon so überspannt, dass sie bereits anfing, Dinge zu hören, die überhaupt nicht existierten? Vielleicht war auch das Poltern nicht real gewesen? Sie schlich aus Jodys Zimmer, schloss die Tür hinter sich, machte sich daran, auch in den anderen Räumen nachzusehen. Sie stand schon fast vor dem Badezimmer, hatte die Hand bereits auf der Klinke, als sie ein bedrohlich klingendes Wispern vernahm. Oder war es eher ein Kichern? Charly spürte, wie sich ihr Innerstes verkrampfte und ihr der Schweiß ausbrach. Das Geräusch schien aus dem Erdgeschoss zu kommen, dennoch zwang sie sich – entgegen ihrem Impuls, Jody zu schnappen und wegzulaufen –, dass sie zuerst das Obergeschoss überprüfen würde. Sie warf einen Blick ins dunkle Badezimmer, dann ging sie weiter ins Schlafzimmer. Sie atmete auf, als ihr klar wurde, dass alles in Ordnung zu sein schien, fragte sich, ob der Wind für dieses Wispern im Untergeschoss verantwortlich sein konnte. Ihr fiel ein, dass sie das Küchenfenster während des Kochens gekippt hatte. Charly nickte. Das ergab Sinn. Das Wispern war auf einen Windstoß zurückzuführen, der durchs offene Fenster ins Haus gefahren war. Sie atmete gegen ihre Nervosität an. Schließlich stand sie vor dem Büro, in dem Imogen und Adam ihre Steuer- und Versicherungsunterlagen aufbewahrten. Als ihre Hand nach der Klinke griff, hielt sie unwillkürlich die Luft an, stieß die Tür dann mit einem heftigen Stoß auf. Im Innern des Raumes brannte das Licht, obwohl Charly sicher war, es ausgemacht zu haben, als sie nach den Hochzeitsfotos gesucht hatte. Sie trat über die Schwelle und erstarrte. An der Wand oberhalb des Schreibtischs hatte bis vor wenigen Stunden eine Weltkarte gehangen, an der Imogen und Adam mithilfe von Stecknadeln demonstrierten, welche Länder sie in der Vergangenheit bereist hatten. Jetzt allerdings lag die Karte zusammengeknüllt am Boden und die Wand war von Fotos übersät. Charly schluckte gegen die aufsteigende Panik an. Dann registrierte sie, dass es sich bei all diesen Bildern um ein und dasselbe Motiv handelte. Sie taumelte leicht, hatte das Gefühl, ihre Beine würden unter ihrem Körper wegsacken. Auf den Fotos waren drei Kinder im Alter von etwa sieben Jahren zu sehen. Imogen, Megan und sie selbst. Jede von ihnen saß auf einem Kinderfahrrad und strahlte mit der Sonne um die Wette. Charlys Augen füllten sich mit Tränen. Sie waren so glücklich gewesen an jenem Tag, und jetzt, über zwanzig Jahre später, waren zwei von ihnen tot. Plötzlich stockte sie. Wie in Trance trat sie näher, streckte ihre Hand aus und riss eines der Fotos von der Wand, betrachtete es genauer. Warum war ihr das nicht gleich aufgefallen? Entsetzt ließ sie das Foto zu Boden fallen, riss das nächste von der Wand. Und noch eins. Und wieder eins. Fassungslos schnappte sie nach Luft, schüttelte den Kopf. Wer zur Hölle tat so etwas? Und vor allem, warum? Sie sank zu Boden, nahm eines der Bilder in die Hand und steckte ihren Zeigefinger durch das kleine Loch.

Wer um alles in der Welt hatte bei all diesen Fotos Imogens Gesicht herausgeschnitten?

Charlys Gedanken rasten. Sie sprang auf, durchwühlte den Papierkorb. Nichts. Dann rannte sie in Jodys Zimmer, durchsuchte, soweit die spärliche Beleuchtung dies zuließ, ebenfalls den Abfalleimer samt Schubladen und Schränke. Ebenfalls Fehlanzeige. Schweren Herzens beschloss sie, Jody zu wecken. Sie zog ihr sachte die Bettdecke weg und rüttelte an ihrer Schulter. Als das Mädchen sich aufsetzte und sie ebenso verschlafen wie verwirrt anstarrte, hätte Charly am liebsten losgeheult. Stattdessen hob sie das Mädchen auf den Arm und trug sie eilig ins Büro, zeigte auf die Wand mit den Fotos. „Weißt du, wer das war?“, fragte sie streng. Jody fing an zu weinen und schüttelte den Kopf. Dann rieb sie sich die Augen, fing an zu gähnen.

„Bitte, Jody, ich muss das wissen. Hast du irgendeine Idee oder jemanden gesehen, der das gewesen sein könnte?“ Diesmal achtete Charly darauf, ihre Stimme sanft und beiläufig klingen zu lassen, um dem Mädchen keine Angst zu machen. Wieder ein Kopfschütteln.

„Okay“, sagte Charly und spürte, wie ihr das schlechte Gewissen das Atmen erschwerte. Schnell drückte sie das Kind an sich. „Es tut mir leid, verstehst du? Ich musste dich das fragen, weil …“ Sie stockte. Ja, warum eigentlich? Charly wurde bewusst, wie idiotisch ihre Reaktion war. Wie sollte ein knapp dreijähriges Kind es hinbekommen, ein Foto mehrfach zu kopieren und anschließend aus jedem einzelnen davon ein Gesicht herausschneiden? Und wie hätte sie diese Fotos an der Wand anbringen sollen? Ihr Blick fiel auf den Bürostuhl. Jody hätte von dort aus auf den Schreibtisch klettern und … Schnell verwarf sie den Gedanken wieder, drückte das Mädchen fest an sich. „Ich bring dich wieder ins Bett.“

Jody nickte schluchzend. „Kannst du mir was vorlesen?“

Charly strich dem Kind behutsam über die Wange. „Klar.“ Beim Hinausgehen löschte sie das Licht, warf einen letzten Blick über die Schulter. Plötzlich hatte sie das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. Sie sah Jody an. Blickte auf ihre Armbanduhr. Am liebsten hätte sie Alice angerufen und um Rat gefragt, doch die würde ihr eine Störung um diese Zeit bestimmt übel nehmen. Andererseits war Charly sicher, heute Nacht kein Auge mehr zuzubekommen. Sie seufzte leise, als sie Jody zudeckte, setzte sich im Schneidersitz vor das Kinderbett, ein Buch von Walt Disney auf dem Schoß. Als sie Jodys erwartungsvollem Blick begegnete, fing sie an zu lesen. Doch ganz egal, wie spannend die Abenteuer des kleinen Mogli auch waren, ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit einzig und allein um die Frage, ob es Sinn machte, Jake anzurufen, oder ob der sie, wie damals bei Imogen, für verrückt erklären würde.