Kapitel 17

Newhaven, Juni 2015

 

„Alice? Du musst schnell herkommen. Geht das?“

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

„Bist du noch dran?“

„Was ist los, Charly? Du klingst irgendwie … komisch.“

Sie atmete tief durch. „Heute Nacht ist wieder was passiert. Da waren Fotos. Überall. Auf dem Boden und auf dem Tisch. Ich kann sie noch vor mir sehen. Und jemand hat etwas auf die Wand im Wohnzimmer geschrieben … Ich weiß nicht genau, vielleicht hab ich es auch nur geträumt oder hatte eine Halluzination.“ Sie brach ab, schnappte nach Luft. „Ich kann einfach nicht mehr, hörst du, Alice? Ich bin am Ende.“

Ein Räuspern. Dann ein Rascheln in der Leitung. „Ich zieh mir nur kurz was über und setz mich dann sofort ins Auto. In spätestens einer Stunde bin ich bei dir.“

„Ich danke dir“, flüsterte Charly in den Hörer und beendete das Gespräch. Dann ging sie zurück in die Küche und setzte sich zu Jody an den Tisch. Das Mädchen schien von alldem nichts mitbekommen zu haben, denn sie aß mittlerweile bereits die zweite Portion Müsli, spielte nebenbei mit ihrer Puppe. Ab und an warf sie Charly ein Lächeln zu, das heute Morgen eine seltsam beunruhigende Wirkung auf sie hatte. Charly seufzte leise. Inzwischen war sie zu dem Schluss gekommen, dass es besser wäre, wenn Jody vorerst woanders unterkäme. Doch wie sollte sie das anstellen? Wenn sie der Pflegemutter und der Dame von der Fürsorge von ihren Problemen erzählte, würden sie kommen, Jody mitnehmen und sie in ein Heim stecken. Vielleicht konnte sie Alice fragen, ob sie sich vorerst um das Mädchen kümmerte?

„Ich bin fertig“, riss Jody sie aus ihren Gedanken und kletterte von ihrem Stuhl herunter. „Kann ich fernsehen?“

Charly spürte den Anflug eines schlechten Gewissens. Die Kleine musste spüren, dass sie heute Morgen kaum zu etwas anderem in der Lage war, als herumzusitzen und zu grübeln. Deswegen kam sie gar nicht erst auf die Idee, sie zu bitten, mit ihr zu spielen oder etwas mit ihr zu malen. Plötzlich schoss Charly ein Gedanke durch den Kopf. Sie stand auf und hob Jody auf ihren Arm. Dann ging sie mit ihr hinüber ins Wohnzimmer. „Tante Alice kommt später vorbei“, erklärte sie der Kleinen. „Sie wird auf dich aufpassen, während ich etwas erledige. Aber solange sie noch nicht hier ist, sehen wir uns zusammen das Dschungelbuch an, okay?“

Jody klatschte begeistert in ihre kleinen Hände, was Charly die Tränen der Rührung in die Augen trieb. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Nein, sie würde das Kind auf keinen Fall wieder aus ihrer Umgebung reißen und in fremde Hände geben. Sie würde alles dafür tun und Imogens letzten Wunsch respektieren, notfalls eben darum kämpfen, ihr altes Leben zurückzubekommen. Der erste Schritt in diese Richtung wäre die direkte Konfrontation mit ihrer Vergangenheit. Ihr fielen Jakes Worte ein, die Schärfe in seiner Stimme.

Egal! Sobald Alice hier wäre, würde sie sich auf den Weg zu Jakes Mutter machen und mit ihr reden. Wenn jemand etwas über den Tag von Megans Tod wusste, dann sie.

 

„So und jetzt noch mal ganz in Ruhe! Was genau ist passiert?“, fragte Alice und nippte an ihrem Kaffee. Charly fiel auf, wie müde sie aussah. Ihr Magen zog sich zusammen. Nicht nur, dass sich ihre „Probleme“ auf Jody auswirkten, zog sie jetzt auch noch Alice da mit rein. Plötzlich wünschte sie, nicht so überreagiert zu haben. Charly schüttelte den Kopf. „Ich … es tut mir leid, Alice. Du hast noch geschlafen, als ich angerufen habe. Und bestimmt musst du heute noch zur Arbeit.“

Alice verzog das Gesicht. „Mach dir darüber mal keine Gedanken. Erstens hab ich Nachtdienst, also genügend Zeit, um später noch ein wenig zu schlafen. Und zweitens will ich genau wie du rausfinden, was mit meiner Schwester passiert ist.“

Charly nickte dankbar und räusperte sich. „Ich erinnere mich noch, dass ich gegen drei Uhr wach wurde und schrecklichen Durst hatte. Ich bin ins Erdgeschoss runter, hab was getrunken und dann überall die Lichter ausgemacht.“ Sie atmete tief durch. „Wie es aussieht, hatte ich das vor dem Zubettgehen mal wieder vergessen oder bin schlafgewandelt. Ich ging also ins Wohnzimmer und dort sah ich es dann.“

„Was, Charly? Was hast du gesehen?“

Ein tiefes Seufzen. „Da waren diese Buchstaben. Knallrot und riesengroß. Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, dass sie das Wort MÖRDERIN ergaben.“ Sie stieß die Luft aus, rieb sich erschöpft die Augen. „Und erst dann sah ich diese Bilder überall herumliegen. Es war wieder dasselbe Motiv wie neulich. Megan, Imogen und ich auf unseren Rädern. Nur dass diesmal nicht nur Imogens, sondern auch mein Gesicht fehlte.“

Alice nickte nachdenklich, trank ihren Kaffee aus. Dann stand sie auf, spülte die Tasse ab, stellte sie in das Abtropfgitter.

„Was denkst du?“, fragte Charly mit brüchiger Stimme.

Alice drehte sich zu ihr um, musterte sie besorgt.

„Sowohl das Gekritzel an der Wand als auch die Fotos waren heute Morgen verschwunden?“

Charly nickte.

„Hast du die Haustür überprüft? Alle Fenster? Den Keller?“

Charly hob die Schultern. „In der Nacht war ich dazu nicht mehr in der Lage. Ich muss zusammengeklappt sein, denn als ich heute Morgen zu mir kam, lag ich auf dem Teppichboden im Wohnzimmer.“

„Okay, aber was ist mit heute? Hast du überall nachgesehen?“

Charly nickte. „Keine Einbruchspuren. Nichts. Ganz davon abgesehen – warum sollte jemand meine Wand bemalen und anschließend alles wieder wegmachen? Und dann die Fotos? Warum sind sie nicht mehr da?“

Alice kam auf sie zu und ging vor ihr in die Hocke. „Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ist da draußen jemand, der dich bewusst in den Wahnsinn treiben will und dasselbe zuvor mit Imogen abgezogen hat. Oder du bildest dir alles nur ein und auch meine Schwester war wirklich paranoid. Vielleicht ist es ja die düstere Atmosphäre dieses Hauses, die die Menschen so extrem runterzieht … Immerhin haben hier einmal zwei glückliche Menschen gelebt, von denen jetzt nur noch der Schatten einer Erinnerung übrig ist.“ Sie stand wieder auf, sah Charly sorgenvoll an. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht, welche dieser Möglichkeiten die bessere ist. Fakt ist aber, dass ich jemanden gefunden habe, der eng mit Adam befreundet war. Der Mann heißt Joe und hat mit ihm gearbeitet. Wenn alles gut geht, treffe ich mich am Wochenende mit ihm in London, dann wissen wir zumindest, ob an der Theorie einer Affäre etwas dran ist.“

Charly schluckte. „Inzwischen bin ich sicher, dass Adam nichts mit alldem zu tun hat. Dass alles mit Imogens und meiner Kindheit zusammenhängt. Dass sie dasselbe durchgemacht hat wie ich jetzt. Die Fotos von heute Nacht … ich kann es nicht beschreiben … aber die wirkten wie eine Drohung auf mich. Verstehst du, was ich meine? Auf den Fotos von neulich fehlte Imogens Gesicht. Und auf denen von heute Nacht auch meines. Irgendwie sieht das danach aus, als wollten diese Bilder mir etwas klarmachen.“

Alice sah Charly zweifelnd an. „Das war nicht echt, Charly. Du hast es dir nur eingebildet. Also interpretier da nicht allzu viel hinein. Trugbilder sind nun mal, wie es ihr Name schon sagt, nur eine Täuschung unseres Gehirns.“

Charly schüttelte heftig den Kopf. „Ich denke, dass mein Unterbewusstsein mir damit etwas sagen wollte.“ Sie atmete tief durch, sah ihr Gegenüber düster an. „Irgendjemand will meinen Tod, Alice. Und ich muss herausfinden, wer und warum!“

 

Auf dem Weg zu Amanda Bishop ging Charly in Gedanken noch einmal die Ereignisse der letzten Tage durch. Wieder kam sie auf dasselbe Ergebnis: Es musste einfach jemanden geben, der zuerst Imogen umgebracht oder zumindest in den Tod getrieben hatte und jetzt ihr an den Kragen wollte. Alice hatte sich zwar vehement gegen den Gedanken gewehrt, dass Charly in akuter Gefahr sein könnte, doch letztlich hatte sie nachgegeben und sich bereit erklärt, während ihres Besuchs bei Megans Mutter auf Jody aufzupassen.

Als das Haus der Bishops vor ihr auftauchte, atmete Charly tief durch. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass Jake im Police Office war und sie nicht überraschte. Sie fuhr die Einfahrt hinauf, stellte den Wagen ab und stieg aus. Dann schritt sie auf die Haustür zu. Sie wollte gerade auf die Klingel drücken, als die Tür aufging und Amanda Bishop heraustrat. Die Frau lächelte und trat zur Seite, um sie eintreten zu lassen. „Was für eine Freude, Charlotte. Ich hab schon gehört, dass du wieder hier bist.“

Charly nahm die zerbrechlich wirkende Frau in die Arme und drückte sie kurz an sich. Dann löste sie sich von ihr, musterte sie beschämt. Jake hatte recht. Seine Mutter sah alles andere als gesund aus. Ihre Haut hatte eine gräuliche Farbe, ihre Augen waren gerötet, die blonden Haare stumpf und glanzlos. „Ihr Sohn hat mir eigentlich verboten, dass ich herkomme. Er sagte, dass es Ihnen nicht gut ginge.“

Amanda Bishop hob die Schultern. „Ehrlich gesagt habe ich schon viel früher damit gerechnet, dass du kommst.“ Sie lächelte traurig. „Willst du einen Tee?“

Charly nickte dankbar und folgte ihr in die Küche.

Amanda Bishop deutete auf die Sitzecke. „Nimm schon mal Platz. Ich bin gleich bei dir.“

Charly setzte sich und zupfte nervös an der Tischdecke herum. Als Amanda wenig später eine Tasse mit dampfendem Tee vor ihr abstellte, klammerte sie sich daran fest, ignorierte das Brennen an ihren Handflächen. „Ich bin hier, weil ich mit Ihnen über Megan sprechen muss. Ist das in Ordnung für Sie?“

Amanda stieß die Luft aus. „Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, nehme ich an.“

Charly wandte sich ab. Als sie wieder zu Amanda sah, nickte sie. „Ich nehme an, dass Jake bereits erzählt hat, dass ich bei Imogens Tod nicht an einen Suizid glaube. Zumindest nicht an einen Suizid, der durch Depressionen ausgelöst wurde. Ich denke stattdessen, dass da irgendetwas oder irgendjemand war, der sie dazu getrieben hat. Und das alles irgendwie mit Megan zusammenhängt. Mit dem, was ihr zustieß.“

Amanda sah Charly verblüfft an. „Jake hat nur gesagt, dass du in Newhaven bist, um dich um Jody zu kümmern. Und dass du Erinnerungslücken hast, was meine Tochter angeht.“

Charly schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich natürlich an Megan. Sie war ja meine Freundin. Allerdings wusste ich nicht mehr, dass sie tot ist. Und wie es dazu kam.“ Sie erzählte Amanda kurz und knapp von Imogens Verfügung und was seit ihrer Ankunft in England alles vorgefallen war.

„Verstehen Sie?“, schloss Charly ihren Bericht. „Drei Menschen sind gestorben. Und ich sehe Dinge, die gar nicht da sind. Hier geht irgendwas Furchtbares vor. Etwas, das mit dem Tod Ihrer Tochter zu tun hat. Deswegen muss ich wissen, was genau damals passiert ist.“

Amanda faltete ihre Hände. „Unser Gespräch erinnert mich gerade sehr an das, das ich mit Imogen geführt habe. Auch sie war hier bei mir, wollte mit mir über Megan sprechen. Sie hat mich seltsames Zeug gefragt, wirkte ein wenig überdreht, fast paranoid. Sie wollte wissen, ob ich Megan zutrauen würde, dass sie ihr etwas antat. Ich wusste gar nicht, was ich darauf antworten sollte, habe sie schließlich gebeten zu gehen, weil mir das alles zu viel wurde, doch Imogen dachte nicht daran, wurde immer seltsamer. Jake hat sie irgendwann rausgeschmissen, sie angebrüllt, dass sie uns in Ruhe lassen soll.“ Amanda sah Charly unheilschwanger an. „Sie machte mir wirklich Angst, Charlotte. Imogen … sie war wohl tatsächlich überzeugt davon, dass Megan zurückgekommen ist, um sich an ihr zu rächen. Genauso hat sie es gesagt. Dass meine Tochter wieder da wäre, um sie zu holen.“

Charly riss die Augen auf. „Rächen? Hat Imo wirklich rächen gesagt?“

Amanda Bishop nickte. „Das Schlimme an dieser Sache ist: Ich hab Imogen nicht ernst genommen. Niemand tat das. Nach dem Tod ihres Mannes galt sie sowieso überall als verrückt. Sie hat ja nie aufgehört, die Polizei mit abstrusen Vermutungen über Adams Tod kirre zu machen. Sie tat mir leid, doch ich durfte das alles nicht zu nah an mich heranlassen, verstehst du?“ Amandas Augen füllten sich mit Tränen. „Jetzt, wo sie tot ist, wünschte ich, ich hätte besser zugehört, versucht, ihr zu helfen.“

Charly sah die Frau ernst an. „Sie können ihr jetzt auch noch helfen. Wenn es kein Selbstmord war, muss Jody das irgendwann erfahren. Es wird ihr helfen, besser damit klarzukommen. Deswegen muss ich einfach herausfinden, warum Imogen tot ist und wer oder was dafür verantwortlich ist.“ Sie schluckte. „Ich glaube, dass Megans Todestag der Schlüssel ist. Sie müssen mir alles sagen, an das Sie sich erinnern.“

Amanda stand schweigend auf und ging nach nebenan. Als sie kurz darauf zurückkehrte, hatte sie ein Fotoalbum in den Händen. Sie setzte sich wieder und schlug es auf, nahm ein Foto heraus. Nachdem sie eine Weile darauf gestarrt hatte, reichte sie es Charly. „Es wurde an ihrem Todestag aufgenommen. Imogen, du und Megan wart verabredet. Ihr wolltet mit den Rädern herumfahren und Megan hatte schließlich die Idee, dass ich ein Foto von euch machen soll. Das war ein paar Minuten, bevor ihr weggefahren seid. Stunden später – es war schon dunkel – war mein Kind immer noch nicht zurück, deswegen rief ich zuerst bei deinen und dann bei Imogens Eltern an. Es stellte sich heraus, dass Imogen und du euch mit Megan gestritten hattet und deshalb schon eher zurückgekommen seid, um in Imogens Garten zu spielen. Ihr wusstet beide nicht, wo Megan war, deswegen rief ich die Polizei.“ Amanda schloss die Augen, atmete bebend ein. „Als sie ihren zerschmetterten Körper im Morgengrauen fanden, war es längst zu spät. Die Ärzte sagten, dass sie erst wenige Stunden tot war, dass man sie, wäre sie früher gefunden worden, vielleicht noch hätte retten können.“ Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah Charly an. „Seither habe ich mich immer wieder gefragt, um was es bei eurem Streit ging. Was kann so gravierend sein, eine Freundin einfach zurückzulassen?“

Charly sah Amanda entsetzt an. „Ich weiß es nicht.“ Sie senkte den Blick. Als sie wieder aufsah, schien Amanda sich gefasst zu haben.

„Dann waren wir drei an jenem Tag tatsächlich zusammen“, fasste Charly mit rauer Stimme zusammen. „Vielleicht war es das, worüber Imogen nicht hinwegkam. Dass wir Megan alleingelassen haben.“

Sie sah sich das Foto noch einmal an, spürte, wie etwas in ihrem Innern brach, ihre Muskeln sich verkrampften. Dann schoss ein Schmerz durch ihren Kopf, nahm ihr für einen Moment den Atem. Sie schloss die Augen, hatte plötzlich einen Flashback. Sie sah Megan übermütig über die Absperrung klettern und auf den Abgrund zurennen. Hörte, wie Imogen ihr nachschrie, sie solle mit diesem Blödsinn aufhören. Sah, wie Megan sich lachend umdrehte. „Jetzt bin ich kein Feigling mehr, nicht wahr? Charlotte Beck, sag der dummen Kuh, dass sie es zurücknehmen soll!“

Charlys Atem beschleunigte sich. Sie riss die Augen auf, sah wie Amanda Bishop ein Telefon zur Hand nahm und jemanden anrief. Merkwürdigerweise konnte sie nichts hören, hatte die ganze Zeit über nur einen entsetzlichen Schrei im Ohr. Plötzlich herrschte Stille. In ihrem Kopf, um sie herum. Charly fragte sich, ob sie jetzt vollends durchdrehte, doch dann formierte sich der durcheinandergewirbelte Gedankenbrei in ihrem Kopf zu Bildern. Imogen, die sich als Erste traute, zum Felsrand zu gehen und nach unten zu blicken. „Vielleicht ist sie tot, Charly, und das ist allein unsere Schuld.“ Imogens Stimme klang weinerlich.

Charly hatte sich nicht getraut, ebenfalls nach unten zu sehen, und war einfach weggerannt.

Dann wieder Imogens kindliche Stimme in ihrem Kopf. „Das ist unsere Schuld, Charly. Sie ist wegen uns so weit vorgegangen. Wenn das rauskommt, müssen wir vielleicht ins Gefängnis.“

Die siebenjährige Charly begann zu weinen.

Dann wieder Imogen. „Lass uns etwas schwören: Wir werden niemanden sagen, was hier passiert ist. Niemandem.“

Charly hatte nicht verstanden, was Imogen damit meinte.

„Wir müssen doch Hilfe holen.“

Kopfschütteln.

„Bestimmt kann man sie wieder gesund machen“, hatte Charly vermutet, doch Imogen hatte sie an den Schultern gepackt und geschüttelt.

„Niemand kann Megan jetzt noch helfen. Sie ist tot, verdammt. Ich will damit sagen, dass wir jetzt abhauen und nie wieder darüber reden, was hier passiert ist. Hast du das kapiert?“

Die Stimme von Megans Mutter drang wie aus weiter Ferne in ihr Ohr, doch sie vermochte es einfach nicht, zu antworten, geschweige denn, sich aus dieser furchtbaren Erinnerung zu befreien.

Sie sah, wie sich ihr jüngeres Ich zögernd auf den Abgrund zubewegte, auf die regungslose Megan hinunterstarrte, die mit seltsam verrenkten Gliedmaßen auf einem Felsvorsprung lag.

„Ihre Beine“, stammelte sie. „Guck doch, was mit ihren Beinen ist! Wir müssen hier weg.“

Imogens Stimme bohrte sich in ihr Bewusstsein. „Los jetzt, bevor uns jemand sieht.“

Dann sah sie die Blutlache.

Dunkelrot, beinahe schwarz breitete sie sich unter Megan aus, vermischte sich mit dem hochschwappenden Salzwasser.

Dann wurde es dunkel um sie.

Im Damals und im Heute.

 

Zwei Gesichter schoben sich in Charlys Blickfeld, als sie langsam wieder zu sich kam. Amanda sah sie besorgt an und auch Jake strahlte eine gewisse Bestürzung aus. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Ich hatte dich gewarnt, Charlotte. Du hättest nicht herkommen sollen. Nicht nur, dass du dich total fertigmachst, ziehst du auch noch andere Leute mit rein. Meine Mutter, Alice, Jody, mich. Was zum Teufel soll das?“

Benommen sah Charly sich um. Sie befand sich in Amandas Wohnzimmer, lag unter einer Wolldecke auf deren Sofa. Sie setzte sich auf und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Am Ende blieb sie doch stumm. Was konnte sie zu den beiden sagen? Dass sie sich endlich an alles erinnerte? Sollte sie Jake und seiner Mutter ins Gesicht sagen, dass sie Schuld am Tod von Megan trug?

Charly schnappte nach Luft, spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie schlug die Decke zurück, sprang auf, sah sich gehetzt um. Ihre Schuhe! Wo waren ihre Schuhe?

„Ich hab sie dir ausgezogen, als ich dich aufs Sofa getragen habe“, erklärte Jake, der ihre Gedanken erraten zu haben schien.

Charly schluckte und wankte an ihm und seiner Mutter vorbei in den Gang. Auch dort fand sie ihre Schuhe nicht, griff stattdessen in ihre Hosentasche, riss den Wagenschlüssel heraus, stürzte zur Tür.

„Charlotte, was machst du denn? Du warst ohnmächtig und solltest jetzt ganz sicher nicht Autofahren.“ Sie drehte sich um, sah, wie Jake hinter ihr herkam, schloss mit zitternden Fingern das Auto auf, ließ sich hinter das Lenkrad fallen. Genau in dem Moment, als Jake an die Seitenscheibe klopfte und schließlich am Türgriff riss, betätigte Charly die Sicherheitsverriegelung.

„Tut mir leid“, schrie sie durch die geschlossene Scheibe und startete den Motor. Jake konnte gerade noch auf die Seite springen, bevor Charly rückwärts aus der Einfahrt schoss.

Weg! Einfach nur weg hier – war alles, was sie denken konnte.

Sie war schon fast an der Kreuzung, als ihr einfiel, dass sie noch immer keine Schuhe anhatte.

Egal!

Als die Ampel auf Grün umschaltete, trat sie aufs Gas.

 

„Oh Mann.“ Alice schüttelte betreten den Kopf. „Du bist einfach abgehauen? Ohne Schuhe, ohne deine Handtasche und ohne Jacke? Das liegt alles noch bei Jakes Mutter?“

Charly nickte betreten. „Irgendwie hab ich das Gefühl, dass er es sich nicht nehmen lassen wird, herzukommen und mir alles vor die Füße zu werfen. Er ist ziemlich sauer auf mich.“

Alice' Augenbrauen schossen in die Höhe. „Hast du es ihm etwa gesagt? Ich meine, weiß er, dass du dich erinnerst?“ Charly verneinte. „Ich war zu feige. Deswegen bin ich ja so überstürzt abgehauen.“

Alice verzog das Gesicht. „Ich denke, das war das einzig Richtige. Gott weiß, wie Megans Mutter reagiert hätte, wenn sie wüsste, dass …“ Alice stockte erschrocken.

„Sag es ruhig“, schnauzte Charly. „Wenn sie wüsste, dass Megan wegen Imogen und mir gestorben ist.“

„So hab ich das nicht gemeint“, stammelte Alice. „Ihr wart Kinder. Und Kinder machen nun mal Unsinn. Und es ist auch vollkommen verständlich, dass ihr Angst bekommen habt und weggelaufen seid.“

„Trotzdem hätte ich den Mut aufbringen müssen und es ihnen sagen sollen.“ Charly knetete nervös ihre Hände im Schoß. „Jetzt halten mich beide erst recht für geistesgestört, ganz davon abgesehen, dass ich mein einziges Paar Schuhe dort habe stehen lassen.“

Alice verzog das Gesicht. „Imogens Schuhe dürften dir passen. Ich bin sicher, dass sie nichts dagegen hätte.“

Beim Namen ihrer toten Freundin zuckte Charly zusammen. „Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich mich mit Imo gestritten habe. Sie wollte es Amanda schon lange sagen. Als ich zu Jodys Taufe hier war, hat sie mich schließlich gebeten, sie zu begleiten. Sie hatte furchtbare Angst davor, hat mich quasi angefleht, sie das nicht allein durchstehen zu lassen.“ Charly brach ab, schnappte nach Luft.

„Und weil du dich an nichts erinnert hast, lehntest du ab, was Imogen als Verrat interpretierte, nicht wahr?“

„Ja“, flüsterte Charly. „Genauso war es. Sie ist wütend geworden, beschimpfte mich als Feigling und dass ich verantwortlich sei, wenn ihre Schuldgefühle sie irgendwann in den Wahnsinn treiben würden.“

Sie stieß die Luft aus. „Und genauso ist es später ja auch gekommen. Die Schuldgefühle haben Imogen aufgefressen. Nach Adams Tod wurde alles noch hoffnungsloser für sie. Vielleicht wollte sie mit dem Selbstmord ihre Reue zeigen? Für Gerechtigkeit sorgen? Wer weiß schon genau, was in ihrem Kopf vorging? Diese ganze Sache muss sie total verrückt gemacht und in ein tiefes Loch gezogen haben. Imogen war verzweifelt, verstehst du? So verzweifelt, dass selbst ihre Liebe zu Jody nichts mehr ändern konnte.“

Alice nickte traurig. Dann sah sie Charly ernst an. „Umso wichtiger ist jetzt, dass du nicht denselben Fehler machst. Imogen hat dir vertraut, als sie diese Verfügung hinterließ. Sie ahnte, dass dir irgendwann alles wieder einfällt. Schon deswegen musst du es ihnen sagen, Charly. Für Jody. Am besten setzt du dich sofort ins Auto und fährst noch mal zu den Bishops. Du musst ihnen sagen, was damals wirklich geschehen ist. Auch wenn es schwer ist. Das bist du ihnen, Imogen und dir selbst schuldig!“