Kapitel 1 – Warum möchten Sie anders werden?
Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.
Albert Einstein
Wie sieht es bei Ihnen aus? Haben Sie, ähnlich wie viele meiner Klienten, auch ein oder mehrere Dinge an sich zu beanstanden, die Sie enttäuschen, sehnsüchtig oder traurig machen oder die Sie geradezu auf die Palme bringen? Ist Ihr innerer Schweinehund stärker als Sie? Trickst Sie Ihr Fernseher regelmäßig aus? Rufen verführerische Stimmen aus dem Kühlschrank, sodass Sie gar nicht anders können, als den Schokoladenpudding endlich zu erlösen oder dem Bier seinen freien Lauf zu lassen? Fühlen Sie sich, wie ich, gelegentlich mittelmäßig? Möchten Sie andere nicht enttäuschen, oder versuchen Sie mittels eines neuen Verhaltens oder Auftretens jemand für sich zu gewinnen? Gibt es jemanden, dessen Auftreten oder Ausstrahlung Sie neidvoll betrachten und dem Sie so gerne ähneln würden – und sei es auch nur ein ganz klein wenig –, aber irgendwie gelingt das nicht? Oder gibt es Menschen in Ihrem Umfeld, denen Sie sogar ähnlich sind, die aber dennoch erfolgreicher leben und arbeiten als Sie? Gibt es etwas, das Sie jemandem, möglicherweise Ihrem Chef, Ihrem Vater oder Ihrer Mutter »beweisen« wollen? Möchten Sie »einfach nur natürlich und authentisch« sein, wissen aber gar nicht so recht, wie das geht?
Wenn Menschen das Bedürfnis haben sich zu verändern, gibt es dafür einen, eher jedoch verschiedene Gründe. Eine Vielzahl von Gründen sind nach meinen Beobachtungen auf den Wunsch nach »Anerkennung« oder »Liebe« zurückzuführen. So einfach ist das und fast wäre damit alles gesagt, wäre das Thema auf den zweiten Blick nicht doch ganz schön diffizil. Menschen, die sich verändern wollen, tun das aus einer Hoffnung oder einem Anlass heraus. Etwas ist passiert und mit einem Mal ist man nicht mehr recht so wie man vorher war. Wie bei Barbara, die als Sekretärin arbeitet. Barbaras Arbeitszeit könnte man mit Achtstundenplus beschreiben. Sie erledigt in ihrer Zeit all das, was zu ihrem Aufgabengebiet gehört und dann kommt immer noch ein Plus durch Kollegen, Vorgesetzte oder unerwartete Kundenanfragen hinzu. Da Barbara eine sehr gute Sekretärin ist, sehr loyal und darüber hinaus ungemein hilfsbereit, häuften sich in der Vergangenheit die Unterstützungsbitten so, dass Barbara am Wochenende in den Betrieb fuhr, um »endlich mal in Ruhe« ihrer eigenen Arbeit nachgehen zu können. Mit der Zeit wurde Barbara immer unzufriedener, bis ihr eines Tages ein Licht aufging: »Ich sah in den Spiegel und auf einmal wusste ich, wenn ich weiter Everybody’s Darling bleiben würde, dann würde das für mich absoluter Stillstand bedeuten – ganz einfach, weil mir für meine Interessen und meine Weiterentwicklung auf Dauer Zeit und Kraft fehlen würde. Wo war der Raum für die Ziele, die ich mir gesteckt hatte? Ich kam ja nicht mehr dazu. Der Englischkurs, die Malgruppe, das Theaterspielen. Als wäre ich eine Salami, hatte ich scheibchenweise immer mehr zurückgesteckt, mit dem Erfolg, dass ich weniger wurde und andere satt. Aber ich kann es nicht ändern, denn wenn ich versuche eine Aufgabe abzulehnen, dann legt man mir die Mappe dennoch auf den Tisch. Meine Kollegen nehmen mein Nein gar nicht wirklich ernst und ich frage mich, wann ich je ernst genommen wurde. Zurückblickend hat es mir schon immer an Durchsetzungskraft gemangelt. Ich bin doch für die meisten nur die kleine Tippse und habe zu machen, was andere sagen.« Nicht genug, dass andere Menschen uns nicht so respektvoll behandeln, wie wir das gerne hätten; wenn wir uns nicht gut fühlen, dann passiert es schnell, dass wir uns auch noch selbst auf die Rutschbahn der Selbstabwertung setzen. Und Selbstabwertung verhindert, dass Sie etwas mit Abstand betrachten und neu ordnen können, denn Sie stecken zu stark in Ihren Emotionen drin. Der Strudel der Gefühle dreht Sie dann mit sich um die eigene Achse und dadurch bleiben Sie nicht nur im abwertenden Gefühl, sondern stecken auch weiter in der Situation fest. Damit zum Beispiel Barbara tatsächlich etwas verändern kann, muss sie es schaffen, aus dem Strudel herauszutreten, die Situation von außen betrachten und möglichst neutral mit sich umgehen. Neutral bedeutet weder Räuber noch Opfer zu sein und schon gar nicht eine Tippse. Was Barbara sicher hilft, ist überhaupt zu bemerken, dass das Fass voll ist und sie auf diese Weise nicht mehr leben will. Neben all dem Ärger ist etwas Wunderbares geschehen, denn das bloße Registrieren dieser Situation zeigt auf: Ein Anfang ist gemacht!
Wie ist das bei Ihnen? Wer oder was hat Sie dazu veranlasst, über sich, Ihre Persönlichkeit, Ihr Verhalten nachzudenken? Was ist passiert? Warum sind Sie nicht gut so, wie Sie jetzt gerade sind? Und … handelt es sich dabei um eine kleine Sache oder geht es um Renovierungsarbeiten oder gar eine Grundsanierung Ihres Selbst?
Wenn sich etwas ändern soll, wenn Sie sich ändern möchten, dann kommen Sie nicht umhin, darüber nachzudenken, was der Auslöser für diesen Wunsch ist. Es gibt Gründe, die dabei durchaus sinnvoll sind, etwa, dass man gesünder und selbstzufriedener leben möchte. Es gibt aber auch unsinnige Gründe und es gibt Veränderungswünsche, die gar nicht zu realisieren sind. Aus einem Ackergaul wird nie ein Zirkuspferd, lautet eine Bauernweisheit, was aber nicht bedeutet, dass nicht auch Ackergäule ihren Platz im Zirkus finden können, wenn sie unbedingt möchten. Jeder hat das Recht auf sein eigenes Zirkusprogramm. Nicht nur der Gaul, auch Sie!
Die meisten Menschen, die ein Sehnsuchtsziel im Herzen tragen, hätten gerne einen Zauberer, der das für sie schnell regelt. Dabei ist ganz oft der Weg in die Veränderung schon der Genuss – wenn man die richtige Formel für sich gefunden hat. Wenn Sie die Formel bereits kennen würden, dann hätten Sie dieses Buch nicht in die Hand genommen. Sie wüssten dann bereits, »wie es geht« und wären darüber hinaus steinreich. Vermutlich wäre auch ich dann bei Ihnen Kunde. Aber ohne Reflexionsprozess kann es sein, dass auch der beste Zauber nichts bewirkt. Denn wenn man etwas verändern will, dann sollte man sicher sein, dass die Veränderung tatsächlich in das Leben passt. Nicht umsonst heißt ein schlauer Spruch: »Achte auf deine Wünsche, denn sie könnten wahr werden!« Dass Sie sich mit sich selbst beschäftigen wollen, zeigt mir und Ihnen, dass auch Ihre Formel an einer Stelle klemmt. Ich wage weiter die Vermutung, dass die Veränderung deswegen noch nicht angestoßen wurde, weil das Ziel Ihrer Wünsche noch nicht stimmig war. Nicht passend zum Kontext, zu Ihrem Leben oder zu dem, was Sie wirklich wollen und in Ihrer Seele tragen.
Veränderung wird dann möglich, wenn Sie eine bestimmte Sache auch wirklich verändern möchten. Wenn das Ziel erreichbar ist, in unser Leben passt und wir davon ausgehen können, dass es zu dem Erfolg führt, den wir uns wünschen.
Das Ziel von fast
jedem Veränderungswunsch ist Anerkennung oder Liebe.
So einfach soll das sein? So einfach und so schwer ist es. Überprüfen Sie selbst, was immer auch Ihr Wunsch ist, vermutlich steckt das eine oder das andere als Sehnsuchtsziel dahinter. Der Karrieresprung – Anerkennung oder Liebe? Die neue Figur – Anerkennung oder Liebe? Der Wunsch, akzeptiert zu werden – Anerkennung oder Liebe? Die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe ist in uns angelegt und zutiefst menschlich. Wir können uns Liebe und Anerkennung sowohl von Fremden, als auch von Freunden, Familie oder dem Partner wünschen. Bei dem Bedürfnis nach Liebe möchten Sie durch Ihre Veränderung Zuneigung, Wärme, Herzlichkeit und Wertschätzung empfangen. Beim Wunsch nach Anerkennung geht es darum, dass ein anderer Mensch durch Ihre Veränderung Ihre Arbeit, Ihr Engagement, Ihre Unterstützung oder Hilfe würdigt.
Ist Ihnen bereits ein Gedanke gekommen und sind Ideen entfacht, mit was oder wem Sie Ihre Veränderung in Verbindung bringen? Ist das, was Sie sich wünschen Liebe, oder suchen Sie Anerkennung?
Wer soll Sie anerkennen oder lieben?
Ihr Partner
Ihre Liebste
Ihre Chefin
Ihr Kind
Der Verein
Die Freunde
Sie sich selbst
Der liebe Gott?
Und mit was möchten Sie dieses Ziel erreichen? Wollen Sie geduldiger oder aktiver werden, nörgeln Sie an Ihrem Äußeren herum oder hoffen Sie auf den großen Sieg, wenn Sie endlich Süchte beenden oder keine Heimlichkeiten pflegen?
Fragen Sie sich, was dahintersteckt. Anerkennung oder Liebe?
Und was wäre ganz konkret anders, wenn Sie anders wären? Können Sie das jetzt schon sagen?
Es ist sehr hilfreich, die Wurzel des Wunsches zu verfolgen. Möglicherweise werden Sie nicht nur einen Wurzelstrang, sondern ein ganzes Wurzelgeflecht entdecken. Genährt wird das Beet von der Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe, konfrontiert werden wir mit Anforderungen, Erwartungen und Bedingungen, die wir sehen, hören oder uns selbst stellen:
) Erwartungen anderer Menschen (»Wenn ich den Job will, dann muss ich kommunikativer werden.«)
) Annahmen (»Nur wer ein Strahlemann ist, wird gesehen!«)
) Allgemeine Vorgaben (»Ich wäre erfolgreich, wenn ich es endlich schaffen würden, Fristen einzuhalten.«)
) Gesellschaftliche Vorgaben (»Echte Männer wissen, was sie wollen!« – »Echte Ladys sind nicht vorlaut!«)
) Kirchliche Regeln (»Ich will nicht heiraten, aber das ist unmoralisch.«)
) Familiäre Hoffnungen (»Sie bauen doch so auf mich!«)
) Innere Verpflichtungen (»Ich muss das Studium schaffen, damit ich ihnen all das Gute zurückgeben kann!«)
) Rechenschaft gegenüber sich selbst (»Ich habe mir immer vorgenommen, viel zu reisen und nun fahre ich immer nur an den Gardasee.«)
Menschen, die sich verändern möchten, wollen oft nicht enttäuschen – weder sich noch andere. Dabei werden wir von Vorbildern, Rollen, der Mode und allgemeinen Tendenzen geprägt. Henriette, eine junge Frau, beschrieb ihre Verunsicherung so: »Es gibt eine Menge weiblicher Stars oder Models, die vulgär angezogen sind und sich vulgär benehmen. Manchmal blicke ich nicht mehr durch … muss man heute vulgär sein, um geliebt zu werden?« Die Menschen um uns herum dienen uns als eine Art Vorlage für Handlungsmöglichkeiten. Wir betrachten andere und wägen ab, ob diese Menschen die Formel gefunden haben, die beliebt, zugehörig und glücklich macht. Und viele Wünsche sind geprägt von den Erwartungen unseres Umfelds: »Ich will das eigentlich nicht, aber ich muss es tun, weil ich sonst nicht dazugehöre.« Dafür gibt es viele Beispiele:
) Ich muss Fitness machen, weil meine Figur sonst nicht gefällt.
) Ich muss einen Businesskoffer haben, weil ich sonst als Trainer nicht ernst genommen werde.
) Ich brauche eine teure Uhr, weil erfolgreiche Männer teure Uhren tragen.
) Ich muss lernen mich anzupassen, damit mein Team mich mag.
Wenn Sie anders sein wollen, dann wollen Sie das vermutlich deshalb, weil Sie einen Menschen vor Augen haben, der anders und damit besser ist als Sie. Es sind Vergleiche, die uns unzufrieden machen und/oder als Ansporn dienen. Vergleiche an sich sind gesund, denn sie mobilisieren und motivieren. Ohne den Vergleich, würden wir heute noch in kalten Stuben sitzen. Der ganze Wettbewerb unserer Gesellschaft ist auf Vergleich ausgerichtet und sehr oft dient das einem guten Zweck. Wirft man nur einen Blick auf die medizinische Forschung, so können wir froh sein, dass es Vergleiche gibt und Wissenschaftler miteinander konkurrieren. Unternehmen vergleichen sich und lernen voneinander. Man nennt diese Methode Best Practice. Vergleiche werden erst dann zu einem blockierenden Phänomen, wenn wir sie nicht genau betrachten und sie damit unreflektiert auf unser Leben wirken lassen.
Als ich während meines Studiums ein Praktikum bei meinem damaligen Lieblingsverlag machte, da war ich überglücklich und lief staunend durch die Tage, die voller Buchstaben und Namen bekannter Autoren waren. Während des Praktikums traf ich einmal Michael, ein Studienkollege von mir. »Und machst du auch Verbesserungsvorschläge?«, lautete seine erste Frage. Verbesserungsvorschläge? Mein Lieblingsverlag war perfekt. Größen wie Janosch und Christine Nöstlinger hatten dort publiziert! Michael schaute mitleidig lächelnd zu mir herab. In seinem Blick lag der Satz: »Du lernst es auch nie!« Sofort begann ich mich innerlich zu beschimpfen. Natürlich, andere kamen in ihrer Karriere weiter, weil sie kritisch und wach waren und ich träumte wieder einmal nur dahin. Niemals würde man mich beruflich ernst nehmen. Michael kostete meine Denkpause genüsslich aus. Er würde es zu beruflicher Anerkennung bringen. Ich niemals, wenn ich so blieb, wie ich war. »Und du machst dir wohl viele Notizen?«, erkundigte ich mich kleinlaut und sauber geführte Ablagen und Ordner stapelten sich vor meinem inneren Auge. »Ja, und weißt du«, erklärte er mir väterlich, »es ist mir sogar so wichtig, dass ich meine Notizen immer dabeihabe.« Dann griff Michael in die Hosentasche und fingerte einen schmuddeligen kleinen Zettel hervor, auf dem nicht mehr als drei lausige Ideen standen.
Michael hatte nichts, was mir fehlte, aber in Windeseile hatte ich es geschafft, dass er in meiner Fantasie viel schlauer und cleverer war als ich.
Viele Menschen äugen so sehnsüchtig auf andere Menschen, Teams, Beziehungen oder Familien, die es anscheinend »geschafft« haben und die ganz offensichtlich glücklicher, erfolgreicher oder harmonischer leben als man selbst. Menschen, die Anerkennung finden und denen man gerne Liebe schenkt. Auch Sie sind so ein Mensch und es gab eine Zeit, da haben Sie dies sogar gewusst!
Paradiesische Zustände
Es gab einmal eine Zeit in Ihrem Leben, in der Sie nicht den Wunsch hatten, anders zu sein, weil Sie gut waren, so wie Sie waren. Lassen Sie uns gedanklich in Ihre Kindheit zurückgehen, und zwar in Ihre allererste Lebensphase. Babys finden sich gut so, wie sie sind. Vielleicht hatten Sie Bauchweh, Hunger oder Langeweile, aber Sie wünschten sich keinen anderen Hintern und nörgelten nicht an sich herum, weil Sie nur zwei, anstelle von drei Krabbelschritten schafften. Ich habe früher als Erzieherin im Heim gearbeitet und weiß, dass auch in den sozial schwächsten Gebieten, Menschen glänzende Augen bekommen, wenn sie ein Baby sehen, füttern oder streicheln. Sie fühlen sich stolz, beglückt und beschenkt und geben diese Empfindungen an das Baby weiter. Die Gefühle von Liebe haben erst einmal nichts mit Bildung zu tun, es handelt sich hier um Urgefühle. Solange Menschen noch Menschlein sind, werden sie zumeist umsorgt, geherzt und geliebt. Babys empfangen diese Liebe und lächeln. Das Lächeln verzückt die Eltern, die nun noch mehr dafür tun, damit das Baby wieder lächelt.
»Ohhh, ist die süß!«
»Gott, ist der goldig!«
Haben Sie ein Babyfoto von sich? Dann nichts wie her damit:
Und … waren Sie nicht supersüß? Ich muss lächeln, obwohl ich das Bild gar nicht sehe. Babys und kleine Kinder sind schutzlose Wesen, deswegen hat die Natur sie so appetitlich gemacht. Mutter Natur will, dass wir uns gerne um kleine Kinder kümmern. Und das tun wir. Wir überschütten sie mit Liebe und Zuneigung. Zeig mir ein Kind und ich werde lächeln. Selbst dann, wenn es die Hosen voll oder eine Rotznase hat. Kinder fühlen diese Liebe und haben keinen Grund sich zu ändern.
So war das vermutlich auch bei Ihnen. Die Welt war gut und Sie waren gut! Als Sie als Baby selbstvergessen mit Ihren Daumen spielten, mangelte es Ihnen weder an Elan, noch an Organisationsvermögen oder strategischem Denken. Ihre Persönlichkeit hatte genug Charme und Esprit und Ihre Selbstmotivation war genau in dem Maß vorhanden, wie Sie sie brauchten, um an der Bettdecke zu ziehen oder am Ohr des Teddybären zu nuckeln.
Egal, wie mickrig Ihr Kinderwagen in Wirklichkeit war, für Sie war er genau richtig, und Sie schielten nicht auf andere Kinderwagen, um zu prüfen, ob die schickere Räder oder ein besseres Dach hatten. Der Kinderwagen wurde weder tiefergelegt noch höhergeschraubt, und Ihre Mutter, oder wer auch immer den Kinderwagen schob, hatte exakt die richtige Anzahl an PS. Sie sehnten sich auch nicht nach längeren Haaren, dünneren Oberschenkeln oder einem kleineren Bauch. Keine Einjährige schielt nach dem Aussehen einer anderen. Kein kleiner Junge will exakt den gleichen Schnuller wie ein anderes Baby haben und giert auch nicht nach einer Schnullernummer größer.
Damals, in dieser schönen Zeit, gab es keinen inneren Schweinehund, den Sie überwinden mussten, und es brauchte keine »Work-Life-Balance-Übungen«, um nicht völlig durchzuknallen. Keine hässlichen inneren Dialoge, in denen Sie sich herunterputzten, weil Sie mal wieder etwas vergessen hatten, faul waren oder sich völlig daneben präsentierten haben.
Alles war gut in dieser paradiesischen Zeit der Annahme und Selbstannahme. Alles perfekt, super, wunderbar, passend, genial. Nur ging diese Zeit leider viel zu schnell vorbei. Was danach kam, war etwas, dem Sie heute noch begegnen und das Sie so quält, dass Sie sich immer mal wieder verändern möchten. Es ist der Vergleich. Die Konkurrenz. Das Schielen auf andere. Das Bewerten, Wollen, Nacheifern, alles mit der Hoffnung, wieder in den paradiesischen Zustand von Annahme und Selbstannahme zu kommen.
Vergleiche mit anderen
Wenn man Mütter oder Väter fragt, dann weisen sie meist weit von sich, dass sie es sind, die als erste ihre Kinder mit anderen in Konkurrenz bringen. »Jedes Kind ist doch für sich schön!«, höre ich sie sagen. Aber genau im Kleinkindalter fallen auch die ersten Bemerkungen, die klarstellen, dass wir eben doch keine kleinen vollkommenen Gotteswesen waren oder sind. Die Vergleiche geschehen zumeist unbewusst, sozusagen über die Dächer der Kinderwagen hinweg: »Es ist unglaublich, aber Sven kann jetzt schon mit dem Löffel essen. Das geht alles soooo rasant. Und Lara?« Lara kann das noch nicht und sie weiß auch nicht, was »mit dem Löffel essen« bedeutet, aber am Abendbrottisch ist der Löffel auf einmal Thema und nicht mehr ihr süßes Kindergrinsen. »Lara, komm… probier mal. Der Sven kann das auch schon und der ist doch so süß! Gell, der ist süß? Und was der Sven kann, das kann Lara auch. Und dann ist sie auch süß!« Eigentlich hat Lara jetzt nur eine Chance: Ihr Geschick gleich auf das Hantieren mit dem kompletten Besteck zu erweitern. Als ich in meinen ersten Berufsjahren als Tagesmutter arbeitete, musste ich einem Zweijährigen ein Obstmesser zu seiner Banane legen, weil in feinen Kreisen das Obst mit Messer und Gabel gegessen wird. Sagte man mir …
Später sind es die anderen Kinder, die uns beibringen, dass es eine Rangliste der Beliebtheit gibt: Warum wollen alle Kinder immer mit Elena spielen und wieso steht Freddy immer im Tor? Die müssen was haben, was einem selbst fehlt. Und zwar alle und immer. Der erste Vergleichsblick ist alles andere als differenziert und heftet sich, weil das am einfachsten ist, erst einmal an Äußerlichkeiten:
»Elena hat aber einen rosa Ranzen!«
»Du doch auch!«
»Nein, hab ich nicht, meiner ist pink!«
»Freddy hat aber richtige Fußballschuhe!«
»Du doch auch!«
»Nein, meine sind nicht richtig richtig!«
Versteh einer die Welt, aber beide Kinder könnten sicher genau erklären, was sie exakt meinen. Aber was – neben der Farbenlehre – viel interessanter ist, sind die Auswirkungen, die unterschiedliche Farbpigmente haben können. Elena scheint beliebt zu sein und Freddy ist es offensichtlich. Folglich müssen beide etwas haben, was uns fehlt. Das »schlanker, besser, höher, schneller«, das in den Kindertagen seinen Ursprung hat, entsteht nämlich nicht durch den einsamen Blick in den Spiegel, sondern indem wir jemanden – und sei es nur gedanklich – neben uns platzieren. Es ist nicht die Farbe des Schulranzens, sondern welche beliebten Mädchen diese Schulranzen tragen. In einem FAZ-Artikel war zu lesen, dass Mode längst kein freier Ausdruck mehr ist, sondern ein Gleichheitsdiktat, das inzwischen auch für Jungen gilt. Der Artikel ist nicht etwa im Jahre 1966, sondern im März 2011 erschienen. »Ein Freundeskreis trägt komplett dieselbe Frisur aus England, Röhrenjeans, karierte Hemden. – Niemand zieht einfach irgendwas an. Nur die Nerds« (FAZ, 6.3.2011, Gymnasien machen Leute).
Nerds sind die Sonderlinge, Außenseiter, Fachidioten, Computerfreaks oder schwarzen Schafe. Als Kind oder Jugendlicher will man jedenfalls kein Nerd sein. Ein Nerd zu sein, ist im Kindesalter bitter, deswegen streben bereits Kinder eher den Kindern nach, die wie Goldjungen und Goldmädchen wirken. Erst später kann der Nerd zu einer Marke werden.
Ich zeige Ihnen hier ein Foto aus meinen Schultagen.
Die Dicke da hinten, das bin ich. Und die hier …, die wäre ich gern gewesen. Wie eine kleine Fee. Ganz neidisch war ich auf dieses Kind, deren Namen ich heute nicht mehr weiß.
Ab einem gewissen Alter wollen Kinder nämlich nicht mehr nur Mami und Papi gefallen, sondern »der Welt«. Ihnen wird bewusst, dass es Unterschiede gibt, und dass manche Menschen, manche Kinder besser ankommen als andere. Das ist kein schönes Gefühl. Für mich brach eine Welt zusammen, als ich erkannte, dass meine gleichaltrige Cousine Gabi viel beliebter war als ich. Sie war so sanft und süß. Auf Gabis Geburtstagskarte standen die Worte »liebes Mädchen«, mir schrieb ein Onkel: »Dem kleinen Wurstele zum Geburtstag alles Gute!« Alles Gute! Na, vielen Dank!
Erst viel später erfuhr ich, dass Gabi gern wie ich gewesen wäre. Dieses Phänomen trifft man übrigens sehr oft.
Im weiteren Verlauf des Lebens wird es zunehmend anstrengender, Anerkennung und Liebe zu erhalten. Allein ein Lächeln – wie im Babyalter – genügt nicht mehr. Wir lernen es mit jedem Jahr und wissen es heute sehr genau, dass Eigenschaften, Taten und Worte nötig sind, um Liebe und Aufmerksamkeit zu erhalten. Und Güter. Unser spontanes, authentisches Wesen verwandelt sich vom Babybett bis heute oftmals in eine Art Kalkül: Wenn ich das und das mache, dann bekomme ich ein Lächeln zurück.
Aus der Hirnforschung ist bekannt, dass nonverbale Botschaften um ein Vielfaches schneller im menschlichen Bewusstsein ankommen als gesprochene. Ein Lächeln oder eine hochgezogene Augenbraue reicht, um uns in Sekundenbruchteilen klarzumachen, ob unser Gegenüber unser Verhalten wirklich schätzt oder eher ablehnt. Schon als Kinder konnten wir diese Sprache dechiffrieren und richteten unser Verhalten darauf aus. Damals, im Kindesalter, wurden wir »angefixt« und kamen mit der Droge in Berührung, nach der wir heute suchen. Das Lächeln und wohlwollende Nicken eines anderen Menschen, das in uns Berge versetzen kann. »Mein Chef schickt mir sehr oft als Dankeschön ein Lob«, berichtete mir eine Sekretärin. »Durch Zufall konnte ich ein Telefonat belauschen, das er mit einem Kollegen führte. So eine Mail oder kleine SMS, die spornt sie richtig an, hörte ich ihn sagen. Danach arbeitet sie meist doppelt so hart wie vorher. Sobald die Energie nachlässt, sende ich ein neues Lob und: Es funktioniert!« Selten fühlte sich diese Frau schlimmer benutzt als in dem Moment, als sie das Gespräch belauschte. »Wie konnte ich mich nur für so ein bisschen Lob derart ins Zeug legen?« Tja. Sie wissen es bereits: Es geht um Anerkennung oder Liebe!
Längst erwachsen geworden, zieht es uns fast magisch immer wieder in das Wunderland von Bestätigung und Liebe zurück. Wir rennen der Wurst nach und fassen oft nur einen Zipfel, denn selbst wenn wir geliebt und geachtet werden, gibt es doch immer neue Menschen, die noch nicht gewonnen wurden oder die sogar eine Abneigung empfinden. Nicht alle Menschen werden von allen Menschen gemocht oder geliebt. Ich spreche aus Erfahrung, und sollten Sie gerade zurückgewiesen worden sein, heulen Sie sich gerne – in einer Atempause – aus. Ich kenne das …
Wir wollen die Anerkennung, die andere offenbar mühelos erfahren, den Applaus, die glänzenden Augen und strengen uns dafür richtig an. Der Wunsch nach Liebe und Bestätigung ist der beste Motor, den es gibt. Er lässt uns Berge versetzen, selbst wenn keine sichtbar sind.
Wenn ich schon keine bedingungslose Liebe erhalte, denken sich viele Menschen, so will ich wenigstens die Bedingungen für Liebe erfüllen:
) Ich muss abnehmen, weil mich sonst mein Mann verlässt.
) Ich muss mich mehr anstrengen, damit mein Chef eine bessere Meinung von mir hat.
) Ich muss mich besser präsentieren, damit man meine Talente erkennt.
) Ich muss besser kochen lernen, damit meine Familie zufriedener ist.
Oder bei mir: »Ich darf nicht so spontan sein. Ich bin viel zu sprunghaft. Menschen halten das nicht aus. Ich muss zurückhaltender, stiller sein, sonst falle ich zu sehr auf. Andere sind doch auch nicht so lebhaft, wie ich das bin!«
Unzufriedenheit entsteht in dem Moment, in dem wir uns unreflektiert in Relation zu einem Gegenüber stellen. Das ist der Moment und das ist der Ursprung, auf den sich später viel zurückführen lässt. Und diesem Ursprung, diesem Moment können wir jeden Tag begegnen. Sie können schon an der Tankstelle Unzufriedenheit darüber verspüren, dass jemand schneller tankt als Sie. Sie können unzufrieden werden, wenn Sie beim Arzt im Wartezimmer sitzen und sehen, dass jemand anderes sich sehr geschmeidig und sehr freundlich mit einer Tafel Schokolade vordrängelt und deswegen vor Ihnen drangenommen wird. Sie denken, das gibt es nicht? Fragen Sie meine Mutter. Ihre Währung ist Schweizer Schokolade. Unglaublich, aber es funktioniert. Sie könnten also in diesem Moment im Wartezimmer sitzen und denken, was bin ich für eine blöde Kuh, dass ich nicht auch auf die Idee gekommen bin, mir ein bisschen Zeit zu sparen, indem ich sehr freundlich mit den Arzthelferinnen umgehe. Und so gibt es über den Tag gesehen viele Möglichkeiten, die Sie unzufrieden werden lassen können, sodass Sie sich am Abend sehr ungnädig im Spiegel angucken, weil Sie wieder einmal festgestellt haben, dass andere besser sind als Sie. Oft genug beruht dieses Gefühl nicht auf einem speziellen Verhalten, sondern setzt sich aus vielen »Andere-sind-besser-als-ich«-Momentaufnahmen zusammen. Beispiele, die uns unzufrieden machen und Gedanken, die verzweigt wie ein Mindmap und in der Regel unreflektiert sind.
Ich darf nicht …, ich bin viel zu …, ich muss …
Das klingt nicht gerade nach einem begeisterten Wunsch, nach einem feurigen Aufbruch in eine strahlende Zukunft, oder? Menschen, die ihren Veränderungswunsch in eine »Wenn-dann«-Beziehung setzen, sind oft selbst nicht von ihrem Vorhaben überzeugt. Dafür spricht schon das Wörtchen »müssen«, das sich in Änderungsvorhaben immer wiederfindet.
Die Änderung ist kein Wunsch mehr, sondern »heilige« Pflicht – und die Veränderung wird damit zum Problem. Das Anderssein wird zu einer Bedingung, von der man meint, dass man sie erfüllen muss, um bei sich oder anderen Menschen »anzukommen«. Zwischen dem Jetztzustand und dem »Ankommen« liegt eine Distanz. Das Boot, das diese Distanz überwinden soll, also von einem Pol zum anderen fährt, nennt man Veränderung. Ob die Veränderung sinnvoll ist und tatsächlich zu Anerkennung und/oder Liebe führt, wird oft genug nicht überprüft und nicht überdacht.
Wenn Sie anders sein
möchten, um anderen Menschen zu gefallen, dann tun Sie gut daran zu
überprüfen, ob diese Vorstellung auch stimmt!
»Als ich 17 war, war ich total in eine Klassenkameradin verknallt. Weil sie von Typen aus bestimmten Musikbands schwärmte, ließ ich mir die Haare lang wachsen«, erzählte mir ein Klient. »Meine Eltern machten Ärger, die Kumpels im Verein rissen blöde Witze. Ich hielt durch. Als die Haare endlich lang waren, entschied sie sich für einen Typen, der eine Glatze trug.«
So kann’s gehen. Also bleiben Sie vielleicht besser bei der Frisur, die Sie gerade tragen, es könnte sich für Sie lohnen, auch wenn Sie das jetzt noch nicht erkennen können.
Oft genug werden wir aber auch mit Erwartungen konfrontiert, die weder ausgesprochen noch diskutiert wurden. Als ich mich kürzlich im Sportstudio auf dem Stepper abplagte, meldete dieser nach etwa 20 Minuten: »Sie haben 20 Prozent des Trainingsziels erreicht.« Wenn man mal davon absieht, dass 15 Minuten für mich schon mehr als genug sind, frage ich mich doch, wer das ist, der davon ausgeht und mir suggeriert, dass eine Trainingseinheit nur dann eine richtige Trainingseinheit ist, wenn ich meinen Körper 60 Minuten lang stähle.
Ich frage Sie nun erneut: »Warum genau möchten Sie also anders werden und für wen genau?« Alles ist erlaubt, wenn Sie sich nicht unter Druck setzen lassen, sich nicht in Abhängigkeiten begeben und keiner falschen Liebe, unpassenden Vergleichen oder unseriösen Versprechungen nachlaufen.
Aber auch wenn Sie das jetzt erkennen, mag es sein, dass Ihr Veränderungswunsch dennoch einen Sinn ergibt. Es ist nicht schlimm FÜR einen anderen Menschen etwas zu tun, solange Sie die Veränderung auch für sich machen und Ihr Selbstwert nicht von der Erfüllung oder Nichterfüllung abhängt. Es kann ein Ansporn sein, eine Motivation, einer Beachtung hinterherzurennen. Doch noch mal ein Aber … das Rennen muss Ihnen Freude machen. Das ist so ähnlich wie mit dem Applaus. Wenn ein Künstler auf die Bühne geht, weil er ohne Applaus nicht leben kann, dann ist das ein sehr schwieriges Leben. Wenn er auf die Bühne geht und Applaus dafür bekommt, was er selbst liebt, dann ist der Applaus ein zusätzlicher Gewinn.
Ich selbst habe erlebt, dass der Antrieb für eine Veränderung durchaus von außen angestoßen werden kann. Ich war 28 Jahre alt, frisch geschieden und verliebte mich in Manuel, den schönen Anwalt aus der Nachbarschaft. Alles wollte ich dafür tun, damit er mich bemerkt. Nach verschiedenen Rechtsstreitigkeiten, die ich vom Zaun brach, war mir klar, dass Manuel sich nie für mich interessieren würde, weil er gebildet und ich ungebildet war. Er war Anwalt und ich ja nuuuur Erzieherin. Ich sah darin ein sehr, sehr unterschiedliches Niveau. Also beschloss ich zu studieren. Das Studium eröffnete mir eine neue große Welt. Manuel lernte ich dann während meines Studiums auf privater Ebene kennen. Wir fanden uns toll und haben uns angefreundet – aber eben ein paar Jahre später. Bei einem Glas Wein erzählte er mir, dass er mich von Anfang an sympathisch fand, er sich nur vorgenommen hatte, nicht mit einer Klientin auszugehen. Das war also der Grund gewesen und nicht, weil ich ungebildet war. Ich bin froh, dass meine Annahme nicht stimmte, und ich bin mir sicher, dass ich, egal mit Manuel oder ohne, irgendwann sowieso studiert hätte, weil mir Bildung und Wissen sehr wichtig sind. Er war mir jedoch ein hübscher Impuls, eine Anregung, um die Veränderung zu wagen. Eine Bedingung hätte bei mir übrigens nicht funktioniert, da Bedingungen mich bockig machen.
Sie bestimmen Ihre
Veränderung. Diese kann von außen angeregt werden. Der Motor der
Veränderung aber sind Sie selbst.
Unser Gegenüber, unser ganzes Umfeld bestimmt, ob wir uns als passend oder nicht passend empfinden. Das kann mit sich bringen, dass wir gar nicht besser sein wollen als andere, sondern wie die. Endlich nicht mehr auffallen. Nicht mehr so schlau sein, so dumm, so schön, so merkwürdig – die Wünsche sind individuell oft sehr verschieden:
»Ich war immer die Schönste, das war nicht lustig, wissen Sie?«
»Ich war immer die Hässlichste, das ist erst mal unlustig, wissen Sie?«
Gemeinsam ist jedoch allen der große Wille, dazuzugehören. Die rosa Ente möchte gelb sein, um zur Gruppe zu passen. Wenn ich wie die anderen bin, denkt sie, dann bin ich genauso gut.
Auch dieser Wunsch hat einen Hintergrund. Menschen, die zu einer Gruppe gehören, waren in der Urzeit durch die Gruppe geschützt. (»Ich will so sein wie ihr, damit ich mir eurer Liebe und/oder Anerkennung sicher bin. Bin ich geliebt und/oder anerkannt, bin ich geschützt.«) Wer anders war, wurde ausgegrenzt und dadurch auch schutzlos. Vereine, Verbände, Clubs und Netzwerke können mehr bewirken als Einzelkämpfer. Dass das so ist, das haben wir sozusagen in den Genen. Deswegen wollen schon Kinder dazugehören und wenn möglich das gleiche Pausenbrot wie die Banknachbarin im Ranzen haben. Nicht Schinken und Ei, sondern Ei mit Schinken.
Wir möchten auf gar keinen Fall anders sein oder aus dem vorgegebenen Rahmen fallen. Viele Menschen verharren in diesem Wunsch. Sie streben danach dazuzugehören und nicht aufzufallen, schon gar nicht negativ. Die unaufdringliche, gefällige Mitte wird anvisiert. In Japan gibt es sogar eine Steigerung davon: Die »Mitte der Mitte« heißt das erstrebenswerte Ziel dort. Denn im Gefühl dazuzugehören, stecken Anerkennung und Geborgenheit.
Ziehen Sie die richtigen Vergleiche?
Meine mütterliche Freundin Helga ist 75 Jahre alt. Sie ist eine muntere, selbstbewusste Frau, die für ihr Leben gern wandert. Ihren Urlaub verbringt sie oft mit Wandergruppen in den bergigen Landstrichen dieser Welt. Sie genießt das. Doch beim letzten Mal verlief ihr Urlaub alles andere als angenehm. Sie wurde von einem frühpensionierten Erdkundelehrer (50 Jahre) wandertechnisch fast zur Strecke gebracht. Statt in frischem Tempo die Landschaft zu genießen, machte der diesjährige Wanderleiter aus der Wander- eine Rennstrecke. Ihm ging es darum, möglichst viele Gipfel in möglichst kurzer Zeit zu erreichen. Das Unterwegssein, das Wandern an sich, war ihm weniger wichtig, sein Hauptaugenmerk lag auf dem zügigen Abwandern von Anlaufpunkten.
Vielleicht hatte er sogar ein rotes Notenbüchlein in der Tasche. Helga war jedenfalls keine Einserschülerin. Sie »hing hinten«. Als sie von ihrer Reise zurückkam, erzählte sie mir von ihrem Rennurlaub. Aber statt sich selbst zu kasteien und zu sagen: »Immer war ich die Letzte in der Gruppe. Wäre ich nur schneller gewesen, hätte ich mich nur mehr angestrengt, dann wäre alles gut gewesen!«, stellte sie fest: »So schade es auch ist, diese Art von Wandergruppe passt nicht mehr zu mir.« Bei Helga hatte sich also schlicht die Vergleichsgruppe geändert. Hatte sie früher auch den schnellen Schritt gepflegt, so ist ihr jetzt der gemächliche Schritt sympathisch.
Wenn die Verhältnisse nicht stimmig sind, kann dies einer der Gründe sein, warum man sich falsch, unzulänglich oder anders fühlt: Wenn die Vergleichsgröße nicht passt, dann schafft man es nie und wird auch nicht richtig glücklich. Für den nächsten Sommer entschied sich Helga dafür, eine andere Wandergruppe mit gemäßigten Wanderzielen zu finden und hat eine Kräuterwanderung auf Malta gebucht. Das klingt nach Wandern (was sie liebt) und ist zugleich beschaulich (was sie braucht).
Manche Menschen halten zu lange Zeit an veralteten und überholten Vergleichswerten fest, manchmal ohne es zu merken. Denn im Laufe der Zeit verändern wir uns – und nicht nur wir: Auch diejenigen, an denen wir uns früher gemessen haben, nach deren Anerkennung wir strebten, entwickeln und wandeln sich. Und so kann es sein, dass sich auch aus diesem Grund die Maßstäbe ändern und die Verhältnisse verschieben: Was uns früher erstrebenswert schien, ist uns heute egal – und das, was uns jetzt am Herzen liegt, wird von der Umgebung kaum gewürdigt. Beides Mal ein Zeichen dafür, dass sich etwas in der Struktur verändert hat, denn der Vergleich greift nicht mehr, weil aus irgendeinem Grund die gemeinsame Grundlage fehlt. Vielleicht hat der Vergleich auch nie wirklich gepasst, weil wir von anderem Wesen sind als die Menschen, mit denen wir uns verbinden oder vergleichen wollen.
Gelegentlich haben wir auch Glück und das Leben hilft uns schnell zu erkennen, dass unsere eigene Vorstellung nicht stimmt. So erging es zum Beispiel Paul, einem meiner Klienten, der zu mir kam, weil er in seiner Ehe unglücklich war und nicht wusste, wie er sich, sein Leben und sein Familienleben ändern konnte, um endlich zufrieden zu sein. Sein Traum war, ein erfüllendes Familienleben zu führen wie er es Maurice zuschrieb, einem Arbeitskollegen, der in der Firmenniederlassung in Paris arbeitete. Die beiden kannten sich ausschließlich über die virtuelle Zusammenarbeit und dennoch war daraus im Laufe der Zeit eine richtige Freundschaft gewachsen. Maurice hatte Paul Fotos geschickt, auf denen er mit seiner Frau und seinen beiden Kinder zu sehen war: in, vor und neben dem frisch renovierten Haus, im Garten mit den blühenden Fliederbüschen, Rosenbeeten, alten Eichen und einem Baumhaus für die Kinder. »Ich will auch in so einer Idylle wohnen«, gestand Paul, als er zu mir kam. »Genau genommen, will ich am liebsten das Leben von Maurice kopieren. Mit meiner Frau Elke durchlebe ich gerade eine tiefe Krise. Die Fotos von Maurice wühlen mich auf: Ich bin traurig, weil ich nicht so lebe wie er, neidisch, weil Maurice dieses ganze Glück einfach so hat und ich nicht, und ich bin wütend, weil ich mit Elke nicht vom Fleck zu kommen scheine.«
Paul folgte schließlich einer Einladung von Maurice und besuchte ihn und seine Familie in Paris. Ahnen Sie, was nun geschah? Das Wohnviertel, in dem die Familie wohnte, war sauber-verklemmt, die Kinder würdigten Pauls Mitbringsel kaum eines hochnäsigen Blicks und hockten den ganzen Tag vor dem Fernseher. Die Frau von Maurice hatte sich zurückgezogen. Sie und ihr Mann hatten schon seit längerer Zeit getrennte Schlafzimmer, weil es ein Suchtproblem gab, das drohte, die Familie zu zerstören. Der Garten, in dem sich Fliederbusch, Rosenbeet und Eiche samt Baumhaus befanden, wirkte unbelebt, eher wie eine Kulisse. Es war eine Beziehung, wie es viele gibt. Menschen, die sich mit den Jahren verloren hatten und die gerade dabei waren, das zu erkennen und wieder aufeinander zuzugehen. All die Probleme, die Paul hatte, waren auch Maurice bekannt – nur hatten beide nie darüber gesprochen. Später stellte sich heraus, dass Maurice sein Leben auch deshalb so perfekt darstellte, weil er hoffte, dass der Wunsch irgendwann die Realität nach sich zieht.
Was aus der Ferne so beneidenswert aussah, entpuppte sich als ganz normales Leben, mit Höhen, Tiefen, Sehnsüchten, Glück und Schwierigkeiten. Nach seiner Rückkehr aus Paris war er von seinem Neid auf das Leben von Paul kuriert. Zwar war er noch immer unzufrieden, doch erkannte er nun besser, was ihm missfiel und was er gern ändern wollte, statt auf das zu starren, was ein anderer vermeintlich besaß. Er konzentrierte sich vielmehr darauf, wie er sein eigenes Familienglück realisieren konnte. Und es ist ihm tatsächlich gelungen, seinen Traum zu verwirklichen – nach und nach, jeden Monat ein wenig mehr. Einschneidend war für Paul dabei eine Übung zu Beginn: Er bekam von mir die Aufgabe, ein Wochenende lang penibel Buch darüber zu führen, wie seine Frau reagierte, wenn er sie anlächelte oder etwas Liebevolles sagte. Er war ganz erstaunt über ihre Reaktionen und die Häufigkeit des Lächelns, das sich auf einmal zwischen ihnen zeigte. Die Veränderung wurde dadurch unterstützt, dass er den Vergleich hinter sich ließ und stattdessen darauf sah, worin die guten Seiten seiner Ehe bestanden. Wenn er ab jetzt andere Menschen oder Paare zum Vergleich nahm, dann nur, wenn er sie auch richtig kannte und genau wusste, was er von diesen Menschen lernen wollte.
Liebe und Anerkennung zu wollen ist ein legitimer Wunsch. Durch Vergleiche können wir feststellen, was wir konkret gerne hätten. Aber wie lässt sich das dann erreichen? Dafür ist ein genauer Blick nötig: auf das, was ist und das, was wir gerne hätten. Lassen Sie sich nicht von anderen Menschen einreden, was Glück ist und was Sie genau bräuchten, um glücklicher zu sein. Der Weg in die Veränderung ist ein individueller. Nur Sie können herausfinden, was der Impuls zur Veränderung ist, warum Sie die Veränderung möchten und was die Veränderung in Ihrem Leben bewirken kann. Oder, wie ein Spruch aus Frankreich lautet: »Wandel ist eine Tür, die nur von innen geöffnet werden kann.« Alles andere, äußere Bedingungen, Genörgel und Kommentare sind Hinweise. Nicht mehr. Nicht weniger.