Unser Gerd: Auslandskorrespondent
Wo: Tahrirplatz, Kairo
Wann: Frühling 2011
Warum: schön essen gehen
Ein früher Morgen in Deutschland: Jung und Alt stehen im Badezimmer, die Mamas werkeln in der Küche, und die Frühaufsteher stehen schon im Stau. Alle miteinander hören Radio. Es läuft das Guten-Morgen-Radio mit dem Gute-Laune-Programm, in dem das Guten-Morgen-Gaudi-Team die neuen Songs von Grönemeyer präsentiert und die alten von Lena oder umgekehrt. Aus aktuellem Anlass legen sie einen Oldie von Cat Stevens auf. Der Oldie darf aber auch nicht nur ein Oldie sein, sondern heißt »Golden Oldie« oder »Gute-Laune-Golden-Oldie«. Der Gute-Laune-Moderator erklärt uns, dass Cat Stevens schon lange zum Islam übergetreten sei, und die arabische Welt sei doch in diesen Tagen im Aufruhr, und irgendwie passe das doch ganz gut zusammen. Haha.
Cat Stevens und die Toten vom Tahrirplatz: total witzig, irgendwie. Wenn die Programmmacher ihr witziges Guten-Morgen-Programm zusammenstellen, denken sie sich was dabei. Was genau, weiß man nicht.
Damit uns im Verlauf des Vormittags im Büro, in der Schule oder im Kinderabgaberaum des Kindergartens der Gesprächsstoff nicht ausgeht, werden wir gefüttert mit den sogenannten »News«.
Da ist das Pärchen, das beim Sex in der Kirchenbank erwischt wurde, hihi, wie peinlich, und das süße Meerschweinchen, das zu fett ist und schielt, hihi, wie süß, und das Gewinnspiel. Kreischende Frauen freuen sich über die VIP-Karten zum Champions-League-Finale oder den Hubschrauberflug mit Heidi Klum.
Und dann kommt’s: Wir sind live in Kairo. Demo am Tahrirplatz. Am anderen Ende der Leitung sitzt »unser Gerd«, der Auslandskorrespondent. Jetzt ist Schluss mit lustig. Denn: »In der Nacht waren Schüsse zu hören.«
Schüsse! Das ist der absolute Grusel!
Seit es die sogenannte Liveschalte zu Korrespondenten in Krisengebieten gibt, sind in der Nacht Schüsse zu hören. Eine Staatskrise, in der nachts keine Schüsse zu hören sind, ist keine Krise. Ohne nächtliche Schüsse keine Übertragung.
»Hallo, Gerd. Was kannst du uns über die Lage sagen?«
Die Wahrheit wäre: nichts.
Denn unser Gerd kennt niemanden, beobachtet nichts, und sein Wissen um die politischen Zusammenhänge ist eingeschränkt. Aber in der Nacht hat er Schüsse gehört.
Oliver Hahn, Julia Lönnendonker und Roland Schröder haben vor ein paar Jahren ein Buch geschrieben: Deutsche Auslandskorrespondenten. Ein Handbuch. Herausgekommen ist, dass es der Auslandskorrespondent unglaublich schwer hat. Die Heimat interessiere sich nicht dafür, welche Arabergruppe welche Absichten aus welchem Grund hat. Aber wenn Frau Präsident ihre 2000 Paar Schuhe aus dem von Revolutionären eingeschlossenen Präsidentenpalast rettet, darf man schon mal in die Hauptnachrichten. Außer der Bericht dauert länger als eine Minute 30. Denn für Nachrichten, die länger als 90 Sekunden dauern, sind wir zu blöd. Das ist zwar wissenschaftlich nicht bewiesen, aber der Chefredakteur glaubt es. Und noch mehr glaubt er an die sogenannte Quote. Eine »geile Quote« ist, wenn viele glotzen. Wenn niemand schaut, ist die Sendung weg.
Unser Gerd ist hin- und hergerissen. Mit seinem öffentlich-rechtlichen Honorar lebt es sich ganz gut in Kairo. Einmal im halben Jahr produziert er einen kleinen Beitrag für eine Sendung, die spät nachts gesendet wird und niemand schaut. Ansonsten hat er als deutscher Journalist permanent freien Eintritt ans Büfett, von der Einweihung der neuen Universität bis zum Empfang beim Minister für irgendwas. Und wenn er wieder einmal eine Meldung viel zu spät nach Deutschland übermittelt und alle schon längst wissen, was er jetzt endlich auch weiß, hat er immer eine gute Ausrede. Es ist ja Diktatur! Die Sicherheitsdienste hätten den Informationsfluss eingeschränkt, und die Leute auf der Straße trauten sich nichts zu sagen.
Um dieses Problem zu lösen, hat der Journalismus ein Wort erfunden: Recherche.
Plötzlich ist Demo in Arabien. Wer hätte das gedacht. Unser Gerd hat nun die Chance, berühmt zu werden und sich einzureihen in die großen Namen der Kriegsreporter. Peter Arnett, Ernest Hemingway, Peter Scholl-Latour und natürlich die unvermeidliche Antonia Rados. Wo Krieg ist, ist Antonia. Oder umgekehrt?
Sie war Frau des Jahres in Österreich und weiß, wie man mit Taliban Quote macht. Bereits im Ersten Weltkrieg gab es eine Frau im Männerberuf Kriegsreporter: Alice Schalek. Aber sie berichtete so kriegsverherrlichend, dass ihr sogar Karl Kraus in seinem berühmten Werk Die letzten Tage der Menschheit ein unrühmliches Denkmal setzte.
Ein Mann der ersten Stunde war auch Gerhard Konzelmann. 1968 wurde er als junger Mann, der sein Studium abgebrochen hatte, für die ARD Korrespondent in Arabien. Eigentlich wollte er Komponist werden, was dazu führte, dass er später seine Filmchen selbst vertonte. Über Jahrzehnte hinweg galt er neben Scholl-Latour als der absolute Experte für den Nahostkonflikt. Heute weiß man, dass er nicht halb so viel wusste, wie für eine seriöse Berichterstattung nötig gewesen wäre.
In den neunziger Jahren lernte ich in Damaskus einen jungen Mann kennen. Sehr gebildet und vielsprachig, aber eigentlich sollte er das Süßwarengeschäft seines Vaters übernehmen. Er fragte mich, ob ich »Gunzelmahn« kenne, er sei sein Übersetzer, wenn »Gunzelmahn« sich in Syrien aufhalte. Wie, Übersetzer? Ja, ob ich das denn nicht wisse, »Gunzelmahn« könne kein Wort Arabisch.
Gerhard Konzelmanns Bücher lesen sich anders. Der viel zu früh verstorbene Orientalist Gernot Rotter traute sich endlich aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft und wandte sich lautstark an die Öffentlichkeit. Er schrieb über Konzelmann das Buch Allahs Plagiator, eine satirische Anspielung auf Konzelmanns Bestseller Mohammed, Allahs Prophet und Feldherr. Es stellte sich heraus, dass der Nahostexperte Konzelmann, der als Moderator des Weltspiegel ein richtiger Promi geworden war und mit seinen Büchern Millionenauflage machte, nicht einmal fundiertes Grundwissen besaß. In seinen Büchern war fast alles von anderen abgeschrieben. Deutschland hatte nach Hitlers Tagebüchern seine zweite große Plagiatsaffäre.
Unser Gerd sitzt während der Demonstrationen in einem der höheren Stockwerke eines Kairoer Hochhauses, in dem auch andere Korrespondenten hocken, und starrt aus seinem klimatisierten Zimmer durch ein Fenster, das sich nicht öffnen lässt, hinunter auf das Geschehen, das die arabische Welt verändern wird. In der Liveschalte wird er von der neugierigen Radiomoderatorin gefragt, was die Leute denn rufen. Es entsteht eine kurze Pause, »Ja, sie rufen etwas.« Die Moderatorin lässt nicht locker und will für sich und ihre Zuhörer gerne wissen, was sie denn rufen.
»Ich bin leider zu weit weg, um es zu verstehen.«
Unser Gerd hat da etwas gründlich missverstanden mit dem Beruf des Journalisten. Da gehört es durchaus dazu, sein Hotelzimmer zu verlassen, den Knopf am Lift zu drücken, in das Erdgeschoss hinunterzufahren, um dann jemanden, der sich auskennt, zu fragen: »Was rufen die Leute?« Beispielsweise.
Unser Gerd fährt dann auch hektisch hinunter. Aber erst in dem Augenblick, als Guido Westerwelle am Tahrirplatz auftaucht. Da ist die Revolution allerdings schon vorbei. Da ist unser Gerd ganz vorn dabei.
Über die wahre Situation der Ägypter hat man viel zu lange viel zu wenig erfahren. Jetzt, da Mubarak entlassene Strafgefangene gegen Bezahlung auf Kamele setzt und sie auf die Demonstranten hetzt, auf die sie mit Stöcken und Messern einhauen, lässt man die Kameras auffahren. Kairo platzt schon lange aus allen Nähten. Die Smogwolken der offenen Müllverbrennung verpesten die Luft. Die Wohnsituation ist für die meisten gespenstisch, in den maroden Hochhäusern fehlt es ständig an Strom und Wasser. Wer es sich leisten kann, wohnt weit oben und besticht den Hausmeister, der im Keller dann von der öffentlichen Wasserleitung eine Extraleitung abzweigt. Wer Lift fährt, liest den Hinweis, man möge bitte zur Sicherheit in die Hocke gehen, wenn man merke, dass der Lift abstürze.
Aber all diese Geschichten über die Menschen benötigen Zeit und ein Händchen für die Kunst der Recherche. Wieso die Mühe, fragt sich unser Gerd. Schließlich tragen die Araber mit ihren Handys ihre Botschaftem sowieso schon selbst in alle Welt hinaus. Wenn ein Araber demonstriert, wird er von drei anderen mit dem Handy gefilmt: von seinem Freund, dem Geheimdienst und von sich selbst.
Irgendwann weiß niemand mehr irgendetwas. Aber wir brauchen sie ja doch immer wieder, unsere Experten. Wie viel muss also ein Experte in Zukunft noch wissen, um Experte zu sein? Bald kommt in den Medien Folgendes auf uns zu:
»Schön, dass wir einen Experten im Studio haben: Sie haben doch drei Jahre in Ägypten gelebt …«
»Schön, dass wir einen Experten im Studio haben: Sie waren doch zwei Wochen in Ägypten …«
»Schön, dass wir einen Experten im Studio haben: Sie haben doch Asterix und Kleopatra gelesen …«
»Schön, dass wir einen Experten im Studio haben: Sie wissen doch, wo Ägypten liegt …«
»Erzählen Sie uns, wie ist die Lage?«