Susi: Rucksacktouristin
Wo: Jemen
Wann: nach dem Abi
Warum: Gutmenschentümelei
Jetzt hat es ihn erwischt! Der Individualtourist und Außenseiter, der Alleinreisende und Weltenbummler ist selbst zum Forschungsobjekt geworden. »Der Backpacker« als Doktorarbeit. Und es geschieht ihm recht. Alles ist erforscht, vom »Zirkulardichroismus in der Photoemission von inneren Schalen und Ferromagneten« (gibt es wirklich), bis hin zu den konkurrierenden »Wirtschaftstheorien bei den Gonorrhoe-Indianern im 17. Jahrhundert« (könnte es geben). Jeder Virus des Universums wurde so lange unters Elektronenmikroskop gelegt, bis sich der Doktorand die Augen wund studiert hatte. Jetzt geht es dem letzten Rätsel dieser Erde an den Kragen. Im Gegensatz zu Radioaktivität und Relativitätstheorie war der Rucksacktourist eine unbekannte Materie. Damit ist Schluss, er ist gründlichst analysiert. Die Titel der Forschungsarbeiten lauten unter anderem: Aspekte des Alternativtourismus vor dem Hintergrund politischer Steuerung und sozio-kulturellen Wandels von Günter Spreitzhofer oder Globality. Eine Ethnografie über Backpacker von Jana Binder. Die weiß Bescheid, sie war früher selbst mit dem Rucksack unterwegs.
Und es sieht nicht gut aus. Viele Wissenschaftler kommen nämlich zu dem Schluss, dass die verschwitzten Jungvölker, diese ungeduschten Sprösslinge des Bildungsbürgertums und milchgesichtigen »Interrail«-Teenies, bei weitem nicht den »sanften Tourismus« pflegen, den sie vorgeben. In naiver Blauäugigkeit bahnen sie dem Massentourismus den Weg, sie sind die Straßenbauer für Neckermann und Co., sind der Alltours-Schneepflug.
Susi kommt aus Mülheim an der Ruhr oder auch aus Freilassing, sie hat Abitur und große Zukunftspläne, aber kein Geld. Sie hat die Bewerbungsschreiben hinter sich und möchte die Welt erkunden. Ein paar Wochen mit Birkenstocks in Billig-hotels absteigen und Abenteuer erleben. Denn das angestrebte Berufsziel sieht anders aus: Kostüm, Pumps und unzählige Nächte in den Businessabsteigen in Messenähe. Natürlich nicht als einfache Vorzimmersekretärin, sondern schon als Referentin für Naturschutz in einem weltweit operierenden Chemiekonzern, schließlich hatte man Englisch im Leistungskurs und Spanisch im Nebenfach. Sie kann sich einen Job als Projektmanagerin in der Entwicklungshilfeabteilung von BASF vorstellen, die sich hinterher um die Menschen kümmert, die man zuvor vergiftet hat. Auf jeden Fall: Gutes tun und dabei gut verdienen. Da reicht schon ein Verwaltungsposten im ersten Bioatomkraftwerk der Welt. Kurzum: Karriere, aber mit Öko. Möglichst mit variablen Vergütungen, damit Weihnachten für das Schulprojekt in Nepal gespendet werden kann.
Aber jetzt geht es noch mal raus an die frische Luft Arabiens. Als Begleiterin gewinnt sie die beste Freundin, die nach der gemeinsamen Reise nicht mehr die beste Freundin sein wird, weil sie entweder in den Lonely Planet Eselsohren reinmacht oder zu viel mit Ahmed flirtet. Oder beides.
Sie suchen sich den Jemen aus. Die Mama findet es toll, der Papa würde ihr lieber einen Bildband über das Land schenken, da der sich in seinen schlimmsten Albträumen schon mit dem fies grinsenden arabischen Schwiegersohn über das Rasenmähen streiten sieht. Susi und ihre Freundin verbringen ganze Nächte im Internet, um die billigste Flugverbindung herauszufinden. Bei 185 Euro schlagen sie zu. Der Flug geht leider nicht direkt und dauert etwas länger, da man bei den Zwischenlandungen in Lissabon und Taschkent etwas Aufenthalt hat und in Tiflis erst ab 6 Uhr früh wieder Starts erlaubt sind.
Nach 98 Stunden Billiganreise stehen die beiden erschöpft, aber glücklich in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen. Und sie kennen sich sofort aus, denn sie haben den Lonely Planet dabei.
Lonely Planet ist das Synonym für: Wir reisen auf eigene Faust und sind näher am Einheimischen dran als ihr blöden Pauschaltouristen. Der gleichnamige Verlag sitzt in Australien und gibt seit 1973 die berühmten Reiseführer mit den praktischen Tipps heraus, Auflage über 50 Millionen. Das Zielpublikum war von Anfang an klar: junge Menschen mit kleinem Reisebudget, die gerade noch so viel Kohle übrig haben, sich die Lonely Planet-Bibel zu kaufen. Inzwischen gehört der Verlag dem BBC-Konzern, die Gründer sind Millionäre, es gibt einen gleichnamigen TV-Sender, Bildbände und etliche Merchandising-Produkte für die spießige Seele des Alternativtouristen. Ein Tiefschlag gegen das Saubermannimage des Lonely Planet-Verlags war es, als herauskam, dass der Kolumbien-Reiseführer von einem Autor verfasst worden war, der noch nie einen Fuß in das südamerikanische Land gesetzt hatte.
Der Jemen ist arm und damit ein ideales Reiseziel für die jungen Menschen mit dem »Internationalen Studentenausweis«. »Stell dir vor, ein Mittagessen für 80 Cent!« Susi und ihre Freundin werden unter Mückenstichen und Durchfall leiden, aber großartige Begegnungen haben. Meistens mit anderen Rucksacktouristen. Backpacker wohnen alle im selben Hotel, gehen alle in dieselben Restaurants, fotografieren dieselben Dinge und erzählen in der Heimat begeisterter von den Diskussionen mit dem britischen Philosophiestudenten als von dem jemenitischen Facharbeiter aus der Papierfabrik. Den trifft man nämlich nicht. Backpacker sind zwar für alles offen, aber sie bewegen sich in einem kleinen Kreis von Einheimischen. Da ist der Mann, der seit 18 Jahren an der Moschee Silberschmuck verscherbelt, dann der Junge, der vorgibt Englisch zu studieren, aber im Hotel nur den Müll entsorgt, und dann noch die alte Frau mit den hennaverzierten Händen am Bab al-Jaman, die Weihrauch verkauft (da nimmt Susi auch welchen mit, denn so steht’s im Lonely Planet). An Lehrer, Bankdirektoren, Fußballspieler, Ärztinnen, Juristen und Plantagenarbeiterinnen, also an das breite Spektrum einer Gesellschaft, kommt der Individualreisende nicht ran. Das will er auch gar nicht, denn zum Individualreisen gehört nicht die Normalität, sondern die Exotik. Dort zu sein, wo zuvor noch nie jemand war. Susi & Co. latschen also von Geheimtipp zu Geheimtipp, die alle längst keine Geheimtipps mehr sind, seit sie im ersten Lonely Planet standen und täglich um 14 Uhr sogar der Neckermann-Bus seine Leute dort ausspuckt. Beispielsweise links vor dem Bab al-Jaman, wo der versteckte Eingang zur alten Ölmühle liegt. Im schummrigen Keller des Hauses zieht seit Abrahams Zeiten ein Kamel mit verbundenen Augen seine endlosen Kreise um den altertümlichen Steinbottich. Biblisch! Aber bereits von so vielen Individualisten besucht und fotografiert, dass sich der Kamelbesitzer vom Bakschisch längst ein schickes Auto gekauft hat.
Susi bestaunt die berühmten jemenitischen Hochhäuser aus gestampftem Lehm und all die anderen Sehenswürdigkeiten und erkundigt sich, ob und wie man aufs Land und in die Berge fahren kann. Doch das wird immer schwieriger. Ja, das mit den Entführungen bereitet dem Jemen große Sorgen. Anfangs war es ein eher harmloses Spiel, als vermummte Straßenräuber die Touristenjeeps stoppten und von den westlichen Botschaften Lösegeld für ihre Geiseln forderten. Es wurde gezahlt, und die Leute kamen frei. Inzwischen kommen aber immer mehr Menschen bei Entführungen und den folgenden kläglichen Befreiungsversuchen ums Leben. Ganze Stammesgebiete sind nun abgeriegelt, unzählige Straßensperren zwingen zur Umkehr.
Zu Hause ist Susis Papa besorgt. Nicht wegen der Entführungen. Aber ein Tennisspezl hat ihm beim letzten Match gesteckt, dass er selbst früher Backpacker war und die Lonely Planet-Reiseführer deshalb liebte, weil dort genauestens die besten Gelegenheiten beschrieben waren, wie man in dem Land günstig und gefahrlos an die Drogen komme. Hihi.
»Und da lacht der auch noch drüber!«
Ohne Zweifel hat der Jemen mehr zu bieten als 83 verschiedene Weihrauchsorten, die schon die Römer auf der sogenannten Weihrauchstraße am Roten Meer entlang nach Norden exportierten. »Arabia felix«, glückliches Arabien, nannten die Römer auf ihren Landkarten dieses Fleckchen Erde. Mit dem Glücklichsein war es nicht weit her. Irgendein Gemetzel war immer. Die vor den Römern geflohenen Juden (70 n. Chr.) gründeten ein jüdisches Reich, das von Äthiopien aus erobert wurde. Äthiopien war christlich, also musste man sich religiös umorientieren. Doch schon kamen die Perser und überrannten den Jemen (ab 570 n. Chr.), anschließend die Araber, in der Neuzeit die Briten, die Kommunisten, die Amerikaner und seit einiger Zeit die Terroristen, die sich in den Bergen verschanzen. Der Präsident, der vorgibt Demokratie zu praktizieren, ist 2011 über 30 Jahre im Amt. Im arabischen Frühling wird er bei einem Bombardement verletzt und nach Saudi-Arabien ausgeflogen. Europa mischt sich nicht ein. Man will es sich dort mit niemandem verderben, schließlich liegt der Jemen am strategisch wichtigen Eingang des Roten Meeres und direkt gegenüber von Somalia, dem Öltanker-Entführungsland Nummer 1. Da nimmt man es eben hin, wenn die bestialische Beschneidung von kleinen Mädchen weiterhin als sogenannte Tradition gepflegt wird oder wenn die Zwangsverheiratung wieder einmal für internationale Schlagzeilen sorgt.
CNN freute sich über die Einschaltquoten, als die zehnjährige Nojood interviewt wurde. Das tapfere Mädchen hat die Scheidung eingereicht, nachdem sie im Alter von neun Jahren von ihren Eltern verkauft und verheiratet worden war, wo angeblich noch niemand vorhersehen konnte, dass sie ihr freundlicher Bräutigam täglich schlagen und vergewaltigen sollte. Im Jemen werden eben noch uralte Bräuche gelebt.
Susi interessiert sich auch für uralte Bräuche. Nicht die menschenverachtenden, aber für all die anderen fremden, wilden und exotischen. Eine füllige Jemenitin hockt im Staub der Straße und knetet den Teig für das Fladenbrot. Was für ein Fotomotiv! Und die Massentouristen werden auch fotografiert, damit man sieht: Das sind die Bösen. Der Backpacker versteht sich selbst ja nicht als Tourist, sondern als Einheimischer mit Familienanschluss. »Und stell dir vor, die haben am Abend die Küche freigeräumt, und da konnten wir schlafen.« Da spielt es keine Rolle, dass die jemenitische Bauernfamilie ihre Küche täglich den vorbeikommenden Rucksackreisenden zur Verfügung stellt und aus der arabischen Gastfreundschaft längst eine Pension Garni geworden ist, von der sich ganz gut leben lässt.
Aber man muss mit dem Rucksackreisenden auch Mitleid haben. Ist es nicht abgrundtief verachtend und böse, dass sich die Bezeichnung für den »Backpacker« ausgerechnet von einem Gepäckstück herleitet? Wer will denn schon nach seinem Koffer heißen? Es heißt ja auch nicht »Samsoniteler« oder »Aktenkoffler«.
Als Jana Binder ihre Doktorarbeit über die Massenindividualisten fertig hatte, war die Neugier groß. Die Zeit führte ein Interview mit ihr und wollte wissen, was der Begriff »banana pancake trail«, auf dem sich alle Backpacker bewegen, bedeutet.
Binder: »In den meisten Hotels der Erde gibt es nichts Süßes zum Frühstück. In den Backpacker-Hotels bieten sie als Ersatz eben Bananenpfannkuchen an. Den Begriff vom ›banana pancake trail‹ hat der Kulturwissenschaftler John Hutnyk geprägt, der in einer Studie den Vorwurf erhebt, Backpacker hielten sich für bessere Menschen, reisten aber nur ihren Pfannkuchen nach und sind beleidigt, wenn sie keine bekommen.«