40. Trennung
Die Hunde flogen eher über die Stufen, als dass sie liefen. Sie durchquerten einen langen Gang und Horace’ Hund Billy, der die Gruppe anführte, brachte zwei Wachposten zu Fall, die sich auf sie stürzten.
Ben klammerte sich an seinem Husky fest. Obwohl sich die Wunde an seinem Bauch dank Neils Einsatz wieder geschlossen hatte, konnte er sich nur mit größter Mühe auf Takers Rücken halten.
Chen erschoss einen weiteren Soldaten, der ihnen mit seiner Lanze entgegentrat.
Das ganze Schloss war in Aufruhr. Überall rannten Soldaten wild durcheinander und versuchten, die Ausgänge zu blockieren.
Die Hunde pflügten einfach durch das Chaos hindurch, stießen die Wächter über die Balkone hinab, quetschten sie gegen eine Wand oder erschreckten sie mit einem mächtigen Knurren.
Als sie an einem Vorhang vorbeikamen, rief Ambre in Matts Richtung:
»Ich halte hier an!«
Die ganze Truppe bremste abrupt.
»Was?«, machte Matt. »Wir haben keine Zeit, die Seelenlosen sind uns auf den Fersen.«
»Lauft weiter, ich vertraue euch Gus an.«
Ambre stieg ab und öffnete den Vorhang, hinter dem der Riesenschmetterling saß.
»Was machst du? Auf diesem Viech haben wir doch nie und nimmer alle Platz?«
»Das trifft sich gut. Ich fliege allein.«
Matt kletterte von Pluschs Rücken und folgte ihr.
»Bist du verrückt? Du weißt ja nicht einmal, wie man das Ding lenkt!«
»Das werde ich schon lernen. Hilf mir bitte und binde diese Leine los!«
Matt packte sie an den Schultern. Ihre Kleidung war noch voll von dem Blut, das sie vorhin verloren hatte.
»Du bist viel zu geschwächt!«
»Neil hat sein Leben dafür gegeben, damit ich wieder zu Kräften komme. Es geht mir sehr gut, zumindest körperlich.«
»Aber wo willst du denn hin?«
»Du weißt es, Matt. Dorthin, wohin mein Körper mich führt. Ich folge dem Großen Plan und fliege zum Großen Nest der Chloropanphylliker. Dieser Schmetterling ist das einzige Transportmittel, mit dem ich die Wipfel des Blinden Waldes erreichen kann.«
Matt brachte es nicht über sich, sie ziehen zu lassen. Er hatte geglaubt, sie zu verlieren, und erst in diesem Augenblick war ihm bewusst geworden, wie sehr er sie brauchte. Ohne sie war er nicht derselbe, ohne sie fühlte er sich nicht als ganzer Mensch, ja mehr noch: Ohne sie sah er keine Zukunft für sich.
Was er mit ihr erlebt hatte, was sie miteinander geteilt hatten, über ihre Freundschaft hinaus, das durfte nicht so enden. Nicht so abrupt.
»Eine so weite Strecke hält dieser Schmetterling nie durch«, sagte er. »Er wird vor Erschöpfung abstürzen, bevor du den Blinden Wald erreichst! Komm mit uns, wir werden schon einen Weg finden. Zusammen.«
Da schenkte Ambre ihm das strahlende Lächeln, das er so liebte, und trat so nah an ihn heran, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte.
»Unsere Stunden sind gezählt, Matt«, sagte sie leise. »Und wenn es überhaupt noch eine Chance gibt, dass wir alle überleben, dann finde ich sie dort. Ich muss so schnell wie möglich dorthin.«
»Dann komme ich mit.«
Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen.
»Nein, das geht nicht. Du hast es selbst gesagt, der Schmetterling wird schnell müde werden. Ich muss allein sein. Und du hast eine Mission zu erfüllen. Du musst diese Pans nach Norden führen, zum Pass der Wölfe, in die schlimmste Schlacht, die unsere Welt je gesehen hat. Das ist deine Stärke, Matt. Du bist von unschätzbarem Wert für unsere Truppen.«
Matt schüttelte langsam den Kopf. Er wollte es einfach nicht wahrhaben. Er wollte sie nicht verlieren.
Bedrohliches Knurren drang aus dem oberen Stockwerk herab.
»Beeil dich!«, sagte sie. »Die Seelenlosen sind gleich hier. Meine Entscheidung steht fest.«
Matt umarmte sie.
»Pass auf dich auf. Ich warne dich, wenn du Dummheiten machst, dann finde ich dich, notfalls hole dich sogar aus der Hölle raus!«
»Geh jetzt.«
Matt rührte sich nicht.
Draußen im Gang feuerte Chen einen Bolzen ab.
»Sie kommen!«, schrie er.
Matt rannte zu dem Seil, mit dem der Schmetterling festgebunden war, hieb es mit einem Schlag durch, und Ambre stieg auf den Ledersattel.
»Ich werde dich wiederfinden«, sagte sie.
Sie beugte sich vor und küsste Matt sanft auf den Mund.
»Los jetzt!«
Matt wich zurück, während Ambre an den Zügeln zog. Der Schmetterling schüttelte sich und machte einen kleinen Hüpfer auf dem Sims. Dann breitete er seine Flügel aus und hob so schwungvoll ab, dass Matt von dem Luftstoß fast umgeworfen wurde.
Bevor Matt wieder auf Pluschs Rücken stieg, winkte er Ambre noch einmal hinterher. Sie flog bereits auf den nördlichen Horizont zu, an dem sich pechschwarze Wolken türmten.
Er verbot sich zu denken, dass er ihr damit Lebewohl sagte.