38. Malronce und die Seelenlosen
Tobias und die anderen Pans warteten ungeduldig im Thronsaal und hofften, endlich die Schritte ihrer Freunde auf der Treppe zu hören.
Aber es tat sich nichts.
Aus Angst vor den Wachpatrouillen versteckten sie sich schließlich hinter den Wandteppichen, die einen schmalen Raum zwischen sich und der Mauer ließen.
»Sagt mal, findet ihr nicht, dass wir mal oben nachsehen sollten, ob alles okay ist?«, fragte Neil.
»Nope«, sagte Tobias. »Es gibt nur einen einzigen Eingang, und den überwachen wir. Ihnen kann nichts passieren.«
»Sollen wir etwa hier versauern? Irgendwann werden sie merken, dass die Wächter am Eingang nicht mehr da sind! Wir müssen das Schloss vor Morgengrauen verlassen!«
»Wir warten erst mal ab.«
Nach einer kurzen Pause wandte Chen sich an Neil.
»Glaubst du, dass es hier überhaupt ein Morgengrauen gibt?«
»Wieso denn nicht?«
»Die Gegend ist total unheimlich, wie auf einem anderen Stern. Ich habe den Eindruck, dass hier irgendwie alles scheintot ist.«
»Na ja, Florida halt«, scherzte Horace, erntete damit aber keine Lacher.
Ben trat hinter seinem Vorhang hervor.
»Ich drehe mal eine Runde und schau nach, ob die Treppe immer noch unbewacht ist.«
»Ich komme mit«, sagte Chen.
»Nix da, niemand geht irgendwohin!«, befahl Tobias. »Wir dürfen uns nicht trennen.«
Ben warf ihm einen finsteren Blick zu, aber Tobias starrte unbeeindruckt zurück.
Schweigend warteten sie weiter. Die Minuten krochen quälend langsam dahin.
Sie zuckten zusammen, als plötzlich ein Horn durch die Gänge, Säle und Hallen schallte. Es klang wie ein ganzes Orchester.
»Das ist der Alarm!«, rief Neil panisch. »Ich habe euch gewarnt! Sie wissen, dass wir hier sind! Wir sitzen in der Falle!«
»Sei still!«, fuhr Horace ihn an und wandte sich an Tobias und Ben. »Was machen wir? Gehen wir rauf und holen sie, oder kämpfen wir hier bis zum Umfallen?«
»Noch wissen sie nicht, wo wir sind«, entgegnete Tobias. »Schlimmstenfalls haben sie die toten Wachposten gefunden. Bis sie das ganze Schloss durchkämmt haben und hierherkommen, haben wir noch Zeit, um …«
Da schwangen die Flügel der großen Eingangstür auf, und ein kleiner Mann stürzte atemlos herein. Er zündete in aller Hast einige Fackeln an und verschwand dann hinter der Holztür, hinter der sich Matts Vermutungen zufolge die Gemächer der Königin befanden.
Tobias steckte rasch seinen Leuchtpilz ein und schnitt mit seinem Messer ein Loch in den Wandteppich, um den Raum überblicken zu können.
Die Fackeln hüllten den Saal in einen warmen Schein. Mit angehaltenem Atem warteten die Pans, was nun geschehen würde.
Als der Mann zurückkam, wurde er von der Königin begleitet.
Eine große, hochmütig auftretende Frau. Sie trug eine schwarz-weiße Robe mit einem Schleier, der nur ihr Gesicht frei ließ. Sie wirkte verführerisch und bedrohlich zugleich.
Tobias erkannte sie sofort. Es war wirklich Matts Mutter. Allerdings strahlte sie eine Autorität und eine Kälte aus, die sie früher nicht gehabt hatte.
»General Twain«, sagte das Männchen ehrerbietig, als ein Hüne durch die Tür trat.
Twain war ganz in Schwarz gekleidet und hatte einen sorgfältig gestutzten Kinnbart. Alles an ihm, von seinem entschlossenen Gang bis hin zu seinem harten Blick, verriet den kampferprobten Krieger.
Tobias drückte sich gegen die Wand und bemerkte, dass die anderen es ihm gleichtaten. Erleichtert stellte er fest, dass der General weder nach rechts noch nach links blickte.
»Ein Einbruch!«, sagte er. »Die beiden Türwächter wurden ermordet!«
»Hier? Bei mir?«, donnerte die Königin und ballte die Faust. »Wer war das?«
»Wir wissen es noch nicht, meine Königin, die Suche ist in vollem Gange. Alle Mann im Schloss sind wach und werden Eure Gemächer durchkämmen, um Eure Sicherheit zu garantieren.«
»Die Mutanten können es nicht sein, sie haben sich mit uns verbündet. Wer dann?«
Twain neigte den Kopf.
»Es könnte sich um … Kinder handeln. Wir haben keinen anderen Feind, der in der Lage wäre, hier einzudringen und Pfeile abzuschießen.«
»Kinder? Ihr macht Witze, General? Unter meinem Dach?«
»Nun … Ich wüsste keine andere Erklärung.«
Malronce rieb sich das Kinn und überlegte.
»Schön, dann müssen wir das Risiko eingehen. Lasst die Horde frei.«
Twain wurde leichenblass, obwohl er nicht so aussah, als könnte ihn irgendetwas erschüttern.
»Seid Ihr sicher?«
»Seit Monaten lasse ich sie an Kleidern schnüffeln, die Kinder oder Jugendliche getragen haben. Die Seelenlosen sind jetzt bereit. Wenn sich irgendwo unter diesem Dach Kinder aufhalten, dann werden sie sie aufspüren, und wenn sie schon verschwunden sind, dann wird die Horde ihnen hinterherjagen wie eine Meute hungriger Löwinnen.«
»Meine Königin, darf ich fragen, was die Horde der Seelenlosen wirklich ist? Über sie sind die wildesten Gerüchte im Umlauf. Es wird sogar schon gemunkelt, dass Ihr eine Hexe seid und die Horde mit schwarzer Magie heraufbeschworen habt!«
»Unsinn. Ich habe die Bestien nur eingefangen und gezähmt. Wie Ihr wisst, mein lieber Twain, haben sich die meisten Männer und Frauen unserer Welt während der Katastrophe in Luft aufgelöst. Sie wurden vernichtet, es war Gottes Wille. Aber auch das Gegenteil ist geschehen. Mehrere Menschen, die kurz zuvor gestorben waren, wurden von den göttlichen Blitzen getroffen. So ist das Leben in ihren Körper zurückgekehrt, nicht aber in ihre Seele, und das hat sie zu furchterregenden Geisterwesen gemacht.«
»Ich nehme an, wie bei jedem bedeutenden Projekt gibt es auch hier unvorhersehbare Risiken, mögliche Berechnungsfehler, und die Horde ist Teil dieses Chaos?«
»Nein! Gott macht keine Fehler! Wenn Er beschlossen hat, diese Wesen leben zu lassen, dann damit sie uns dienen! Sie sind unsere Höllenhunde! Um Sein Werk zu vollenden!«
»Vergebt mir, meine Königin«, sagte General Twain und setzte ein Knie zu Boden.
Ein kaltes Grinsen umspielte die Mundwinkel der Königin.
»Diese Männer, die solche Gerüchte über mich verbreiten, die sagen, dass ich eine Hexe sei …«
»Ja, meine Königin?«
»Auf den Scheiterhaufen mit ihnen!«
Twain senkte den Kopf.
»Euer Wunsch ist mir Befehl.«
Twain marschierte auf den Ausgang zu, während Malronce langsam im Thronsaal auf und ab schritt.
Tobias wurde angst und bange. Die Horde der Seelenlosen? Was um Himmels willen war das?
Malronce stand jetzt vor dem Wandteppich, hinter dem die Pans sich versteckten.
Tobias hatte auf einmal den Eindruck, dass sein Herz so laut schlug, dass alle im Saal es hörten. Konnte die Königin sie sehen?
Nein, das ist unmöglich! Der Stoff ist nicht durchsichtig, sie kann uns nicht sehen!
Dennoch zweifelte Tobias.
Das Gesicht der Königin verzerrte sich. Sie hatte etwas Verdächtiges bemerkt.
»Knecht, hast du die Fackel hier entfernt?«
»Nein, meine Königin, natürlich nicht. Ich werde sie sofort ersetzen lassen, seid …«
Sie hob herrisch den Zeigefinger. Der Mann verstummte sofort.
»Niemand hat unbefugt Zutritt zu diesem Saal«, überlegte sie laut. »Niemand …« Ihr Gesicht leuchtete auf, und sie eilte auf den Ausgang zu. »Raus! Raus! Verriegle diese Tür und lass die Horde los! Sie sind oben, im Turm mit dem Steinernen Testament!«
Alles ging so schnell, dass die Pans nicht reagieren konnten. Die Königin und ihr Diener verließen überstürzt den Raum, und draußen schob sich eine Stange vor die beiden Türflügel. Die Eindringlinge saßen in der Falle.
Tobias kam aus ihrem Versteck hervor und machte ein paar Schritte auf die Saalmitte zu.
»Sie haben uns eingeschlossen!«, sagte er.
Seine Stimme hallte unter der hohen Decke wider.
Die anderen gesellten sich zu ihm. Allen war sehr mulmig zumute.
»Wusste ich’s doch! Ich hätte rausgehen sollen!«, fluchte Ben mit einer Verzweiflung, die Tobias bei ihm noch nicht erlebt hatte.
»Wir müssen Ambre und Matt holen!«, rief Neil.
»Ich kümmere mich darum«, erklärte Tobias. »Versucht ihr so lange, den Eingang zu blockieren!«
Tobias rannte die Wendeltreppe hoch und trommelte an die Tür zum Turmzimmer.
Die Tür öffnete sich umgehend. Matts Schwertspitze tauchte auf.
»Ich bin es!«, rief Tobias. »Wir haben Besuch!«
»Wir haben das Horn gehört und wollten sowieso gerade runterkommen.«
»Habt ihr etwas entdeckt?«
Matt und Ambre wechselten einen raschen Blick.
»Ich erkläre euch alles, sobald wir hier raus sind«, sagte Matt, während sie die Stufen hinabliefen.
»Warte! So leicht ist das nicht. Die Königin hat den Thronsaal verriegeln lassen und will uns irgendwas auf den Hals hetzen.«
»Irgendwas?«, fragte Ambre.
»Sie nennt es die Horde der Seelenlosen, und sogar die Zyniks haben Angst davor!«
Die Gemeinschaft der Drei stieß zu den anderen Pans, die einen Schreibtisch, eine Kommode und mehrere Stühle als Barrikade vor der Tür aufgestapelt hatten.
»Aus den Gemächern der Königin«, erklärte Chen. »Nur Waffen haben wir dort nicht gefunden.«
Matt ging hinein.
»Die Wohnung meiner Mu… von Malronce«, sagte er.
»Die Tyrmadra«, flüsterte Tobias. »Die Tyrmadra und der Torvaderon …«
»Was sagst du da?«
»Die Tyrmadra, das ist ein Name, den ich einmal gehört habe, als ich im Torvaderon war. Er wollte ihr zuvorkommen, sie besiegen. Ich glaube, dass er Malronce so nennt: die Tyrmadra.«
Matt bohrte seine Schwertspitze in einen Teppich und schob ihn beiseite.
»Was machst du da?«
»Ich suche einen Geheimgang. Im Zimmer der Königin muss es so was doch geben!«
»Matt, das ist kein richtiges Schloss, das war … Das hier war Disneyworld, schon vergessen? Hier gibt es keine geheime Falltür oder falsche Spiegel!«
Matt hörte nicht hin und sah hinter jedem Möbelstück nach, in jedem Winkel. Umsonst.
Plötzlich vernahmen sie einen dumpfen Stoß, der den ganzen Raum zum Beben brachte, gefolgt von dem Splittern von Holz.
»Sie kommen!«, brüllte Ben.
Matt hob sein Schwert. Seine Hände umklammerten den Griff, er konnte den Stahl fast riechen.
Die Angst und Verwirrung, in die ihn der Anblick der Statue gestürzt hatte, waren wie weggeblasen; er dachte nur noch an den bevorstehenden Kampf gegen die Schergen der Königin.
Töten, um seinen Zweifel auszulöschen. Um sie für das zu bestrafen, was er gerade durchmachte. Um sich zu rächen.
Nun würde er seine böse Seite zum Ausdruck bringen und seiner Lust an der Gewalt freien Lauf lassen, als wären Malronce und ihre Henkersknechte für all das verantwortlich, was er seit dem Sturm hatte erdulden müssen.
Sein Gesicht veränderte sich. Die Furcht verschwand. Machte ungeheurer Entschlossenheit Platz.
Die Barrikade gab nach.
Die Pans wichen zurück. Was da durch die Tür brach, ließ sie vor Entsetzen erstarren.
Die Horde.