7. Rufe und Lichter
Matt starrte in die Nacht hinaus und kniff die Augen zusammen, aber die Dunkelheit über der Ebene war undurchdringlich. Nur mit Mühe machte er die Hügelketten am Horizont aus.
»Hörst du?«, flüsterte der Wächter.
In der Ferne erhob sich ein klagendes Jaulen aus den Wäldern. Mehrmals. Dann verwandelte es sich in abgehacktes Bellen.
»Das ist ein Hund, oder?«
Matt nickte.
»Ja, das muss Plusch sein.«
»Es klingt, als würde sie rufen.«
Matt ballte die Fäuste.
»Sie braucht bestimmt Hilfe! Ich muss zu ihr, sofort!«
Der Wächter packte ihn warnend am Arm.
»Tagsüber ist der Fruchtbare Wald nicht allzu gefährlich, aber jetzt … Überleg es dir gut! Nachts gehen die Raubtiere auf Beutefang!«
»Ich lasse Plusch nicht im Stich, wenn sie in Bedrängnis ist.«
Der zweite Wächter, ein etwas kleinerer, aber muskulöser, dunkelhäutiger Junge mit schwarzen Haaren, meldete sich zu Wort:
»Ich komme mit. Ich heiße Juan. Hol deine Sachen, ich sage Kleber Bescheid, der soll uns begleiten.«
Matt rannte zu seinem Zimmer und legte seine Ausrüstung an. Als er wieder auf den Flur trat, spähte Ambre durch die Tür.
»Du machst vielleicht einen Lärm! Wohin willst du denn um diese Uhrzeit?«
»Ich gehe Plusch holen, man hört sie im Wald jaulen.«
»Ich komme mit.«
Juan wartete neben einem hochgewachsenen, etwa vierzehnjährigen Jungen mit asiatischen Gesichtszügen, den er sogleich vorstellte.
»Das ist Kleber.«
»Kleber? Heißt du so?«, fragte Ambre verwundert.
»Nein, eigentlich heiße ich Chen.«
»Den Spitznamen hat er wegen seiner Hände«, erklärte Juan. »Chen klettert ständig auf Bäumen rum. Schon als kleiner Junge stieg er auf alles, das hoch genug war.«
»Meine Alteration hat sich dementsprechend entwickelt. Ich sondere an den Handflächen und Fußsohlen eine klebrige Substanz ab, wenn ich mich aufs Klettern konzentriere.«
Ambre blickte den Jungen so bewundernd an, als hörte sie zum ersten Mal von der Alteration.
»Hier, nehmt diese abgedunkelten Laternen«, sagte Juan und hielt ihnen Sturmlampen hin, über die ein zylinderförmiger Schirm gestülpt war. »Damit kann man uns aus der Ferne nicht sehen. Das Licht würde sonst wilde Tiere anlocken.«
Die dünnen Lichtstrahlen fielen auf den Weg und erhellten nur die Füße der vier Pans. Matt, Ambre, Juan und Chen marschierten los und folgten dem Pfad, der sich durch die Felder in Richtung Südwesten schlängelte.
Nach weniger als einer Stunde waren sie am Rand des Fruchtbaren Waldes angelangt und tauchten in die Pflanzenwelt ein, die zu dieser späten Stunde dunkel und bedrohlich wirkte. Von nun an ließen sie sich von dem Jaulen der Hündin leiten.
In dem schwachen Licht, das aus den Laternen drang, leuchteten die gelben Augen einer Eule auf. Der Raubvogel beobachtete sie von seinem Ast aus, als wäre er der Hüter dieser nächtlichen Welt, und schickte ihnen einen unheimlichen Schrei hinterher.
»Welche Wesen kann man hier antreffen?«, fragte Ambre.
»Durchsichtige Gottesanbeterinnen zum Beispiel«, antwortete Juan. »Das sind extrem dünne, aber ungefähr drei bis vier Meter hohe Insekten, die sehr aggressiv sind und sich blitzschnell auf ihre Beute stürzen. Und fleischfressende Brombeersträucher. Tagsüber kann man sie eigentlich nicht übersehen, da muss man schon sehr unachtsam sein, um ihnen in die Fänge zu geraten, aber nachts ist das komplizierter. Wenn ihre Dornenzweige sich um deinen Knöchel schlingen, musst du sofort reagieren.«
»Außerdem gibt es die Mammut-Sauen«, ergänzte Chen. »Das sind riesige Wildschweine mit langen, gebogenen Hauern. Sie treten immer in Horden auf und werden von Blutgeruch angelockt. Solange niemand verletzt ist, brauchen wir vor ihnen keine Angst zu haben.«
»Das alles nur in diesem Wald?«, fragte Ambre erstaunt.
»Und die Schlimmsten sind natürlich die Nachtschleicher.«
Matt lief ein Schauer über den Rücken. Mit einer solchen Kreatur hatte er bereits einmal Bekanntschaft gemacht, und ohne Plusch wären Tobias und er vermutlich nicht mehr am Leben.
»Das sind die Grausamsten unter den Raubtieren, nicht wahr?«
Juan nickte heftig.
»O ja, absolut! Die wenigen Weitwanderer, die den Angriff eines Nachtschleichers überlebt haben, berichten Schreckliches. Die Nachtschleicher haben eine menschenähnliche Gestalt, deshalb glauben einige, dass sie vor dem Sturm Menschen waren.«
»Unmöglich!«, widersprach Matt. »Ich habe eins dieser Monster gesehen, und es ähnelte ganz sicher keinem Menschen!«
»Mag sein, aber in Eden geht seit längerem das Gerücht um, dass die schlimmsten Kriminellen der alten Zeit, also Serienmörder, eiskalte Killer und andere gewissenlose Typen, sich in diese grauenhaften Dinger verwandelt haben.«
»Kommen sie in dieser Gegend vor?«, fragte Ambre.
»Ich nehme es an, denn die Nachtschleicher sind Nomaden. Da wir nachts aber im Schutz der Stadtmauern bleiben, kann niemand das mit Bestimmtheit sagen.«
»Ich würde ihren Schrei erkennen«, meinte Matt.
»Den Jagdlaut, den sie beim Anblick ihrer Beute ausstoßen? In Eden sagt man, dass man so gut wie tot ist, wenn man den Schrei eines Nachtschleichers hört.«
»Na, herrlich«, kommentierte Ambre leise.
Wieder durchriss ein lautes Jaulen die Stille. Die vier Pans sahen sich erschrocken an.
»Bist du sicher, dass das Plusch ist?«, fragte Ambre.
»Ganz sicher.«
»Ich habe nicht den Eindruck, dass sie leidet, es hört sich eher so an, als würde sie jemanden rufen.«
»Das stimmt. Ich hoffe, dass sie nicht irgendwo gefangen ist. Je schneller wir sie finden, desto besser.«
Über eine Stunde lang folgten sie den Rufen der Hündin. Dabei wurde klar, dass sie sich fortbewegte.
»Sie ist nicht verletzt«, meinte Ambre. »Mir kommt es so vor, als würde sie irgendetwas suchen.«
»Aber was nur? Wir waren noch nie hier!«
»Vielleicht hat es mit ihrem alten Leben zu tun?«
»Auf jeden Fall will ich ihr helfen können, wenn sie in Not gerät. Dieser Wald ist für sie genauso gefährlich wie für uns.«
Sie versuchten verzweifelt, den genauen Aufenthaltsort der Hündin auszumachen, doch immer wenn sie in eine Richtung preschten, erklang das Jaulen plötzlich aus einer anderen. Schließlich ließ Matt jede Vorsicht fallen und rief laut ihren Namen.
Nichts half. Plusch schien viel zu vertieft in ihre Suche, um ihn zu hören.
Plötzlich sprang eine riesige Eidechse aus den Farngewächsen und stürzte sich auf Matt, der die Gruppe anführte.
Sein Schwert pfiff durch die Luft und traf den Schädel des Reptils, das sich sofort wieder in die Dunkelheit zurückzog.
Chen hechtete zum nächsten Baum und kletterte so mühelos bis in den Wipfel hinauf, als würde er eine Treppe hochlaufen. Er hielt mehrere Minuten lang Ausschau, dann stieg er wieder zu den anderen herab.
»Ich habe nichts gesehen. Man muss sich vor diesen Viechern in Acht nehmen, sie jagen in Scharen. Aber diese Echse war wohl allein unterwegs. Trotzdem sollten wir nicht länger hierbleiben, man weiß nie …«
»Ich habe das Gefühl, dass deine Hündin sich nicht finden lassen will«, sagte Juan. »Wir sollten unser Leben nicht länger aufs Spiel setzen.«
»Das sieht ihr ganz und gar nicht ähnlich«, meinte Matt. »Ich würde gern noch ein bisschen weiter …«
»Juan hat recht«, unterbrach Ambre ihn. »Lassen wir es gut sein. Wenn Plusch wollte, wäre sie schon längst angelaufen gekommen. Sei nicht so stur.«
»Aber ich …«
»Matt!«, mahnte Ambre und sah ihn streng an. »Erinnere dich an das, was wir bei den Chloropanphyllikern erlebt haben. Du hast versprochen, mir zu vertrauen, wenn es drauf ankommt.«
Matt seufzte und nickte widerwillig.
Sie kehrten um und beeilten sich, den Wald und seine unheimlichen Geräusche zu verlassen.
Von der Spitze eines Hügels aus bemerkte Ambre ein rotblaues Leuchten in der Ferne.
»Seht ihr das? Chen, kannst du auf einen Baum klettern, um herauszufinden, was das ist?«
»Nicht nötig, das kennen wir schon. Es ist ein Skaraheer, das auf einer Straße vorbeizieht.«
»Seit wann?«
»Schon immer. Millionen von Käfern! Eine endlose Kolonne! Sie bewegen sich alle nach Süden, und etwas weiter weg gibt es ein Skaraheer, das nach Norden krabbelt.«
Ambre betrachtete die beiden leuchtenden Bahnen.
»Ich wüsste wirklich gern, was es damit auf sich hat«, sagte sie nachdenklich.
»Ich könnte euch morgen hinführen, wenn ihr wollt«, schlug Chen vor. »Aber wir müssen vorsichtig sein.«
»Wieso?«
»Wegen der Alteration. In der Nähe des Skaraheers fängt die Alteration an zu … spinnen, sie wird manchmal unkontrollierbar. Die Pans, die mit ihrer Alteration noch nicht gut genug umgehen können, dürfen sich den Käfern nicht nähern. Es sind schon einige schlimme Unfälle passiert.«
Ambre riss verblüfft die Augen auf.
Während sie den Hang hinabliefen, warf Matt einen letzten Blick auf den Wald, in dem seine Hündin umherirrte.
Würde er sie je wiedersehen?