Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes über das Scheitern großer, führender Unternehmen in mehreren Branchen stellen konventionelle Erklärungen für Erfolg und Misserfolg absolut in Frage. Weder waren die Entwickler in diesen Unternehmen Gefangene eines technologischen Paradigmas, noch litten sie unter dem .„Not Invented Here“-Syndrom. Es waren auch nicht mangelnde technologische Kompetenzen in den neuen Gebieten ausschlaggebend für den Misserfolg – oder gar die Unfähigkeit, technologisch an der Spitze der eigenen Branche zu bleiben. Natürlich waren solche Probleme vorhanden und schwächten einige dieser Unternehmen. Aber die Indizien sprechen eindeutig dafür, dass etablierte Unternehmen Expertise, Kapital, Lieferanten, Energie und die gesamte Argumentationskraft für die erfolgreiche Weiterentwicklung einer neuen Technologie durchaus aufbringen können, wenn es darum geht, die Bedürfnisse der profitabelsten Kunden zufrieden zu stellen. Das trifft sowohl auf inkrementelle als auch auf radikale Innovationen zu, auf Projekte, die Monate und auf Projekte, die mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen, auf die schnelllebige Branche der Computerlaufwerke genauso wie auf die behäbige Branche der Baggerhersteller und die der prozessintensiven Stahlindustrie.

Das wahrscheinlich wichtigste Ergebnis dieses Forschungsprojektes ist, dass schlechtes Management als Erklärung ausgeschlossen werden kann. Das heißt natürlich umgekehrt nicht, dass gutes bzw. schlechtes Management keine Schlüsselfaktoren für Erfolg wären. Aber im Allgemeinen waren die Führungskräfte in all diesen Fällen sehr gut und sehr erfolgreich im Aufspüren zukünftiger Kundenbedürfnisse, im Finden der geeigneten Technologie, um diese Bedürfnisse zufrieden zu stellen, im Investieren in diese Technologien und in deren Weiterentwicklung. Sie scheiterten lediglich, sobald sie mit disruptiven Innovationen konfrontiert wurden. Daher musste es einen plausiblen Grund dafür geben, dass diese ansonsten erfolgreichen Führungskräfte immer wieder die falschen Entscheidungen trafen, wenn es um disruptive technologische Veränderungen ging.

Der Grund lag im guten Management selbst. Die Führungskräfte spielten dasselbe Spiel wie immer. Aber jene Entscheidungs- und Ressourcenallokationsprozesse, die normalerweise zum Erfolg führen, sind wiederum jene Prozesse, die disruptive Innovationen verhindern: Ausgeprägte Kundenorientierung, sorgfältige Beobachtung der Konkurrenten, Investitionen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit und Qualität der Produkte, um höhere Margen zu erzielen. Das sind somit die eigentlichen Gründe, warum führende Unternehmen bei disruptiven Innovationen in Schwierigkeiten kamen oder gar scheiterten.

Erfolgreiche Unternehmen wollen natürlich ihre Ressourcen in Projekte investieren, die auf die Bedürfnisse ihrer Kunden ausgerichtet sind, die höhere Erträge versprechen, die technologisch machbar sind und die ihnen dazu verhelfen, in wichtigen Märkten mitzuspielen. Aber zu erwarten, dass solche Prozesse auch disruptive Innovationen fördern – Ressourcen[126]auf Projekte lenken, die von den Kunden abgelehnt werden, die geringere Margen versprechen, die weniger leisten, als die herkömmlichen Technologien und die nur in unbedeutenden Märkten verkauft werden können – ist vergleichbar mit dem Versuch, seine Arme mit Federn zu schmücken, um damit fliegen zu wollen. Es würde bedeuten, gegen mächtige Kräfte im Unternehmen anzukämpfen, die bisher für den Erfolg ausschlaggebend waren und die somit die Grundlage bzw. ein Indikator für die Bewertung von Leistungen und von Führungskräften sind.

Der zweite Teil dieses Buches baut auf die Fallstudien einiger weniger erfolgreicher und vieler nicht erfolgreicher Unternehmen bei disruptivem technologischen Wandel auf. Analog zu unserer Geschichte des Fliegens, bei der die ersten Flugversuche erst gelangen, nachdem man die Naturkräfte verstanden hatte und für sich nutzen konnte, zeigen diese Fallstudien, dass erfolgreiche Manager nach ganz anderen Regeln führten und arbeiteten als gescheiterte. Erfolgreiche Führungskräfte erkannten und nutzten fünf fundamentale Prinzipien. Unternehmen, die scheiterten, ignorierten diese. Diese fünf Prinzipien lauten:

1.

Ressourcenabhängigkeit: Die Kunden beeinflussen Ressourcenallokationsprozesse in erfolgreichen Unternehmen.

2.

Kleine Märkte befriedigen nicht die Wachstumsbedürfnisse großer Unternehmen.

3.

Die tatsächlichen Anwendungsgebiete einer disruptiven Technologie sind nicht im Voraus bekannt. Fehlschläge sind wichtige Schritte auf dem Weg zum Erfolg.

4.

Organisationen haben eigene Fähigkeiten – unabhängig von den Fähigkeiten einzelner Mitarbeiter. Organisationale Kompetenzen liegen in den Prozessen und Werten. Und genau jene Prozesse und Werte, die den Erfolg im bestehenden Geschäft begründen, sind jene Prozesse und Werte, die den Unternehmen ihre Grenzen bei disruptiven Innovationen aufzeigen.

5.

Die technologischen Möglichkeiten müssen nicht zwangsläufig auf Nachfrage am Markt treffen. Jene Leistungskriterien, die disruptive Innovationen für bestehende Märkte unattraktiv machen, sind oft genau jene, die einen ganz bedeutenden Mehrwert in neu entstehenden Märkten darstellen.

Wie nutzten erfolgreiche Manager diese Prinzipien für sich?

1.

Projekte zur Entwicklung und Vermarktung disruptiver Technologien wurden an Organisationen oder Organisationseinheiten übertragen, deren Kunden diese Technologien auch wirklich brauchten. Wenn disruptive Innovationen auf den .„richtigen“ Kunden ausgerichtet waren, erhöhte die Nachfrage durch diese Kunden die Wahrscheinlichkeit, dass die neue Technologie die erforderlichen Ressourcen zugewiesen bekam.

2.

Disruptive Innovationen wurden in Organisationseinheiten entwickelt, die klein genug waren, dass auch kleine Chancen und kleine Erfolge Begeisterung auslösten.

3.

Auf der Suche nach Märkten für disruptive Technologien versuchten diese Führungskräfte rasch festzustellen, was funktionierte und was nicht. Die Pläne waren so gestaltet, dass sich Fehler frühzeitig herausstellten – zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Fehler noch keine hohen Kosten verursachte. Märkte kristallisierten sich meist erst durch einen iterativen Versuchs-und-Irrtums-Prozess heraus.

4.

Sie griffen auch auf Ressourcen des gesamten Unternehmens zurück, stützten sich aber bewusst nicht auf dessen Prozesse und Werte. Sie gestalteten eigene Arbeitsstile und -prozesse für die Organisationseinheit, deren Werte und Kostenstruktur auf die disruptive Technologie ausgerichtet waren.

5.

Bei der Vermarktung der disruptiven Technologie fanden sie neue Märkte, die die besonderen Leistungseigenschaften schätzten, anstatt nach technologischen Durchbrüchen zu streben, die diese Technologie auch für den Mainstream-Markt attraktiv gemacht hätten.

Kapitel fünf bis neun im zweiten Teil dieses Buches beschreiben im Detail, was Führungskräfte tun können, um diese Prinzipien für sich nutzbar zu machen. Jedes Kapitel beginnt mit der Frage, wie diese Prinzipien – unabhängig davon ob sie genutzt oder ignoriert wurden – das Schicksal der Hersteller von Computerlaufwerken besiegelten164. Jedes Kapitel zweigt dann in eine Branche mit völlig anderen Charakteristika ab, um zu zeigen, wie die gleichen Prinzipien den Erfolg oder Misserfolg von Unternehmen bei disruptiven Innovationen beeinflussen.

Im Ergebnis zeigen diese Fallstudien, dass, während die disruptiven Technologien die Branchendynamik auf ganz unterschiedliche Arten verändern können, die Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren über die Branchen hinweg konsistent sind.

The Innovator's Dilemma
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