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Doppelleben

Schreiend fiel Jack durch die Luft. Der Wind sauste ihm um die Ohren. Dann schlug er auf– doch nicht auf dem Boden, sondern auf dem nächsttieferen Dach des Turms.

Einen Augenblick lang blieb er vor Schreck wie gelähmt liegen.

Dann erholte er sich. Neben ihm funkelte etwas. In dem Spalt zwischen zwei Dachziegelreihen steckte sein Schwert. Vorsichtig kroch er zu der Stelle und packte den Griff. Mit dem Schwert in der Hand fühlte er neue Kraft.

Er stand auf und steckte es in die Scheide. Jetzt musste er die steilen, einander überschneidenden Dächer wieder zum sechsten Stock hinaufklettern. Vorsichtig ging er an der Mauer entlang und spähte um die nächste Ecke. Der Ninja kam auf ihn zu. Jack duckte sich in den Schatten der Dachtraufe über sich, zog sein Kampfmesser und wartete. Als der Ninja um die Ecke bog, sprang Jack ihn an. Er drückte ihn gegen die Mauer und hielt ihm das Messer an die Kehle. Blutdurstig leuchtete die teuflische Klinge im bleichen Schein des Mondes auf.

»Nicht!«, schrie die Stimme eines Mädchens.

Fassungslos starrte Jack in die Augen des Ninjas. Sie waren schwarz wie Ebenholz.

»Akiko?«, flüsterte er. Er wagte es kaum, den Namen auszusprechen.

Der Ninja nickte genau einmal und schlug die Kapuze zurück. Akikos lange Haare fielen ihr über die Schultern.

»Ich… ich kann dir alles erklären«, stammelte sie und blickte ängstlich auf das Messer an ihrem Hals.

»Du bist eine Verräterin… wie Kazuki!« Jacks Hand begann vor Schreck zu zittern.

»Nein! Ich stehe auf unserer Seite.«

»Warum bist du dann wie ein Ninja gekleidet? Und hast Drachenauge gerettet?«

»Ich habe dich gerettet«, erwiderte Akiko. »Drachenauge hatte ein Messer im Ärmel versteckt. Er wollte dich töten.«

»Aber ich hatte ihm schon das Schwert an die Kehle gesetzt. Und du hast mich angegriffen! Warum sollte ich dir glauben? Du hast mich vom Dach gestoßen!«

Akiko schüttelte heftig den Kopf. »Wenn ich deinen Tod gewollt hätte, hätte ich dich einfach fallen lassen. Aber ich habe dich hin und her geschwungen, damit du auf das Dach fällst.« Sie flehte Jack mit den Augen an, ihr zu glauben. »Erinnerst du dich an den Überfall im Bambuswald? Ich war der dritte Ninja, der dich gerettet hat.«

Jack war hin- und hergerissen. Er wollte Akiko so gerne glauben, doch seine Augen sahen etwas anderes.

Akiko war ein Ninja.

Ein Feind.

»Warum hast du mich nicht einfach vor dem Messer Drachenauges gewarnt?«

Akiko wandte den Blick ab. »Ich durfte nicht zulassen, dass du ihn tötest.«

Jack schwirrte der Kopf. Also war Akiko nicht nur ein Ninja, sie beschützte auch noch Drachenauge, den Mörder seines Vaters. Wut stieg in ihm auf und das teuflische Messer in seiner Hand schien ihn darum zu bitten, die scharfe Klinge über Akikos Hals zu ziehen.

Akiko erschrak über die Wut in seinen Augen. »Bitte nimm das Messer weg«, flüsterte sie. »Ich erkläre dir alles.«

Schlagartig wurde Jack bewusst, was er da tat. Vor ihm stand Akiko, seine beste Freundin. Er musste ihr vertrauen. Seine Wut verebbte, als sei ein Bann gebrochen. Langsam senkte er das Messer und steckte es ein.

»Du darfst Dokugan Ryu nicht töten«, sagte Akiko. »Er ist der Einzige, der weiß, wo mein Bruder ist.«

»Aber Jiro ist doch in Toba«, erwiderte Jack.

»Ich spreche von meinem kleinen Bruder Kiyoshi.«

»Du hast gesagt, er sei tot.«

»Ich sagte, er hätte uns verlassen«, verbesserte Akiko ihn.

»Aber du hast im Tempel des friedlichen Drachen für ihn gebetet.«

»Ja, für seine sichere Rückkehr. Drachenauge hat ihn in derselben Nacht, in der er Tenno tötete, entführt.«

Von unten kamen Rufe und sie duckten sich tiefer in den dunklen Schatten, um von den Bogenschützen nicht gesehen zu werden.

»Meine Familie besuchte damals gerade Masamoto-sama in Kyoto. Ein Geräusch aus dem Garten weckte mich. Ich öffnete die Schiebetür und sah einen schwarzen Geist über Tenno stehen. Der Geist hielt ein Messer in der Hand. Ich war damals noch ein kleines Kind und hätte Tenno nicht retten können. Hilflos musste ich mit ansehen, wie der Ninja Tenno das Messer ins Herz stieß.«

Akikos Augen füllten sich mit Tränen und sie ballte in verzweifelter Ohnmacht die Fäuste. Jack wusste genau, was sie empfand, ihm war es damals genauso ergangen. Noch jetzt quälte ihn täglich die Erinnerung, wie er starr vor Angst hatte zusehen müssen, wie Drachenauge seinen Vater mit einer Drahtschlinge erdrosselt hatte. Auch er hatte den Mord nicht verhindern können.

»Drachenauge sah mich an und Blut tropfte von seinem Messer. Ich weiß noch, dass es auf den weißen Steinen des Weges eine rote Spur hinterließ, die aussah wie Blätter von Rosenblüten. Natürlich hätte ich Kiyoshi nicht allein lassen dürfen, aber ich hatte Angst. Als ich Masamoto-sama geweckt hatte, war Drachenauge verschwunden. Mein Bruder ebenfalls.«

»Das tut mir leid«, sagte Jack und streckte tröstend die Hand nach ihr aus. »Aber warum bist du dann ein Ninja geworden?«

»Das hat Masamoto vorgeschlagen.«

Jack sah Akiko entgeistert an. »Er weiß davon?«

Akiko nickte. »Er hat mich mit dem Mönch vom Tempel des friedlichen Drachen bekannt gemacht. Der Mönch ist Mitglied der Familie Koga und war ein Ninja-Großmeister, bevor er Priester wurde. Gegen eine Spende für den Tempel war er bereit, mich in die geheimen Künste der Ninjas einzuweihen.«

»Ich habe ihm nie getraut!«, rief Jack. Er erinnerte sich an die Hände des Mannes, die wie Messer ausgesehen hatten. »Das erklärt natürlich auch deine überraschenden Fähigkeiten! Aber ich kann nicht glauben, dass du mich die ganze Zeit angelogen hast. Du hättest mir wirklich vertrauen können.«

»Ich vertraue dir mehr als sonst jemandem auf der Welt«, sagte Akiko ernst und nahm seine Hand. »Und ich habe dich nie angelogen. Was ich gesagt habe, war nur eine andere Seite derselben Wahrheit. Der Mönch hat mich tatsächlich getröstet, aber er hat mich auch in den Kampfkünsten der Ninjas unterrichtet. Zu meiner Sicherheit durfte niemand von meinem Doppelleben wissen.«

»Aber warum wollte Masamoto-sama überhaupt, dass du den Weg des Ninjas gehst?«

»Als wir vor zwei Jahren den Mord an Daimyo Takatomi durch Drachenauge verhinderten, erkannte Masamoto-sama, dass die Zeit des Friedens zu Ende ging. Er glaubte, um den Gegner zu kennen, müsse man wie er werden. Ich willigte sofort in seinen Vorschlag ein, denn ich war überzeugt, dass Drachenauge Kiyoshi nicht umgebracht hatte. Als der Mönch mir von einem Gerücht erzählte, dass ein Junge aus einer Samuraifamilie Mitglied eines Ninja-Clans im Iga-Gebirge geworden sei, war ich mir umso sicherer. Ich dachte, wenn es mir gelänge, in die Kreise der Ninjas einzudringen, könnte ich meinen Bruder finden.«

»Aber wie würdest du ihn nach so langer Zeit wiedererkennen?«

»Ich würde Kiyoshi immer erkennen, selbst wenn sie ihm die Haare abgeschnitten und ihm einen anderen Namen gegeben hätten. Außerdem hat er am Rücken ein Muttermal, das wie das Blatt einer Kirschblüte geformt ist.«

Akiko lächelte unwillkürlich.

»Du sollst also für Masamoto-sama töten?«, fragte Jack vorsichtig.

Akiko schüttelte den Kopf. »Ich soll nur Informationen über den Gegner sammeln.«

Ein Pfeil schlug über ihren Köpfen gegen die Mauer.

»Wir müssen von hier weg«, sagte Akiko und setzte ihre Kapuze auf.

Sie eilte an der Mauer entlang und verschwand in der Nacht.