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Die Krücke

Das Blut dröhnte Jack in den Ohren, sein Herz raste und er bekam keine Luft mehr. Doch er durfte jetzt nicht stehen bleiben.

Blindlings brach er durch den Bambuswald, ein Labyrinth dicker Stängel, die wie knochige Finger zu einem Dach olivgrüner Blätter aufragten.

»In welche Richtung ist er gelaufen?«, rief jemand hinter ihm.

Jack hielt nicht an. Obwohl seine Muskeln protestierten, wollte er die Verfolgung nicht aufgeben. Seit seiner schicksalhaften Ankunft in Japan war der Ninja Drachenauge zum Fluch seines Daseins geworden. Nach dem Schiffbruch der Alexandria hatte Drachenauge seinen Vater ermordet, anschließend ihn selbst verfolgt und ihm zuletzt den Portolan seines Vaters gestohlen.

Jack hatte verhindern sollen, dass das kostbare Logbuch in falsche Hände geriet. Die Informationen, die es enthielt, waren nicht nur für England, sondern auch für Englands Feinde von großem Wert. Ihm selbst konnte das Logbuch die Heimkehr ermöglichen und befähigte ihn, wie sein Vater als Steuermann zu arbeiten. Er musste den Ninja unbedingt aufspüren und das Buch zurückholen.

»Er hat uns abgehängt«, stellte eine zweite Stimme ungläubig fest.

Jack wurde langsamer und sah sich um. Seine Freunde hatten Recht. Der Mann, den sie jagten, war spurlos im Dickicht verschwunden.

Yamato und Akiko holten Jack ein. Akiko musste sich setzen, um zu verschnaufen. Sie hatte sich immer noch nicht ganz von ihrer Vergiftung erholt. Ihre Haut hatte den weißen Schimmer verloren und unter den halbmondförmigen Augen lagen dunkle Ringe. Schuldbewusst senkte Jack den Blick. Auch wenn Akiko ihm keine Vorwürfe machte, war er doch an ihrem Zustand schuld. Er hatte den Portolan in der Burg von Daimyo Takatomi, dem Fürsten der Provinz Kyoto, versteckt. Dort hatte er das Buch sicher gewähnt. Jetzt wusste er es besser. Drachenauge war in die Burg eingedrungen, Akiko war Jack zu Hilfe geeilt und dabei fast getötet worden, und Daimyo Takatomi hatte in Lebensgefahr geschwebt.

»Aber wie konnte er entkommen?«, fragte Yamato und stützte sich keuchend auf einen langen Stock, seinen bo. »Er ist doch nur ein Krüppel!«

»Er hat wahrscheinlich kehrtgemacht.« Jack drehte sich um die eigene Achse und suchte das Dickicht nach Spuren ab. Er wusste, dass sein Freund ebenso darauf brannte, den Flüchtigen zu finden, wie er selbst. Vor vier Jahren hatte Drachenauge Yamatos älteren Bruder Tenno ermordet.

»Ich kann nicht glauben, dass er Akikos Perle geklaut hat!«, rief Yamato und trat wütend gegen einen Bambusstamm. Der Stamm war steinhart und Yamato schrie vor Schmerzen auf.

Akiko verdrehte seufzend die Augen. Ihr Cousin war ein unverbesserlicher Hitzkopf. »Die Perle ist nicht so wichtig«, sagte sie und band sich die langen, schwarzen Haare zurück. »Wenn wir nach Toba kommen, tauche ich nach einer neuen.«

»Darum geht es nicht. Er hat die Perle genommen, ohne uns Informationen über Drachenauge zu geben.«

Jack stimmte Yamato zu. Nur deshalb waren sie überhaupt zum Fuß des Iga-Gebirges gereist. Nachdem sie von der Samuraischule verwiesen worden waren, weil sie Daimyo Takatomi in Lebensgefahr gebracht hatten, waren sie zu Akikos Mutter nach Toba geschickt worden. Dort sollten sie abwarten, bis über ihr weiteres Schicksal entschieden wurde. Unterwegs hatte sich ihr Samuraiführer Kuma-san bei einem Sturz vom Pferd die Schulter ausgerenkt. Bis er wieder reisefähig war, mussten sie in Kameyama Station machen. Während dieser Zwangspause hatten sie gehört, dass ein Krüppel namens Orochi sich brüstete, den berüchtigten Drachenauge zu kennen. Das Dorf Kabuto, in dem Orochi angeblich lebte, war nicht weit entfernt, und zu dritt waren sie aufgebrochen, um Orochi zu befragen. Jack wollte nicht nur den Portolan zurückholen, sondern auch Drachenauges Schlupfloch ausfindig machen und ihn Yamatos Vater Masamoto Takeshi ausliefern. Vielleicht, so hoffte er inständig, verzieh der legendäre Schwertkämpfer ihm und seinen Freunden dann und ließ sie die Samuraiausbildung an der Niten Ichi Ryu fortsetzen.

Kabuto bestand lediglich aus einer Straßenkreuzung mit einigen Bauernhäusern und einer baufälligen Herberge. Die wenigen Reisenden, die von der großen Tokaido-Straße zu dem Städtchen Ueno unterwegs waren, stiegen hier ab. Im Schankraum der Herberge fanden sie Orochi.

Als Jack und seine Freunde eintraten, verstummten die anderen Gäste. Jack fiel immer auf, besonders außerhalb von Kyoto, wo Ausländer ein seltener Anblick waren. Seine dicken, strohblonden Haare und himmelblauen Augen faszinierten die schwarzhaarigen, dunkeläugigen Japaner. Dazu kam, dass er mit erst vierzehn Jahren größer und stärker war als viele japanische Männer und entsprechend auf Misstrauen und Angst stieß– vor allem seitdem er sich wie ein Samurai kleidete und benahm.

Jack sah sich rasch um. Die Schenke ähnelte mehr einer Spielhölle als einem Ort zum Ausruhen. An niedrigen Tischen, die von verschüttetem Sake klebrig waren, fanden verschiedene Würfel- und Kartenspiele statt. Händler, Samurai und Bauern musterten die Neuankömmlinge misstrauisch. Akiko begrüßten sie mit anerkennendem Gemurmel. Von der Bedienung abgesehen, die nervös in einer Ecke stand, waren keine Frauen anwesend.

Die drei Freunde traten zum Tresen. Die anderen Gäste folgten ihnen mit den Blicken.

»Entschuldigung«, sagte Yamato zum Wirt, einem stämmigen Mann mit Händen wie Schaufeln. »Können Sie uns sagen, wo wir Orochi-san finden?«

Der Mann brummte etwas und wies mit einem kurzen Nicken in den rückwärtigen Teil der Schenke. Dort saß in einer dunklen, von einer einzigen Kerze erleuchteten Nische vornübergebeugt ein Mann. An der Wand hinter ihm lehnte eine hölzerne Krücke.

Sie gingen zu ihm. »Dürfen wir uns kurz mit Ihnen unterhalten?«, fragte Yamato.

»Hängt davon ab, wer die Runde zahlt«, antwortete der Mann kurzatmig und musterte die drei. Er schien sich zu fragen, was ein junger Samurai mit stachelig vom Kopf abstehenden schwarzen Haaren, ein hübsches Mädchen und ein Ausländer in einer heruntergekommenen Schenke wie dieser zu suchen hatten.

»Das werden wohl wir sein«, sagte Yamato mit einer Verbeugung.

»Dann setzt euch zu mir. Der Gaijin kann auch kommen.«

Gaijin war ein Schimpfwort für Ausländer, aber Jack überhörte es. Der Mann war ihre einzige Spur und sie brauchten ihn auf ihrer Seite. Außerdem konnte es nur von Vorteil sein, wenn Orochi nicht wusste, dass Jack fließend Japanisch sprach.

Der Mann hob seine verkrüppelte linke Hand, deren Finger wie knorrige Wurzeln verdreht waren, und bestellte Sake. Er schien bereit, mit ihnen zu sprechen. Die anderen Gäste nahmen daraufhin ihre Gespräche und Spiele wieder auf.

Jack, Akiko und Yamato ließen sich mit gekreuzten Beinen dem Mann gegenüber an dem niedrigen Tisch nieder. Das Serviermädchen brachte eine große Flasche Sake und eine einzelne kleine Tasse. Yamato bezahlte und das Mädchen entfernte sich wieder.

»Bitte entschuldigt meine schrecklichen Tischmanieren«, sagte Orochi schnaufend und sah Akiko wohlwollend an. Er zeigte auf sein schmutziges rechtes Bein, das auf einem Kissen lag und dessen Fußsohle zu sehen war. »Ich will euch nicht kränken, aber ich bin von Geburt an gelähmt.«

»Keine Ursache«, erwiderte Akiko und schenkte ihm ein, wie es Brauch war, wenn eine Frau anwesend war.

Orochi nahm die Tasse mit seiner gesunden Hand und stürzte den Reiswein in einem Zug hinunter. Akiko schenkte ihm nach.

»Wir hätten gerne etwas gewusst«, begann sie leise. »Und zwar, wo Dokugan Ryu sich aufhält.«

Orochi hielt inne, als er den Namen hörte. Dann setzte er die Tasse an die Lippen und leerte sie.

»Dieser Sake schmeckt scheußlich!«, schimpfte er. Er hustete laut und schlug sich an die Brust. »Aber was ihr wollt, kostet noch viel mehr als Sake.«

Er sah Yamato vielsagend an, während Akiko ihm erneut nachschenkte. Yamato nickte Akiko zu und Akiko zog eine große, milchweiße Perle aus dem Ärmel ihres Kimonos und legte sie vor Orochi auf den Tisch.

»Das müsste mehr als reichen«, sagte Yamato.

In die schwarzen Augen des Mannes war ein Funkeln getreten. Er vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass niemand sie beobachtete, und verzog den Mund zu einem zufriedenen Grinsen.

Dann streckte er die Hand nach der Perle aus.

Yamato hielt ihn am Handgelenk fest.

»Zuerst die Auskunft«, sagte er.

»Natürlich.« Orochi nickte und zog die Hand zurück. »Ich an eurer Stelle«, flüsterte er leise, »würde ihn in einem Dorf namens…«

Eine Glocke schepperte. Die Eingangstür wurde aufgeschoben und zwei neue Kunden traten ein. Orochi verstummte und wartete, bis sie sich an den Tresen gesetzt hatten. Einer der beiden winkte dem Wirt. Jack bemerkte, dass an seiner Hand der kleine Finger fehlte.

»Was wollten Sie sagen?«, hakte Yamato nach.

Orochi wirkte einen Augenblick lang abwesend, doch kehrte seine Aufmerksamkeit rasch zu der Perle zurück.

»Äh… würdet ihr mich entschuldigen? Der Ruf der Natur.« Er griff nach seiner Krücke. »Ich brauche eine Weile, bis ich dort bin, deshalb muss ich gehen, sobald ich das Bedürfnis verspüre. Ihr habt dafür sicher Verständnis.«

Im Aufstehen stieß er gegen den Tisch. Die Sakeflasche fiel um und lief aus.

»Mein lahmes Bein ist wirklich eine Plage«, murmelte er entschuldigend. »Ich bin gleich wieder da.« An das Serviermädchen gewandt fügte er hinzu: »Wisch das auf!«

Vornübergebeugt humpelte er zur Hintertür. Die Bedienung trat eilends an den Tisch und begann den verschütteten Sake aufzuwischen. Plötzlich merkte Jack, dass etwas fehlte.

»Wo ist die Perle?«

Sie suchten auf dem Boden, starrten einander erschrocken an und eilten zur Hintertür und nach draußen.

Von Orochi keine Spur. Doch dann sah Akiko eine Gestalt im Bambuswald hinter dem Wirtshaus verschwinden. Als sie dort ankamen, war Orochi längst in das Dickicht eingetaucht. Sie stürzten ihm hinterher und nahmen die Verfolgung auf– doch er blieb spurlos verschwunden.

»Habt ihr das gehört?«, fragte Akiko.

Jack sah sie an. »Was denn?«

»Pst!«

Sie verstummten.

Das Blätterdach über ihnen rauschte sanft und gleichmäßig wie Wellen am Strand. Unterbrochen wurde das friedliche Geräusch nur durch das gelegentliche Knarren aneinanderreibender Bambusstängel.

»Hört ihr es nicht?«, flüsterte Akiko. »Luft anhalten!«

Mit geschlossenen Mündern starrten sie einander an.

Irgendwo atmete jemand.

Der Unterricht bei ihrem bojutsu-Lehrer Sensei Kano hatte sich wieder einmal bezahlt gemacht. Mit seinen geschärften Sinnen konnte Jack die Richtung, aus der das Atemgeräusch kam, sofort bestimmen und schlich lautlos darauf zu.

Plötzlich brach Orochi keine fünf Schritte vor ihm aus dem Dickicht. Er hatte sich die ganze Zeit neben ihnen versteckt.

»Halt!«, schrie Jack. Hoch über ihm flog erschrocken ein Vogel auf.

»Verfolgt ihr ihn!«, rief Akiko. Sie selbst war dazu zu müde. »Ich passe auf die Taschen auf.«

Yamato ließ seinen Ranzen fallen und rannte Jack nach, der bereits Orochi folgte. Orochi verschwand wieder im Dickicht.

Diesmal wollte Jack sich nicht abschütteln lassen. Doch an der Stelle, an der Orochi verschwunden war, verlor er plötzlich das Gleichgewicht und fiel Hals über Kopf eine steile Böschung hinunter.

Unten angekommen, sprang er sofort wieder auf. Er stand auf einem schmalen Pfad. Wenig später erschien Yamato neben ihm. Von Jacks Schrei gewarnt, war er die Böschung hinuntergeklettert.

»Wohin ist er gerannt?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, antwortete Jack gereizt. »Ich konnte nicht einmal oben und unten auseinanderhalten.« Er streifte sich welke Blätter aus den Haaren.

»Dann gehst du in diese Richtung und ich in die andere«, entschied Yamato. »Ruf mich, sobald du ihn hast.«

Er eilte los.

Jack wollte seinem Beispiel gerade folgen, da hörte er einen Bambusstängel knacken. Er wirbelte herum.

»Wusste ich doch, dass Sie noch da sind!«, rief er.

Orochi richtete sich mithilfe seiner Krücke unsicher auf und trat aus dem Dickicht.

»Aha, du sprichst Japanisch. Gut.« Er verbeugte sich ungeschickt vor Jack und humpelte auf ihn zu. »Du wirst doch einem Krüppel nichts zuleide tun?« Demütig streckte er seine missgestaltete rechte Hand aus.

Jack musterte ihn aufmerksam. »Sie sind gar nicht lahm!«, rief er. »Und war vorhin nicht Ihre linke Hand verkrüppelt?«

Orochi grinste wieder hämisch.

»Stimmt. Aber ihr habt mir geglaubt.« Er streckte das Bein, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und öffnete die Finger der angeblich verkrüppelten Hand.

Blitzschnell zog er den Schaft seiner hölzernen Krücke auseinander. Eine gezackte stählerne Spitze kam zum Vorschein, eine tödliche Waffe.

Orochi richtete sie auf Jacks Brust und stach zu.