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Der Mönch

Akikos Abwehr brach unter Masamotos stürmischem Angriff zusammen.

Obwohl sie ihr Kurzschwert bereits an einen Herbstblattschlag verloren hatte, versuchte sie tapfer einen Gegenangriff. Doch dem herausragenden Masamoto war sie nicht gewachsen. Er drang auf sie ein, schlug ihr das Langschwert aus der Hand und ließ sein Schwert auf ihren Kopf niedergehen. Offenbar in einem Anfall geistiger Verwirrung packte Akiko sein Schwert mit den Händen.

Die Schüler, die in einer Reihe entlang der Wand der Halle des Phönix standen, erstarrten.

Akiko hielt Masamotos Schwert mit bloßen Händen fest!

»Für einen Samurai keine empfehlenswerte Verteidigung«, sagte Masamoto. Er schien von Akikos ungewöhnlicher Tat seltsamerweise nicht im Geringsten beeindruckt. »Man kann dabei leicht die Finger verlieren.«

Akiko ließ los und wirkte plötzlich verlegen. Sie nahm ihre Schwerter auf und kehrte an ihren Platz neben Jack zurück. Jack konnte nicht glauben, was er soeben mit eigenen Augen gesehen hatte. Ein Schwert mit bloßen Händen abzufangen lag weit jenseits ihrer Samuraiausbildung. Bevor er Akiko danach fragen konnte, ließ Masamoto ihn zum Übungskampf vortreten und griff sofort mit einer doppelten Schwertattacke an.

Jack fing den Schlag nach seinem Kopf im letzten Augenblick mit dem Kurzschwert ab und schlug im Gegenangriff mit dem Langschwert nach dem Hals seines Vormunds. Doch Masamoto wich ihm mühelos seitlich aus und schlug nach Jacks Brust.

Klirrend trafen ihre Schwerter aufeinander.

Ohne zu überlegen, schlug Jack mit der Schwertspitze hart auf Masamotos Klinge. Dann noch ein zweites Mal.

Klappernd fiel das Schwert zu Boden.

Die Schüler starrten Jack mit staunend aufgerissenen Augen an, nur Taro grinste stolz.

Jack brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was geschehen war.

Er hatte den legendären Schwertmeister Masamoto Takeshi entwaffnet. Er hatte einen perfekten Herbstblattschlag ausgeführt.

»Endlich!«, murmelte er fassungslos. »Ich beherrsche die Technik der beiden Himmel.«

Doch der Zweikampf war nicht vorbei. Masamoto hatte noch sein Kurzschwert.

Bevor Jack seinen Vorteil ausnützen konnte, hatte Masamoto das kurze Übungsschwert bereits anders gepackt und es auf Jack geworfen. Das Heft traf ihn schmerzhaft gegen die Brust. Er stolperte zurück, blieb mit der Ferse am Rand des Podests hängen und stürzte zu Boden.

»Du bist tot«, stellte Masamoto fest und beendete den Zweikampf.

»Aber das…«, protestierte Jack keuchend, »das… war kein Schwertkampf… Sie haben das Schwert geworfen.«

»Vom Berg zum Meer«, erwiderte Masamoto ungerührt. »Um deine doppelte Abwehr zu durchbrechen und doch noch zu siegen, musste ich die Taktik ändern und dich überrumpeln. Anders ausgedrückt, ich musste vom Berg auf das Meer wechseln. Lerne daraus, junger Samurai.«

Jack stand auf und gab Masamoto das Kurzschwert zurück.

»Ich freue mich, dass du den Herbstblattschlag jetzt auch beherrschst, aber verwechsle nicht eine einzelne Schlagtechnik mit dem Kampfstil der beiden Himmel«, fügte Masamoto streng und ohne zu lächeln hinzu.

Jack verbeugte sich zum Zeichen seiner Zustimmung. Er hatte sich von einem kurzfristigen Erfolg mitreißen lassen und es war natürlich töricht zu glauben, er beherrsche damit die ganze Technik.

»In Wirklichkeit geht es bei der Technik der beiden Himmel nicht nur um den Umgang mit zwei Schwertern«, fuhr Masamoto an die ganze Klasse gewandt fort. »Das Wesentliche dabei ist der Wille zu siegen– egal mit welchen Mitteln und Waffen. Wenn ihr das versteht, seid ihr auf dem Weg zur Meisterschaft.«

Der Schnee war geschmolzen und die morgendliche Frühjahrssonne hatte die Einwohner von Kyoto auf die Straßen gelockt. Jack und Yamato hatten sich zum Yabusame-Unterricht verspätet und drängelten hastig durch die Menge. Auf dem Marktplatz herrschte eine angespannte, gereizte Stimmung. Käufer eilten gehetzt von Stand zu Stand und deckten sich mit Vorräten ein. Monatelang hatte Ruhe geherrscht, doch Gerüchten zufolge hatte sich Kamakuras Armee jetzt in Marsch gesetzt und viele Menschen trafen für den Fall eines Krieges Vorsorge.

»Wie geht es mit der Technik der beiden Himmel voran?«, fragte Yamato.

Jack hatte nicht mit der Frage gerechnet. Yamato mied dieses Thema gewöhnlich. Trotz seiner Erfolge in den anderen Unterrichtsfächern erinnerte es ihn immer daran, dass er die Erwartungen seines Vaters nicht erfüllt hatte.

»Gut und schlecht«, antwortete Jack. »Ich habe gerade herausgefunden, dass nicht nur Geschicklichkeit, sondern auch strategisches Denken eine Rolle spielt.«

Plötzlich fuhr eine Hand aus einer kleinen Gasse und packte ihn am Arm. Jack rechnete sofort mit einem erneuten Überfall eines ronin und rief Yamato zu Hilfe. Zugleich drehte er instinktiv die Hand um und nahm den Angreifer in den Hebelgriff. Der Mann fiel auf die Knie und bat wimmernd um Gnade. Im nächsten Moment stand Yamato mit gezogenem Schwert neben ihm.

»Tötet mich nicht!«, flehte der Mann, der auf dem Boden kauerte. »Ich will euch nichts tun.«

»Was willst du dann?«, fragte Yamato.

Der Mann trug einen schmutzigen, zerschlissenen Mantel mit Kapuze. Sein Gesicht war ausgemergelt, die Augen blutunterlaufen und tief in die Höhlen eingesunken. Etwas anderes fiel freilich noch mehr auf: Er war kein Japaner.

»Ich… bin Bruder Juan de Madrid«, stammelte er mit unüberhörbar spanischem Akzent. »Ein Franziskaner von der Kirche des heiligen Franziskus in Edo. Ich habe den Jungen hier gesehen und dachte, er könnte mir helfen.«

»Inwiefern?«, fragte Jack. Warum befand der Mönch sich in einem so erbärmlichen Zustand?

»Du bist Europäer. Ich dachte, du kommst vielleicht von einem spanischen oder portugiesischen Schiff.«

»Nein, mich hat ein Schiffbruch hierherverschlagen. Ich bin Engländer.«

»Engländer!«, rief der Mönch erschrocken. Jack nickte. »Egal. In diesen schrecklichen Zeiten müssen wir uns helfen, statt einander zu bekriegen. Ich komme wie gesagt aus Edo im Norden. Ich habe dort viele Jahre gelebt und hatte eine treue Gemeinde, von der jetzt nichts mehr übrig ist… nichts…«

Tränen waren ihm in die Augen getreten.

»Komm mit zur Niten Ichi Ryu«, sagte Jack zögernd. Er kniete sich neben den Mönch. »Dort bist du sicher.«

»Nein«, protestierte der Mönch. »Niemand ist sicher. Daimyo Kamakuras Soldaten haben alle Kirchen zerstört und unsere Häuser niedergebrannt, sogar wenn Menschen darin schliefen! Die Mönche und Jesuitenpriester, die nicht im Feuer starben, wurden mit dem Schwert niedergemetzelt…«

Von seinen schrecklichen Erinnerungen überwältigt, begann der Mönch zu schluchzen.

»Und warum haben Sie überlebt?«, fragte Yamato, der sein Schwert weiter bereithielt.

»Ich weiß es nicht. Ich konnte irgendwie fliehen. Aber ich habe alles verloren bis auf die Kleider, die ich am Leib trage. Jetzt will ich mich nach Nagasaki durchschlagen. Ich muss aus diesem gottverlassenen Land verschwinden.« Der Mönch umschlang Jacks Arme. »Daimyo Kamakura und seine Armee sind in diesem Augenblick hierher unterwegs! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Du solltest auch mitkommen, sonst wirst du sicher getötet.«

Er sah sich in Panik um und wollte aufstehen, doch seine Beine gaben unter ihm nach.

»Sie müssen sich ausruhen«, sagte Jack und legte den Arm um ihn. »Wir bringen Sie zu unserem Zen-Meister Sensei Yamada. Er wird sich um Sie kümmern.«

Am folgenden Morgen verabschiedeten Sensei Yamada und Jack Bruder Juan de Madrid in aller Früh.

»Sie können gerne noch bleiben«, sagte Sensei Yamada.

»Nein, Sie waren bereits zu gütig«, antwortete der Mönch mit einer demütigen Verbeugung. »Ich danke Ihnen für das Essen und die frischen Kleider. Doch ich kann nicht bleiben, es ist zu gefährlich.« Er sah Jack beschwörend an. »Willst du wirklich nicht mitkommen?«

»Hier bei uns kann Jack-kun nichts passieren«, versicherte Sensei Yamada.

Der Mönch wandte sich zum Gehen. Jack sah ihm nach, wie er im Schatten der Häuser langsam die Straße entlangschritt. Daimyo Kamakura machte also Ernst, dachte er. Damit war zugleich alle Hoffnung dahin, den Portolan seines Vaters jemals wiederzubekommen. Gegen einen einzelnen Ninja zu kämpfen, auch wenn der Ninja Drachenauge hieß, war etwas völlig anderes als der Kampf gegen eine ganze Armee. Seine größte Sorge würde es ab sofort sein, zu überleben. Die Bedrohung rückte täglich näher.

Der Mönch verschwand um eine Ecke, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Vielleicht hätte ich doch mit ihm gehen sollen«, sagte Jack leise.

Sensei Yamada schüttelte langsam den Kopf.

»In der Höhle des Löwen bist du sicherer als auf einem Feld voller Schlangen. Auf der Straße nach Nagasaki lauern überall Gefahren. Ich bezweifle, ob der Mönch es überhaupt bis nach Kobe schafft, das nur knapp drei Tagesmärsche von hier entfernt ist. Wir leben in unsicheren Zeiten. Nur wenige werden ihn bei sich aufnehmen, viele dagegen werden ihm nach dem Leben trachten. Dich kann Masamoto-sama beschützen, Jack-kun. Sicherer als hier in der Schule bist du nirgendwo.«