17
Strafe

Ein muffiger Geruch nach faulem Stroh stieg Jack in die Nase. Sein Kopf dröhnte, er hatte einen steifen Hals und unter dem rechten Ohr spürte er eine dicke, pochende Schwellung. Er leckte sich die Lippen. Übelkeit stieg in ihm auf. Er öffnete die Augen, doch es blieb dunkel. Wie lange hatte er bewusstlos hier gelegen?

Erst jetzt bemerkte er, dass seine Entführer den Sack über seinem Kopf nicht entfernt hatten. Sein Kimono war noch feucht, also konnte nicht viel Zeit vergangen sein. Er wollte sich den Sack vom Kopf ziehen, aber die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden worden. Auch die anderen Glieder konnte er nicht bewegen. An Händen und Füßen gefesselt lag er auf einem harten Holzboden.

»Ich schlage vor, wir töten den Gaijin«, sagte ein Mann rechts von Jack. »Ihn lebend zu übergeben macht nur Umstände.«

»Stimmt«, sagte der Mann mit der heiseren Stimme. Er stand hinter Jack. »Aber lebend ist er mehr wert.«

Jack versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Er musste überlegen, wie er sich befreien konnte. Wer hatte ihn entführt? Offenbar Ninjas, die Drachenauge beauftragt hatte. Im Grunde war das eine gute Nachricht, denn dann hatte Drachenauge den Portolan noch nicht entschlüsselt. Doch Jack wollte Drachenauge nicht als Gefangener gegenübertreten, sondern ebenbürtig, mit einem Schwert in der Hand.

»Nur ein toter Gaijin ist ein guter Gaijin«, sagte ein dritter Mann links von ihm gehässig.

Die Holzdielen knarrten. Jemand näherte sich. Jack spürte eine kalte Klinge am Hals. Er war seinem Schicksal hilflos ausgeliefert.

Jack holte tief Luft, schloss die Augen und begann zu beten. Während dieser letzten Momente kamen lauter Erinnerungen in ihm hoch, Erinnerungen an seine Eltern, die kleine Jess, die Reise um die Welt, die Zeit in Japan, die Samuraischule, Masamoto, Akiko und seine Freunde. Sie alle musste er jetzt zurücklassen. Dabei wollte er doch so gerne leben.

»Halt!«, rief der Mann mit der heiseren Stimme.

Die Klinge auf Jacks Haut bewegte sich nicht.

»Daimyo Kamakura hat doch klare Anweisung gegeben, dass alle Gaijin, die in seinem Herrschaftsbereich gefunden werden, bestraft werden sollen«, sagte der Mann, der das Messer hielt.

»Ja, aber wir sind nicht in seiner Provinz– noch nicht. Kyoto gehört diesem schwachsinnigen Christenfreund Daimyo Takatomi. Außerdem ist der Gaijin kein gewöhnlicher Ausländer. Er tut so, als sei er ein Samurai! Mir wird schlecht! Wenn wir ihn Daimyo Kamakura in Edo lebend übergeben, bekommen wir die zehnfache Belohnung. Wir wären keine herrenlosen ashigaru mehr. Daimyo Kamakura würde uns zu Samurai machen!«

Die Klinge wurde zurückgezogen und Jack tat einen zittrigen Seufzer der Erleichterung. Der Aufschub mochte nur kurz sein, doch vorerst lebte er noch.

Er überdachte seine Lage neu. Seine Entführer waren keine Ninjas, sondern einfache Fußsoldaten, die etwas Besseres werden wollten. Sie hatten es auf die Belohnung abgesehen, von der Kazuki während der Zeremonie zur Eröffnung der Halle des Falken gesprochen hatte. Außerdem wusste Jack jetzt, dass er nach wie vor in Kyoto war. Vielleicht konnte er fliehen, bevor er nach Edo gebracht wurde. Die Chancen standen freilich schlecht.

»Das leuchtet mir ein«, stimmte der Mann rechts von Jack zu. »Wir dürfen ihn nicht töten. Oder jedenfalls noch nicht.«

»Also gut, aber der Erlass des Daimyo erlaubt uns, ihn auf andere Weise als durch den Tod zu bestrafen.«

Der Mann mit dem Messer zog Jack unsanft hoch, bis er kniete. Jack stöhnte. Die Fesseln an den Handgelenken schnitten ihm tief ins Fleisch.

»Er kommt zu sich. Gut. Dann hört er, was ihn erwartet.« Der Mann schien sich darüber zu freuen.

Er riss Jack den Sack vom Kopf. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit kniff Jack die Augen zusammen. Dann hatte er sich an das Licht gewöhnt und sah, dass er sich in einem kahlen Raum befand. Das einzige Fenster war ein Schlitz hoch oben an der Wand. Der Boden war mit schmutzigem Stroh bedeckt, das Dach hatte ein Loch. Die Wände bestanden aus groben Brettern, direkt vor sich sah er eine Tür.

Ein Mann stand vor ihm und bewegte mit einem hämischen Grinsen ein Messer vor seinen Augen hin und her. Er hatte ein flaches, hässliches Gesicht und eine pockennarbige Haut, außerdem schwarzblaue Ringe um die Augen und eine eingedrückte, blutverkrustete Nase, die aussah wie ein zertrampelter Pilz. Auch zwei Schneidezähne fehlten ihm. Jack hatte mit seinem Tritt offenbar ins Volle getroffen.

Freut mich, dass ich dein Gesicht verschönern konnte, dachte er mit einem zufriedenen Lächeln.

»Wenn ich mit dir fertig bin, lachst du nicht mehr, Gaijin«, knurrte die Plattnase finster. »Ich darf dich zwar nicht töten, aber du kannst dir eine Strafe aussuchen. Ich kann dich brandmarken, dir die Nase abschneiden, dir die Füße abhacken oder dich kastrieren. Für was entscheidest du dich?«

»Brandmarken geht nicht«, sagte der Mann rechts von Jack. Er war untersetzt und hatte einen kahlen Schädel und dicke, kräftige Arme.

»Warum nicht?«

»Weil wir kein Eisen und kein Feuer haben, Dummkopf.«

»Dann schneide ich ihm vielleicht die Füße ab?« Plattnase ließ das Messer an Jacks Körper nach unten wandern.

Jack unterdrückte ein Zittern. »Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, sagte er. »Ich bin der Adoptivsohn von Masamoto-sama.«

»Na und? Ich kenne keinen Masamoto.«

»Er ist der beste Schwertkämpfer von Japan und schlägt dich in Stücke, wenn du mir etwas antust.«

»Ich habe von ihm gehört«, sagte der Anführer mit der heiseren Stimme, der immer noch unsichtbar hinter Jack stand. »Er ist der Samurai, der mit zwei Schwertern kämpft, richtig?«

Jack nickte wütend. Masamotos Ruf hatte ihn schon einmal vor einigen Betrunkenen gerettet und er hoffte zu Gott, dass es auch jetzt so sein würde.

»Der Junge lügt«, sagte der Mann mit der heiseren Stimme. »Kein geachteter Samurai würde seiner Familie die Schande antun, einen Gaijin zu adoptieren. Schneide ihm seine lange Nase ab. Nase gegen Nase. Der Daimyo findet das bestimmt eine gerechte Strafe.«

Plattnase hob eifrig sein Messer. Jack wollte den Kopf wegdrehen, aber der Mann hinter ihm hielt ihn an den Haaren fest.

»Stillhalten, Gaijin! Es dauert nicht lange.«