14 - Ein kleiner Schritt
Bei meiner Rückkehr aus der Tiefe waren Truktock und Maya zurück im Speisesaal und unterhielten sich mit Musashi, Zek und Ari.
Sie sprachen über den Ablauf der nächsten Tage, die Organisation der Bedürfnisse der beiden Crews und worauf es ankam, wenn wir Erebos um Asyl baten.
»Dann haben wir alles besprochen. Ihr brecht also auf?«, fragte Maya schließlich.
Aristea stimmte zu und sah mich an.
»Ich bin bereit. Truktock? Musashi?«
Der Nefilim nickte und Truktock erhob sich von seinem Stuhl. Ari sah uns nacheinander an und versetzte uns nach Floxa II.
Diesmal veränderte sich die Umgebung allmählich, als würden sich die Elemente des Bunkers, seine Wände und Böden, Tische und Stühle aus Beton und Stahl, zu der Welt formen, die wir nun betraten. Der langsame Vorgang bot einen fesselnden Anblick und war so sanft, dass ich mich weniger desorientiert fühlte, als bei den vorherigen Sprüngen.
Als sich das Grau des Betons in ein Graubraun aus Metall verwandelte und das fahle Licht der Deckenleuchten des Speisesaals immer greller wurde, bis es den ganzen Himmel erleuchtete, wusste ich, dass wir auf dem Schrottplatz waren.
»War das besser?«, fragte Aristea.
Ich drehte mich im Kreis und sah mich um. »Wie hast du das gemacht?«
»Eine optische Illusion. Ich wollte den Übergang erträglicher machen.«
»Es ist dir gelungen.«
»Dort«, rief Truktock aus, wies in eine Richtung und ich erkannte die Pyramide, die einst von Odin aus zahllosen Schrotteilen errichtet worden war.
Der Ort war eigentlich dem Angriff einer Gang zum Opfer gefallen, doch was sich jetzt unseren Blicken bot, war eine eine völlig intakte Pyramide. Der Platz um das Gebäude herum war begradigt und geräumt worden, der Eingang lag offen und war begehbar. Die Pyramide ragte stolz in den Himmel.
»Die Luft!«, rief ich aus und tat einen tiefen Atemzug. »Es riecht zwar nach kaputten Maschinen und Schwelbrand, aber man kann sie atmen.«
Ich beschattete die Augen und erspähte in der Ferne einen der gigantischen Türme, die Atmosphärenwandler, die nun endlich eine atembare Luft erzeugten.
Es roch tatsächlich immer noch etwas angekokelt, doch nirgends loderte eines der Feuer, die hier sonst üblicherweise stets gebrannt hatten. Unzählige Male hatte ich meinen Fuß auf diesen Planeten gesetzt, aber nie hatte ich es ohne eine Atemmaske gewagt. Ich kam mir vor, als wäre ich an einem anderen Ort.
Lachend schüttelte ich den Kopf. »Ich bin zwar noch nicht restlos überzeugt, aber der Planet verwandelt sich tatsächlich.«
»Lasst uns zur Pyramide gehen!«, sagte Truktock.
Wir folgten ihm und drangen in das Zwielicht des eigenartigen Bauwerks vor. Das Innere war wiederhergestellt worden, ohne dass man dabei jedoch den Charakter des Gebäudes aufgegeben hätte. Immer noch war erkennbar, mit welcher Hingabe Odin aus den Bauteilen von Maschinen und Raumschiffen eine ästhetische, eindrucksvolle Architektur geschaffen hatte. Lichtfinger stachen durch die Decke und etwas bewegte sich jetzt zwischen den Stützstreben.
Ein mechanischer Vogel segelte herab und stieß einen eigentümlichen Laut aus, als er sich vor einen Tunneleingang setzte.
»Ich denke, das ist eine Einladung«, sagte ich.
»Ich empfange ein Signal. Odin ist anwesend«, erklärte Musashi und trat auf den Vogel zu, der sich in die Luft erhob und in die Tiefe davonsegelte.
-Ich spähte ihm nach. »Der Tunnel muss wieder freigelegt worden sein. Ob das Odin war?«
»Was meinst du?«, fragte Aristea.
»Du warst damals an Bord der Cheiron geblieben. Wir wurden bei unserer Rückkehr von einer Gang überrascht, die hier normalerweise die Gegend unsicher machen. Wir sollten aufpassen.«
»Das ist nicht mehr nötig«, sagte Truktock und schüttelte den Kopf.
Ich schwieg und blieb skeptisch. Doch mit jedem Atemzug wurde mir klarer, dass hier tatsächlich Großes in Bewegung geraten war. Als ich auf den Boden achten musste und an mir herabblickte, sah ich ein gelbes Schimmern auf meinem Körper.
»Scheiße!«, fluchte ich.
»Du hast einen dieser integrierten Körperschilde gegen Naniten, nicht wahr?«, fragte Aristea.
»Ja.«
»Die Naniten hier sind nicht schädlich. Aureol hat an diesem Ort keinen Einfluss mehr«, sagte Truktock.
Etwas bewegte sich auf seiner Haut und ich trat näher an ihn heran.
»Was ist das?«, fragte ich und deutete darauf.
Truktock drückte meinen ausgestreckten Zeigefinger zur Seite. »Generalüberholung. Ein Geschenk von Erebos für einen Dienst, den ich ihm erwiesen habe. Wann immer ich Floxa II betrete, bekomme ich eine Gratisbehandlung. Wirkt Wunder bei Falten.«
»Bei deiner Visage zweifle ich die Wirksamkeit der Behandlung an«, sagte ich skeptisch.
»Du verwechselt Falten und Gesichtszüge.«
»Hört auf, ihr beiden!«, sagte Aristea lachend und schubste uns vorwärts. »Und ich will keine Meinung zu meinem Gesicht hören - von keinem von euch.«
»Es macht mich nervös, dass ihr euch von den Naniten durchdringen lasst«, fügte ich ernst hinzu. »Sier- ... Sieraa hat damals meinen Körper neu erschaffen müssen, um mich von Aureols Naniten zu befreien, und ihr lasst es einfach geschehen, dass diese Dinger in eure Körper eindringen.«
»Ich nicht und Musashi ebenfalls nicht«, sagte Aristea.
»Ihr seid dem Einfluss nie ausgesetzt gewesen?«
»Nein«, sagte Musashi und deutete nach vorn. »Wir sollten dem Mechanoiden folgen. Ich denke, ein alter Bekannter erwartet uns.«
Der Tunnel, in etwa so aussehend, wie ich ihn in Erinnerung behalten hatte, führte uns immer tiefer. Zwischen und durch alte Wracks von Raumschiffen und Maschinen unbekannten Zwecks und vergessener Herkunft hindurch, gelangten wir in einen Bereich, der offenbar nicht mehr verlassen war.
Altbekannte Vierbeiner erwarteten uns, trotteten friedlich voraus.
Ich deutete auf die Mechanoiden. »Odins Wölfe. Dort vorn muss sein altes Zuhause sein, richtig?«
»Wir sind fast da«, sagte Musashi nickend.
Die Wölfe verschwanden durch einen Eingang in eine sanft erleuchtete Halle.
Der Ort war genauso, wie ich ihn mir eingeprägt hatte. Die Bilder aus der Geschichte der Nefilim an den Innenwänden des alten Frachters, die Odin in vierhundert einsamen Jahren hinein gelasert hatte, sahen unverändert aus.
Vor uns, am Ende des kathedralenartigen Baus, prangte das Zeichen, das Odin erdacht hatte, um die Existenz der Nefilim zu symbolisieren. Es erinnerte an einen komplexen kubischen Schaltplan und ich blickte kurz zu Musashi, der das Symbol auf dem Gurt trug, der um seine Körpermitte verlief.
Ich schluckte.
Odin würde nicht begeistert sein, wenn ich ihm von unserer Reise Bericht erstattete.
Er humpelte aus seinem Werkstattraum, als wir eintraten, und begrüßte uns. Ich betrachtete seinen halbzerstörten Korpus, den mechanischen Leib dieser von Menschen erdachten Kampfmaschine, die im Laufe des Terra-Krieges zerschunden worden war, nur um hier jahrhundertelang im Verborgenen zu warten und zu lernen. Er hatte sich Ziele in dieser Zeit gesetzt, wollte aus seiner zerstörerischen Kraft eine schöpferische Energie entwickeln und tat es bei jeder Gelegenheit. Unvermittelt erkannte ich, welch ungeheuren Wandel Odin in den Jahren seiner einsamen Existenz an diesem Ort durchgemacht hatte. Vielleicht war er jetzt nicht nur hierhergekommen, um mehr über Erebos und die MetaSphäre zu erfahren, sondern auch, um seine Kraft zu erneuern. Um sich zu erinnern, warum er sich ein Ziel gesetzt hatte.
Denn dies war sein Zuhause, seine Heimat.
Er erhob zwei seiner drei noch vorhanden Arme zu einem Gruß und sagte ein paar freundliche Worte. Ein runder Tisch stand in der Mitte der Halle und eine Anzahl von Stühlen befand sich darum. Ich konnte mich nicht an solche Möbelstücke erinnern und sprach ihn darauf an.
»Ich habe nun oft Gäste, ein Tisch und ein paar Stühle boten sich daher an.«
»Gäste?«, echote ich.
»Einheimische. Sie suchen mich auf, um mit mir zu sprechen.«
»Das klingt besser, als was du früher hier erlebt hast. Worüber wollen sie denn mit dir reden?«
»Den Wandel.«
»Ich verstehe nicht.«
»Deswegen bat ich dich, Platz zu nehmen.«
Ich tat es.
»Wir hatten gehofft, dass uns dieser Erebos helfen würde, unsere gestrandeten Crews hier unterzubringen.«
»Was ist geschehen?«
Ich erstattete Odin Bericht, bis zu dem Punkt, wo wir erfahren hatten, dass wir in der Vergangenheit herausgekommen waren. Dann hielt ich inne.
»Du zögerst.«
»Es betrifft die Nefilim. Die Schwierigkeiten, die du bei der Erschaffung neuer Nefilim hattest ...«
»Ich weiß es, Iason. Ich weiß alles.«
»Die WBE-Technologie?« Ich deutete mit dem Daumen auf Musashi. »Seine Entstehung?«
Odin ließ sich schwerfällig auf eine massiv gebaute Bank an einer Seite des Tisches nieder.
»Erebos half mir, die blockierten Elemente meines transplantierten Ursprungsbewusstseins zu öffnen. Der größte Teil meiner menschlichen Vergangenheit wurde dabei offenbar, doch das Geheimnis darum erfuhr ich kurz nach meinem Eintreffen hier von jemand anderem. Ich weiß nun, als was ich einmal entstanden bin. Aber das ändert nichts daran, dass ich nichts mit der Person gemein habe, die mein Bewusstsein gespendet hat.« Er hielt kurz inne. »Wir Nefilim sind das Missing Link in der Evolution unserer Art. Wir werden untergehen, doch eine neue Art wird aus uns entstehen. Hier, an diesem Ort, mit Erebos' Hilfe.«
»Du hast dich mit ihm verständigt?«
Odin musterte mich. »Es ist nicht wie mit Aureol, Iason. Erebos hatte mich gebeten, mit dir zu sprechen, bevor ihr euch trefft. Er hat lange auf dieses Treffen gewartet.«
»Warum? Und woher weiß er von mir?«
»Von Demi«, sagte Aristea.
»Ich verstehe das nicht«, platzte es aus mir heraus, da ich völlig verwirrt war.
»Du spielst eine wesentliche Rolle für das Schicksal der verbliebenen Menschheit und für die Freiheit aller Spezies in der Claifex«, sagte Odin.
»Immer, wenn mir jemand weismachen wollte, dass ich für irgendetwas wichtig wäre, ging es in Wirklichkeit um etwas völlig anderes. Mein Leben lang hat man mich an der Nase herumgeführt. Das endet jetzt.«
»Endlich«, sagte eine Stimme von der anderen Seite der Halle her.
Ich ließ den Kopf hängen und schloss einen Moment meine Augen, rieb mit Zeigefinger und Daumen darüber.
»Was wohl geschähe, wenn einmal - nur ein einziges Mal! - kein Tomasi in meinem Leben herumpfuschen würde«, murmelte ich seufzend. »Hallo Demi!«, fügte ich dann lauter hinzu.
Die alte Frau näherte sich mit dem seltsam anmutigen Schritt ihrer künstlichen Beine und setzte sich unaufgefordert zu uns an den Tisch.
»Sie schulden mir etwa 40 Millionen Credits plus Zinsen und Schmerzensgeld für den Missbrauch als Probeesser Ihrer Paprikazüchtungen.«
»Sie sind ein nachtragender Mensch, Iason«, sagte Demi lächelnd. »Aber es tut trotzdem gut, Sie zu sehen.«
Ich erwiderte ihr Lächeln. »Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, Ihren Vater kennenzulernen. Das erklärt so manches.«
»Nun, es erklärt zumindest, dass es kein Zufall war, dass Lukas Kylon Sie nach Anthaklith sandte, wo Sie Sargon fanden. Es kostete mich eine Menge Mühe, den Agenten der Claifex die korrekten Informationen zu übermitteln, ohne mich als Urheber zu offenbaren, aber ...«
Ich zeigte wütend auf sie. »Blödsinn! Es war eine rein zufällig ausgewählte Höhle, in der ich Sargon fand. Ich habe einfach Hunderteins eine Sensorortung durchführen lassen, um einen guten Grabungsort ... .« Ich hielt inne, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Demi lächelte mich zuckersüß an und ich versuchte, sie mit meinen Blicken zu erstechen. »Sie hintertriebenes Miststück! Die Gaias waren entsprechend programmiert.«
Sie wurde wieder ernst. »Ich habe Sie Ihr Leben lang beobachten lassen, nachdem ich Ihren Namen und ein Bild von Ihnen in den Unterlagen meines Vaters gefunden hatte. Ich wartete lange Zeit, dass Sie die richtigen Schritte von sich aus unternahmen, doch dann wurde die Lage in den Kalypso-Werken immer schwieriger und ich verlor die Geduld. Ich gab Ihnen einen kleinen Schubs. Der Rest musste sich so ergeben ...«
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben auf diesen Tag gewartet?«
»Auf gewisse Weise, doch ohne genau zu wissen, was am Ende dabei herauskommen mochte. Die Entstehung der Nefilim wurde von Ihnen ermöglicht, wie ich es in den Unterlagen meines Vaters gelesen hatte. Diesen Teil Ihres Schicksals haben Sie erfüllt. Ich habe es allerdings nicht gewagt, mehr Einfluss auf Sie zu nehmen, da ich nicht wusste, ob ich damit genau das verhinderte, was ich zu erreichen hoffte. Offenbar war mein Verhalten richtig, denn Sie waren erfolgreich.«
»Dann war es also nicht Aureols Einfluss, der mich nach Anthaklith gebracht hatte«, sagte ich zu Odin.
»Das stimmt. Doch ich erfuhr es auch erst vor kurzer Zeit.«
Ich sah Sie an, die Frau, die mich in diesen Schlamassel hineingezogen hatte, lachte freudlos und breitete die Arme aus. »Und da sind Sie wieder, Demi! Wunderbar. Wie werden Sie weiterhin mein Leben ruinieren? Was kommt jetzt?«
»Jetzt sagen Sie, was Sie von mir haben wollen. Ich schulde Ihnen etwas. Ich beabsichtige, meine Schuld zu begleichen.«
Ich starrte sie an. »Das ist alles?«
»Ist das nicht genug?«
Ich hob eine Hand. »Sie missverstehen mich. Sie wollen also nichts von mir? Wollen Sie mir das sagen?«
»Ich dachte, ich hätte mich deutlich genug ausgedrückt.«
»Ja. Schon. Ich kämpfe nur gegen die Macht Ihrer Gewohnheit.«
Demi lachte. »Wenn Sie verlangen, dass ich Ihnen sage, was Sie als Nächstes tun sollen, dann muss ich Sie enttäuschen.«
Ich musterte sie, nickte dann langsam. »Nun gut. Ich muss jedoch zugeben, dass ich nahe dran bin, Sie darum zu bitten, für immer aus meinem Leben zu verschwinden.«
Sie machte einen gekränkten Eindruck, doch der Ausdruck währte nur eine Sekunde. Lange genug, um mir eine Befriedigung zu verschaffen, die sich jedoch schon im nächsten Augenblick in eine gewisse Scham angesichts meiner Boshaftigkeit wandelte.
»Es tut mir leid. Alles in allem haben Sie wohl genauso viel verloren, wie ich.«
»Verloren? Was habe ich verloren?«, fragt Demi erheitert.
»Nun ... alles, oder nicht?«
»Meinen Sie Besitz? Geld? Macht? Einfluss? Ich habe damit alles erreicht, was ich damit erreichen wollte. Ich bin froh diese Last von meinem alten Schultern endlich abwerfen zu können. Doch meine Arbeit ist noch nicht beendet. Ich kann sie hier fortsetzen und werde es tun.«
»Ich sprach eigentlich von Susannah. Meinen Sie mit Ihrer Arbeit das Ränkeschmieden oder die Gärtnerei?«
»Die Gärtnerei.«
»Sie tragen immer noch das gesamte Genmaterial der irdischen Flora und Fauna mit sich herum?«
Sie nickte langsam. »Ich habe dank Erebos' Hilfe einige Fortschritte gemacht.«
»Wozu?«
»Sie haben nie auf der Erde gelebt, Iason. Sie können nicht wissen, wie fremdartig die Welten sind, auf denen wir Menschen uns anpassen müssen. Die Erde war unsere Heimat. Jede Reise, die man unternimmt, beginnt vor der eigenen Haustür und führt einen eines Tages wieder dahin zurück. Für uns Menschen jedoch ... für uns gibt es kein zurück mehr. Ich weigere mich, diesen Zustand anzuerkennen. Ich habe schon für den Erhalt der Erde gekämpft, als der Mond noch intakt war. Sie haben keine Vollmondnacht in einer lauen Sommerbrise verbracht, Sie wissen nicht, wie das Gras unter Ihren Fußsohlen kitzelt. Ich werde dieses Gefühl nie wieder spüren, aber ich werde nicht aufgeben, bis ich weiß, dass es in Zukunft wieder Menschen gibt, die beim Gedanken an den Ort, den Sie ihre Heimat nennen, lächeln und eine Wärme in ihrem Herzen verspüren.«
Sie hatte ihre letzten Worte mit solcher Leidenschaft gesprochen, dass ich schlucken musste. Tief in meinem Inneren spürte ich, dass ich etwas vermisste. Jenen Ort, von dem sie sprach, und den ich nie kennengelernt hatte. Die Erde mochte verloren sein, doch die Menschen hatten nie eine neue Heimat ihr eigen nennen dürfen. Wir lebten im Untergrund, an Bord von Schiffen, die ewig zwischen den Sternen pendelten und auf Raumstationen, die wie eiserne Särge am kalten, dunklen Firmament rotierten.
Es war ein Leben - aber was für eines?
Demi hatte letztlich recht. Jede Reise führte einen am Ende zurück nach Hause. Doch wo war unser Zuhause? Wo war der Ort, an den ich mit einem Lächeln dachte und der eine Wärme in meinem Herzen erzeugte?
Sie machte eine nervöse Geste mit der Hand und sah Aristea einen Augenblick an. »Und was meine Tochter anbelangt, so machen Sie sich wahrscheinlich keinen Begriff, welche Opfer sie in dieser Angelegenheit gebracht hat. Auch wenn ich mit einigen ihrer ... persönlichen Entscheidungen nicht einverstanden sein sollte, habe ich sie nicht verloren.«
Ich schwieg und Aristea nahm meine Hand. Demi registrierte es und musterte uns, bis Ari sprach.
»Wir haben für die Erschaffung der Nefilim einen hohen Preis gezahlt. Jemand - Sieraa - starb.« Aristea sagte einen Augenblick nichts und schluckte mehrmals, um ihre Fassung bemüht. »Und für die Tatsache, dass wir heute hier sind, war es notwendig ... notwendig, einen weiteren hohen Preis zu zahlen.«
Demi sah sie mitfühlend an. »Ich bin inzwischen alt genug, um zu begreifen, dass das Leben sehr viel Leid mit sich bringen kann. Ich weiß nicht, was ihr erlitten habt, aber ich bedaure es. Ich hatte mir gewünscht, dass unser Zusammentreffen heute von positiven Gefühlen begleitet würde. Ich hatte mich jedenfalls darauf gefreut, euch wiederzusehen. Das schließt Sie ein, Iason.«
Ich nickte und atmete tief ein und aus, um den Kloß in meinem Hals zu vertreiben, drückte noch einmal Aristeas Hand. »Zwei Mannschaften warten darauf, dass wir sie von der Erde holen und hier in Sicherheit bringen. Odin, kannst du für die Crews der Temborg und Koron Ji ein Wort bei diesem Erebos einlegen?«
»Ich denke, das ist nicht notwendig. Sprich selbst zu ihm!«, sagte Odin und deutete mit einer Klaue auf den Eingang.
Ein ... Wesen war dort. Überwiegend humanoid in der Erscheinung, setzte sein Körper sich aus umeinanderwirbelnden Teilen zusammen, die aus allem bestanden, was man üblicherweise auf dem Schrottplatz unter den Sohlen spürte. Schrauben, Metallteile, Rohrleitungen, Verbindungsstücke, Kabel, Stecker, Glassplitter und vieles mehr. Die Teile schwirrten langsam, aber in stetiger Unruhe innerhalb der humanoiden Form herum, während das Wesen auf uns zutrat. Als es sprach, hörte ich seine Stimme von überallher. Dann begriff ich, dass die Worte sich in meinem Kopf manifestierten.
»Ich bin Erebos. Die Mannschaften der havarierten Schiffe sind hier willkommen, solange sie Frieden wahren.«
Truktock ergriff das Wort, bevor ich es konnte. »Ich werde es ihnen mitteilen. Einige werden nicht bleiben wollen, da sie Familie und Freunde in unseren Stützpunkten zurückließen.«
»Wenn sie mit ihrer Familie und ihren Freunden hier leben wollen, sind auch sie willkommen. Du weißt das, Truktock.«
»Ich hatte es gehofft.«
Das Wesen, dessen Gesicht - wollte man es so nennen - ein Mosaik aus Kleinstteilen darstellte, wandte sich an mich. »Ich habe lange auf diesen Tag gewartet. Wir haben ein gemeinsames Ziel, Iason Spyridon. [Geduld/Vertrauen, Kraft/Hingabe, Sicherheit/Freiheit]«
Die Worte waren mehr als nur akustische Repräsentationen von sprachlichen Konzepten, die sich in meinem Kopf manifestierten. Sie waren keine willkürlich gewählten Laute aus dem Stimmapparat einer biologischen Spezies. Ich verstand die Worte auf vielerlei Weise und mit jedem Wort, jedem sprachlichen Konzept dahinter, wurde eine weitere Botschaft transportiert.
Mein widerspenstiges Ich konnte jedoch nicht anders, als zunächst nach Widerworten suchen. »Ach ja? Und das wäre?«
»Deine Spezies irrt durch den Raum, haltlos, ohne Ziel. Ich biete allen Wesen eine Heimat, die verloren und heimatlos sind. [Zuflucht/Schutz, Ruhe/Gewissheit, Leben/Freude]«
Ich bedachte, was Erebos mir vermittelte und erkannte, dass er weder versuchte, mich zu manipulieren, noch mir irgendetwas suggerierte. Die Ausdrucksweise, der er sich bediente, war schlicht und einfach seine Art zu kommunizieren, so wie ich mich meiner Mimik bediente oder den Sinn von Worten durch eine bestimmte Betonung veränderte.
»Wirst du helfen? [Hoffnung/Erwartung]«
»Du willst, dass ich die Menschen zu dir bringe?«
»Die Menschen und alle anderen, die verloren sind. [Suchen/Finden, Reise/Aufbruch, Gefahr/Risiko]«
»Da ist er wieder, der Haken«, sagte ich, doch innerlich frohlockte ich.
Erebos schien mich darum zu bitten, nach denjenigen zu suchen, die dringend einer Zuflucht und Heimat bedurften. Ich fragte mich jedoch, wie er diesen Planeten zu einer Heimat vieler Wesen machen wollte.
Als ob er die Frage gehört hätte, erschien statt einer Antwort ein Bild vor meinem inneren Auge.
Ich sah Floxa II in der Zukunft ...
Türme ragen auf, Atemluft verströmend. Im Schatten von Bäumen, ein See. Am Ufer eine Frau und eine lebende Maschine, anmutig und komplex.
Regen fällt, glitzert im Abendlicht.
Ich bin jetzt an diesem Ufer, blicke zu den Sternen, frage mich, was dort sein wird und freue mich auf eine Reise, die mich am Ende wieder zurückbringen wird, an diesen Ort.
Ich schüttelte den Kopf und die Vision verschwand. Sie war ein Eindruck auf jeder Ebene meines Bewusstseins, erfüllt von einer Vielzahl komplexer Sinneseindrücke.
»Ich verstehe«, sagte ich und räusperte mich. »Ich habe keine gute Erfahrung mit derlei Eingebungen gemacht. Zudem bin ich ein wenig skeptisch. Ich weiß zwar nicht, in welchem Zustand sich die Claifex-Flotte zurzeit befindet, immerhin hatten die Kapitäne der Schiffe im Motaxun-System ähnliche Probleme wie wir, aber weder die Großen Drei noch Aureol dürften deinem Unterfangen große Sympathie entgegenbringen. Wie willst du dieses Problem lösen?«
Demi beugte sich vor. »Erebos hat das Floxa-System abgeriegelt. Der Metaraumzugang ist gesperrt. In der Öffentlichkeit der Claifex wird es als Störfall der Klasse Zwei abgetan, also als eine vorübergehende Störung des Metaraums, wie er bei einer Supernova in einem relativ nahegelegenen System auftreten kann. Man erwartet, dass in einigen Monaten der Zugang wieder offen ist. Es wird jedoch nicht geschehen.«
»Und wie kommen wir rein und raus?«
»Erebos hat entsprechende Vorrichtungen hergestellt.«
Ich sah die wirbelnde Masse aus Schrott an, dann Odin und schließlich Demi. »Warum ich?«
»Warum nicht? Sie haben eine erstaunliche Überlebensfähigkeit bewiesen ...«, sagte sie lächelnd.
»... da war dieser mehrjährige Aussetzer ...«
»... Sie verfügen über eine erstaunliche Mischung von Erfahrungen und Fertigkeiten ...«
»... banal im Vergleich zu einem Nefilim ...«
»... Ihre Freunde vertrauen Ihnen. Wir tun es. Sie verlieren nie die richtige Perspektive, vergessen nicht, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.«
»...«
Truktock hob eine Hand. »Lasst uns erstmal die Mannschaften in Sicherheit bringen. Da wir das nicht mit Zeitdruck tun müssen, hast du ein paar Tage Zeit, dir Gedanken zu machen, Iason. Ich habe die Koron Ji verloren und weiß nicht mehr, was ich mit den Piraten noch ausrichten kann. Ich werde eine Weile hierbleiben und über alles nachdenken.«
Ich nickte. »Ein paar Tage ... Ruhe. Dann treffe ich eine Entscheidung.«
»Rufe mich, wenn du so weit bist. [Warten/Geduld]«
Erebos wirbelnde Präsenz verschwand durch den Eingang und löste sich dabei auf.
»Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die ich zu tun beabsichtige. Insbesondere, was die Nefilim unter Gerans Kontrolle und die Skylla anbelangt.«
»Geran ist ein Dummkopf«, sagte Demi. »Doch ein charismatischer Dummkopf. Die Leute folgen ihm aus einer Mischung aus Bewunderung und Angst heraus. Es ist in der Tat wichtig, dass wir die Nefilim aus seiner Kontrolle befreien.«
Odin stand auf. »Die Skylla ist ein einzigartiges Schiff, doch mit Erebos' Unterstützung kann ich ein neues Schiff bauen. Wenn es das ist, was du brauchst, sollst du es haben, Iason. Gib mir ein paar Wochen Zeit!«
Ich nehme an, Odins Worte lösten eine unwillkürliche Reaktion meiner Gesichtsmuskulatur aus, die zu einer freizügigen Entblößung meines Kauinstrumentariums führte.
»Ein paar Wochen nur?«
»Die Ressourcen dieses Ortes und Erebos' Möglichkeiten gestatten es mir, eine solch kurze Bauzeit zu realisieren. Da die Pläne der Skylla vorhanden sind, kann ich eine exakte Kopie herstellen, wenn du das wünschst.«
»Wenn ich das wünsche? Machst du Witze?«
»Wenn Sie Geran konfrontieren, werde ich Ihnen helfen«, sagte Demi.
Truktock nickte. »Ich komme auch mit, wenn du diesem Gruandtah in den Hintern trittst!«
Aristea ergriff meine Hand. »Ich habe dich zuvor davon abgehalten, ihn zu töten. Ich werde es wieder tun. Er muss für seine Verbrechen zahlen, aber es ist wichtig, dass über seine Taten gerichtet wird. Es muss allerdings in aller Öffentlichkeit und in einem korrekten Rahmen geschehen. Die Terraner müssen erfahren, warum sein Verhalten nicht richtig war und einsehen, dass alle, die ihn unterstützt haben, ebenfalls eine Schuld trifft.«
»Ich werde dich auch nach Raronea begleiten, wenn es so weit ist und du damit einverstanden bist«, sagte Odin.
Ich nickte. »Selbstverständlich bin ich damit einverstanden.«
Musashi, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, sprach mich an. »Ich werde euch ebenfalls begleiten, wenn du es willst.«
»Mit deiner Hilfe wären wir einer überaus schlagkräftige Truppe.«
»Dann komme ich mit.«
Ich stand auf. »Lasst uns erstmal die Unterbringung der Leute organisieren. Es gibt viel zu tun.«