32

 

Annes Bericht

Suzanne widersetzte sich anfangs meinem Plan. Als ich jedoch darauf beharrte, versprach sie, meine Anweisungen genauestens auszuführen. Sie begleitete mich zum Bahnhof und verabschiedete sich tief besorgt.

Am nächsten Morgen erreichte ich meinen Bestimmungsort. Ein unbekannter Mann erwartete mich und brachte mich zu einem Wagen. In der Ferne grollte Kanonendonner. Wir fuhren zu einem etwas baufälligen Haus am Stadtrand. Der Mann führte mich durch eine schäbige Halle und öffnete eine Tür.

«Die junge Dame, die Mr Harry Rayburn zu sehen wünscht», meldete er mich an und grinste.

Ich trat in einen spärlich möblierten Raum. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann und schrieb. Er blickte auf.

«Du liebe Zeit», sagte er, «das ist doch Miss Beddingfeld!»

«Verzeihen Sie bitte die Frage», sagte ich kühl, «aber soll ich Sie nun mit ‹Reverend Chichester› oder mit ‹Miss Pettigrew› anreden?»

«Wie es Ihnen beliebt. Ich habe allerdings gerade meine Unterröcke ausgezogen. Wollen Sie nicht Platz nehmen?»

Ruhig zog ich einen Stuhl heran.

«Sie verstehen es wirklich großartig, in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen», sagte ich anerkennend. «Solange Sie Miss Pettigrew spielten, hatte ich Sie nie im Verdacht, nicht einmal damals in Kapstadt, als Sie vor Schreck über mein Erscheinen im Zug Ihren Bleistift zerbrachen.»

Auch diesmal hielt er wieder einen Bleistift in der Hand und klopfte damit ärgerlich auf den Tisch.

«Das ist alles gut und schön, Miss Beddingfeld, doch wir müssen zum Geschäft kommen. Vielleicht ahnen Sie bereits, weshalb wir Sie unbedingt hier haben wollten.»

«Ich muss schon um Entschuldigung bitten», sagte ich liebenswürdig, «aber ich spreche über Geschäfte prinzipiell nur mit dem Chef. Ich denke gar nicht daran, mit Untergebenen zu verhandeln. Sie würden sich viel Ärger ersparen, wenn Sie mich gleich zu Sir Eustace Pedler führen würden.»

«Zu…?» Er war sprachlos.

«Ja», wiederholte ich, «zu Sir Eustace Pedler.»

Er eilte aus dem Zimmer. Als er zurückkehrte, hatte sich sein Ton wesentlich geändert.

«Wollen Sie bitte mit mir kommen, Miss Beddingfeld?»

Ich folgte ihm die Treppe hinauf. Er klopfte an eine Tür, worauf ein kurzes «Herein!», erscholl und ich gelassen eintrat.

Sir Eustace Pedler sprang auf, um mich herzlich und lächelnd wie immer zu begrüßen.

«Miss Anne – wirklich, ich freue mich, Sie zu sehen.» Warm drückte er mir die Hand. «Setzen Sie sich bitte. Hat Sie die Reise nicht ermüdet?»

Er nahm mir gegenüber Platz, immer noch strahlend und lächelnd. Das verwirrte mich einigermaßen, denn er wirkte so vollkommen natürlich und ungezwungen.

«Sehr richtig von Ihnen, dass Sie verlangten, direkt zu mir geführt zu werden», sagte er munter. «Minks ist ein Narr – ein ganz guter Schauspieler, aber trotzdem ein Narr. Das war Minks, den Sie eben sahen.»

«Wirklich?», erwiderte ich schwach.

«Und nun lassen Sie uns Tatsachen besprechen, meine Liebe», fuhr er fort. «Seit wann wissen Sie, dass ich der ‹Colonel› bin?»

«Leider erst seit dem Moment, da mir Mr Pagett in aller Harmlosigkeit verriet, dass er Sie in Marlow sah zu einer Zeit, als Sie eigentlich an der Riviera sein sollten.»

«Ja, und dem Trottel ist nicht mal aufgegangen, was das zu bedeuten hatte. Alle seine Gedanken kreisten nur darum, ob ich ihn gesehen hätte. Keinen Augenblick überlegte er, was ich eigentlich in Marlow zu suchen hatte. Das Ganze war wirklich großes Pech für mich, und dabei war alles so sorgfältig geplant! Ich hatte ihn nach Florenz geschickt und im Hotel hinterlassen, dass ich für einen oder zwei Tage nach Nizza fahren würde. Und als der Mord entdeckt wurde, befand ich mich längst an der Riviera, ohne dass auch nur ein Mensch ahnte, dass ich nicht die ganze Zeit dort war.»

Immer noch sprach er vollkommen ungezwungen. Ich musste mich in den Arm kneifen, um zu merken, dass ich nicht bloß träumte – dass der Mann mir gegenüber wirklich und wahrhaftig der lang gesuchte Verbrecher war.

Ich ließ die Geschehnisse noch einmal an mir vorüberziehen. «Sie waren es also», sagte ich langsam, «der mich auf der Kilmorden über Bord zu werfen versuchte. Und Ihnen ist Pagett gefolgt.»

Er zuckte mit den Schultern. «Es tut mir Leid, meine Liebe, wirklich sehr Leid! Ich habe Sie immer gern gemocht, aber Sie sind mir überall in den Weg getreten. Ich konnte Sie doch nicht meine ganzen Pläne durchkreuzen lassen.»

«Großartig haben Sie das in jener Nacht an den Victoriafällen gemacht», sagte ich. «Ich hätte jeden Eid darauf geschworen, dass Sie im Hotel beim Diktat waren, als ich mich hinausstahl.»

«Ja, Minks hatte großen Erfolg als Miss Pettigrew, und außerdem ist er ein vorzüglicher Stimmenimitator. Meine Stimme hat er jedenfalls ausgezeichnet getroffen.»

«Eines möchte ich gern wissen: Wie haben Sie es fertig gebracht, dass Pagett ausgerechnet Miss Pettigrew engagierte?»

«Oh, das war ganz einfach, sie passte Pagett auf dem Korridor der Handelskammer ab, machte ihm weis, dass ich vor ein paar Minuten dort angerufen hätte und dass man sie für die Stelle ausgewählt habe. Pagett schluckte den Köder.»

«Sie sind sehr offen zu mir», sagte ich und sah ihn scharf an.

«Es besteht nicht der geringste Grund für mich, es nicht zu sein.»

Sein Ton missfiel mir sehr.

«Anscheinend glauben Sie fest an den Erfolg Ihrer Revolution? Sonst hätten Sie nicht alle Brücken hinter sich abgebrochen.»

«Für eine so kluge junge Dame ist das eine sehr dumme Bemerkung. Nein, mein liebes Kind, ich glaube nicht an diese Revolution. Ich gebe ihr höchstens noch ein paar Tage, dann wird sie schmählich verpuffen und im Sande verlaufen.»

«Also ein Misserfolg für Sie?», fragte ich spöttisch.

«Sie sind wie alle Frauen: vom Geschäft keine Ahnung. Meine Aufgabe war es, Waffen und Sprengstoffe zu liefern, und ich versichere Ihnen, ich bin gut dafür bezahlt worden. Außerdem sollte ich gewisse Personen bis zum Halse belasten, und auch das habe ich erfolgreich durchgeführt. Im Übrigen ließ ich mir meine Bezahlung natürlich im Voraus anweisen. Ich bin in der Tat sehr überlegt vorgegangen, denn ich gedenke, mich nach diesem letzten Coup endgültig vom Geschäft zurückzuziehen.»

«Und was geschieht mit mir?», fragte ich.

«Das ist eine gute Frage», sagte Sir Eustace sanft. «Was geschieht mit Ihnen? Der einfachste Weg – und für mich der angenehmste – wäre, Sie zu heiraten. Eine Frau kann, wie Sie wissen, nicht gegen ihren Ehegatten aussagen. Sehen Sie mich bitte nicht so böse an. Dieser Plan sagt Ihnen also nicht zu?»

«Nein!»

«Schade, ewig schade! Sie hätten eine so entzückende Lady Pedler abgegeben. Die anderen Möglichkeiten sind leider recht grausam.»

Ich fühlte ein leises Kribbeln auf dem Rücken. Natürlich hatte ich genau gewusst, welch großes Risiko ich einging. Würde alles so verlaufen, wie ich es geplant hatte, oder würde ich scheitern?

«Ich habe tatsächlich eine gewisse Schwäche für Sie», fuhr Sir Eustace fort, «und würde nur ungern zum Äußersten greifen. Ich bin nämlich ein gutmütiger Mensch, solange ich nicht bedroht werde. Aber denken Sie an Nadina. Auch Nadina wusste zu viel. Nadina hat mich bedroht und verraten, als ich kurz vor dem Gipfel meines Erfolgs stand. Erst wenn sie tot war und die Diamanten sich in meiner Hand befanden, durfte ich mich wieder sicher fühlen.

Aber leider habe ich die Sache selber verpfuscht. Dieser Idiot von Pagett mit seinen vier Kindern! Ich hatte seit Jahren das Gefühl, dass es besser wäre, ihn los zu sein, aber ich konnte mich nie entschließen, ihn zu entlassen. Für diese meine Gutmütigkeit wurde ich nun gestraft.

Doch ich bin schon wieder abgeschweift. Kommen wir zur Hauptfrage zurück, nämlich was mit Ihnen geschehen soll. Wie gesagt, ich würde höchst ungern… Am besten, Sie erzählen mir Ihre ganze Geschichte von Anfang an, aber bitte die Wahrheit!»

Es kam mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes zu sagen, denn ich hatte einen gewaltigen Respekt vor seiner Schlauheit. Ich erzählte ihm alles bis zu meiner Rettung durch Harry. Als ich geendet hatte, nickte er beifällig.

«Ihr Bericht war bewundernswert klar, aber eines haben Sie vergessen: Wo befinden sich die Diamanten jetzt?»

«Harry Rayburn hat sie», sagte ich und beobachtete ihn genau. Sein Gesicht blieb gleichmütig.

«Hm – ich brauche sie aber.»

«Ich sehe nicht recht, wie sie in Ihren Besitz gelangen könnten, Sir Eustace», erwiderte ich.

«Nein? Da bin ich aber anderer Meinung. Ich möchte Sie nicht erschrecken, doch ich gebe Ihnen zu bedenken, dass es hier keineswegs auffallen wird, wenn man ein totes Mädchen findet. Einer meiner Männer ist Fachmann auf diesem Gebiet. Aber Sie sind doch eine vernünftige junge Dame. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Setzen Sie sich an den Schreibtisch, und senden Sie Harry Rayburn ein paar Worte des Inhalts, dass er sich hier mit Ihnen treffen soll und die Steine mitbringt…»

«Ich werde nichts dergleichen tun!», rief ich mit gespielter Empörung.

«Ich schlage Ihnen einen Tauschhandel vor: die Diamanten gegen Ihr Leben. Und eines müssen Sie dabei ganz klar sehen: Ihr Leben befindet sich völlig in meiner Gewalt.»

«Und Harry?»

«Ich bin viel zu weichherzig, um zwei junge Liebende zu trennen. Auch er soll frei ausgehen, natürlich unter der Bedingung, dass Sie beide nie mehr meinen Weg kreuzen.»

«Was für eine Garantie habe ich denn, dass Sie Ihr Wort halten werden?»

«Überhaupt keine, meine Liebe. Sie müssen sich einfach auf mein Versprechen verlassen. Doch vielleicht ziehen Sie einen heroischen Tod vor?»

Ich tat so, als ginge ich nur ungern auf seinen Vorschlag ein. Erst allmählich gab ich seinen schmeichlerischen Worten nach und schrieb schließlich nach seinem Diktat:

 

Lieber Harry,

ich habe eine Möglichkeit entdeckt, deine völlige Unschuld zu beweisen. Dazu musst du Folgendes tun: Geh in Agrasatos Antiquitätengeschäft und verlange dort ‹etwas ganz Besonderes für eine spezielle Gelegenheit› zu sehen. Der Besitzer wird dich sogleich in das Hinterzimmer führen. Dort wartet ein Bote, der dich zu mir bringen wird. Mach alles, was er dir sagt, und vergiss nicht, unbedingt die Diamanten mitzubringen. Doch vor allem: Kein Wort darüber zu irgendeinem Menschen!

 

Sir Eustace streckte seine Hand nach dem Brief aus und las ihn aufmerksam durch. Dann drückte er auf einen Knopf an seinem Schreibtisch. Chichester/Pettigrew alias Minks kam herein.

«Dieser Brief ist sofort zu überbringen.»

«Sehr wohl, Colonel.»

Minks schaute auf die Adresse. Sir Eustace beobachtete ihn.

«Ein Freund von Ihnen, wie es scheint?»

«Von mir?» Minks blickte verwirrt auf.

«Hatten Sie nicht gestern eine längere Unterredung mit ihm?»

«Ein Mann folgte mir und wollte Verschiedenes über Sie und über Colonel Race wissen. Ich gab ihm natürlich falsche Auskünfte.»

«Ausgezeichnet, mein lieber Freund, ganz ausgezeichnet», sagte Sir Eustace. «Ich habe mich geirrt.»

Als Chichester/Pettigrew hinausging, sah ich ihn kurz an. Er war kreideweiß, und sein Blick verriet tödliche Angst. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, hob Sir Eustace den Telefonhörer ab und sagte kurz: «Sind Sie am Apparat, Schwart? Minks ist unter Beobachtung zu stellen; er darf das Haus ohne strikten Befehl von mir nicht verlassen.»

Er legte den Hörer wieder auf und klopfte nachdenklich mit den Fingern auf den Tisch.

«Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Sir Eustace?»

«Aber gewiss, meine Liebe! Ich muss Ihnen das Kompliment machen, dass Sie ausgezeichnete Nerven besitzen. In der Lage, in der die meisten Mädchen jammern und betteln würden, sind Sie imstande, ein gelassenes, sachliches Interesse zu zeigen.»

«Weshalb haben Sie Harry Rayburn als Sekretär angenommen, statt ihn sofort der Polizei zu übergeben?»

«Ich wollte doch diese verfluchten Diamanten haben! Nadina, dieser kleine Satan, hat Ihren Harry gegen mich ausgespielt. Sie drohte mir, ihm die Steine zu verkaufen, wenn ich ihr nicht einen enormen Preis dafür bezahlte. Damals habe ich einen zweiten Fehler begangen: Ich war überzeugt, dass sie die Diamanten bei sich habe. Aber sie war zu schlau dazu. Dann kam auch Carton, ihr Mann, ums Leben, und ich hatte keine Ahnung mehr, wo sich die Steine befinden könnten. Doch ich hatte bei Nadina die Abschrift eines Telegramms gefunden, das ihr jemand von Bord der Kilmorden geschickt hatte und das die Worte siebzehn eins zweiundzwanzig enthielt. Ich vermutete, dass es sich um eine Verabredung mit Rayburn handle, und fand meine Ansicht bestätigt, als er alles versuchte, um mit der Kilmorden zurückzufahren. Daher gab ich mir den Anschein, als würde ich seinen Worten glauben, und nahm ihn als zweiten Sekretär mit. Ich hoffte, durch ihn zu dem Versteck zu gelangen. Dann entdeckte ich Minks auf dem Schiff, der sein eigenes Spiel versuchte und mir dadurch in die Quere kam. Das habe ich rasch abgestellt, und er kroch ganz brav zu Kreuze. Es war sehr unangenehm für mich, dass ich mir die Kabine siebzehn nicht sichern konnte. Und außerdem tauchten plötzlich Sie auf, und ich wusste Sie nirgends unterzubringen. Als Rayburn in der Nacht vom Zweiundzwanzigsten seine Kabine verließ, um die Verabredung einzuhalten, ist ihm Minks auf meinen Befehl gefolgt. Doch er hat die Sache natürlich gründlich vermasselt.»

«Wieso aber stand in dem Telegramm siebzehn statt einundsiebzig?»

«Ich habe darüber nachgedacht. Es kann sich nur um einen Fehler des Schiffstelegrafisten handeln.»

«Was hat Colonel Race mit der Sache zu tun?»

«Ja, das war ein ganz schöner Schock für mich. Als Pagett mir erzählte, er sei ein höheres Tier im Geheimdienst, da lief es mir eiskalt über den Rücken. Ich erinnerte mich, dass er während des Kriegs in Paris hinter Nadina her war – und jetzt schien er mich selbst zu beargwöhnen. Und dann seine Art, sich an meine Fersen zu heften! Er ist unzweifelhaft ein stilles Wasser.»

Ein leises Summen ertönte. Sir Eustace ergriff den Hörer und lauschte eine Weile, ehe er antwortete: «Schön, ich werde sofort mit ihm reden.»

«Entschuldigen Sie mich, Miss Anne», wandte er sich an mich, «eine kleine geschäftliche Besprechung. Ich werde Sie inzwischen in Ihr Zimmer führen.»

Er brachte mich in einen kleinen, schäbigen Raum, ein junger Kaffer trug meinen Handkoffer, und Sir Eustace zog sich zurück – das Vorbild eines höflichen Gastgebers. Eine Kanne mit heißem Wasser stand im Waschbecken. Ich packte mein Handtuch und den Toilettenbeutel aus, um mich etwas zu erfrischen. Im Beutel fühlte ich einen harten Gegenstand, der nicht hineingehörte. Zu meiner größten Überraschung zog ich einen kleinen, handlichen Revolver heraus, der sich ganz bestimmt in Kimberley noch nicht dort befunden hatte. Er schien geladen zu sein.

Mit einem Gefühl der Beruhigung wog ich ihn in der Hand. In einem Haus wie diesem war eine solche Waffe unschätzbar. Doch wo sollte ich sie verstecken? Schließlich schob ich sie in meinen Strumpf. Es sah zwar hässlich aus, und ich befürchtete jeden Moment, der Revolver könnte losgehen, aber das war die einzige Stelle, wo ich ihn unterbringen konnte.