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Johannesburg, den 6. März

Ich habe unendlich viele Ausreden erfunden, um Pagett in Kapstadt zurückzuhalten. Schließlich ist meine Einbildungskraft versiegt. Morgen kommt er her, um wie ein treuer Hund an der Seite seines Herrn zu sterben. Und dabei bin ich während seiner Abwesenheit mit meinen Erinnerungen eines Politikers so schön vorwärts gekommen.

Heute Morgen interviewte mich ein hoher Regierungsbeamter. Er zeigte sich zugleich höflich, überredend und geheimnisvoll. Bereits zu Beginn sprach er von meiner exponierten Stellung und meiner Wichtigkeit, um zu betonen, dass es besser für mich wäre, so schnell wie möglich nach Pretoria abzureisen. Er würde mir gern dabei behilflich sein.

«Sie erwarten also hier größere Schwierigkeiten?», fragte ich.

Seine Antwort war so gewunden, dass sich nichts daraus entnehmen ließ. Und das bestärkte mich in meiner Annahme. Ich bemerkte höflich, dass seine Regierung dem Streik leider zu lange zugesehen habe, ohne einzugreifen.

«Es sind ja gar nicht die Streikenden allein», verteidigte er sich. «Hinter ihnen ist eine ganze Organisation am Werk. Plötzlich sind Waffen und Munition in Mengen vorhanden. Wir sind in den Besitz von Dokumenten gelangt, die Licht auf die Methoden werfen, wie sie ins Land kommen konnten. Ein regelrechter Kode wurde verwendet: Kartoffeln bedeutet Sprengstoffe, Kohl Gewehre, und so geht es weiter, alle Waffen sind mit dem Namen eines Gemüses bezeichnet.»

«Das ist höchst interessant», erwiderte ich.

«Mehr als das, Sir Eustace, weit mehr als das! Wir haben sogar Grund zu der Annahme, dass der Mann, der diese ganzen Unruhen angestiftet hat – der Spiritus Rector sozusagen –, zurzeit in Johannesburg weilt.»

Er starrte mich so lange an, dass ich beinahe den Eindruck gewann, er halte mich für diesen Staatsverbrecher. Kalter Schweiß brach mir bei dem Gedanken aus, und ich begann meine Neugier zu verwünschen, die mich in diesem dramatischen Augenblick nach Johannesburg geführt hatte.

Doch dann fuhr er fort: «Momentan verkehren keine Züge zwischen Johannesburg und Pretoria, aber ich könnte Ihnen einen Privatwagen zur Verfügung stellen. Und für den Fall, dass man Sie unterwegs anhalten sollte, würde ich Ihnen zwei Pässe ausstellen, den einen von der Regierung der Südafrikanischen Union, den anderen mit einer offiziellen Bestätigung, dass Sie ein englischer Tourist sind, der mit der Union nicht das Geringste zu schaffen hat.»

«Mit anderen Worten, einen für Ihre Regierungsleute, den anderen für die Streikenden?»

«Genau so, Sir Eustace.»

Der Vorschlag sagte mir gar nicht zu – ich weiß, was in solchen Fällen nur allzuleicht geschieht. Im kritischen Moment wird man verwirrt und bringt alles durcheinander. Ich würde bestimmt den falschen Pass den falschen Leuten aushändigen und schließlich entweder von einem blutdürstigen Rebellen oder von einem Vertreter des Rechts kurzerhand erschossen werden. Außerdem, was soll ich in Pretoria? Die Regierungsgebäude bewundern und das Echo der Zeitungen über die Schießereien in Johannesburg studieren? Gott weiß, wie lange ich dort eingepfercht wäre. Die Eisenbahnschienen sind bereits in die Luft gesprengt, wie ich gehört habe. Und über die Stadt selbst ist seit zwei Tagen der Ausnahmezustand verhängt worden.

«Aber, mein lieber Freund», wandte ich ein, «Sie sind sich nicht klar darüber, dass ich eigens hierher gekommen bin, um die politischen Verhältnisse zu studieren. Wie zum Teufel kann ich die Sache von Pretoria aus verfolgen? Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfsbereitschaft, aber Sie brauchen sich wirklich nicht um mich zu sorgen.»

«Ich muss Sie warnen, Sir Eustace, die Lebensmittel werden knapp.»

«Etwas fasten wird meiner Figur gut tun.»

Wir wurden durch einen Boten unterbrochen, der mir ein Telegramm aushändigte. Ich las mit Verblüffung: «Anne bei mir in Kimberley – Suzanne Blair.»

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nie ernstlich daran geglaubt hatte, Anne Beddingfeld sei umgekommen. Das Mädchen ist ein Stehaufmännchen, sie hat ein ganz besonderes Geschick, lächelnd wiederaufzutauchen, als ob nichts geschehen wäre. Ich verstehe immer noch nicht, weshalb sie mitten in der Nacht das Hotel verließ und wie sie überhaupt nach Kimberley gelangte. Jedenfalls fuhr zu dieser Zeit kein Zug. Sie muss ein Paar Engelsflügel besessen haben. Und wie ich sie kenne, wird sie nicht daran denken, die Sache aufzuklären – wenigstens mir gegenüber nicht. Gegen mich hüllt sich alles in Schweigen, ich bin immer nur aufs Raten angewiesen. Und das wird auf die Dauer langweilig.

Nun gut, sie ist also wiederaufgetaucht. Ich faltete das Telegramm zusammen und konnte schließlich auch den Regierungsbeamten loswerden. Es sagt mir nicht besonders zu, hungern zu müssen, aber um meine persönliche Sicherheit bin ich nicht besorgt. General Smuts wird mit diesem Revolutiönchen schon fertig werden. Doch ich würde viel darum geben, jetzt eine Flasche Whisky zu bekommen! Hoffentlich ist Pagett gescheit genug, morgen eine mitzubringen.

Ich setzte meinen Hut auf und ging aus, um ein paar kleine Andenken zu kaufen. Die Antiquitätengeschäfte in Johannesburg führen recht originelle Sachen. Ich blieb an einem Schaufenster stehen und betrachtete die Auslage, als ein Mann herauskam. Zu meiner Überraschung erkannte ich in ihm Race.

Ich kann nicht behaupten, dass er glücklich schien, mich zu sehen. Er machte im Gegenteil ein recht verstörtes Gesicht, aber ich bestand darauf, dass er mich zum Hotel zurückbegleitete. Es ist etwas eintönig, wenn man immer nur Miss Pettigrew zur Unterhaltung hat.

«Ich hatte keine Ahnung, dass Sie in Johannesburg sind», sagte ich. «Wann sind Sie eingetroffen?»

«Gestern Abend.»

«Und wo wohnen Sie?»

«Bei Freunden.»

Er spielte wieder einmal den großen Schweiger, und meine Frage schien ihn in Verlegenheit zu bringen.

Als wir im Hotel waren, sagte ich: «Sie werden wohl bereits gehört haben, dass Miss Beddingfeld wiederaufgetaucht und höchst lebendig ist?»

Er nickte.

«Sie hat uns allen einen tüchtigen Schrecken eingejagt», fuhr ich fort. «Wohin zum Teufel ist sie eigentlich in jener Nacht verschwunden?»

«Sie war die ganze Zeit auf der Insel versteckt.»

«Auf welcher Insel? Doch nicht etwa bei diesem jungen Mann?»

«Doch.»

«Das gehört sich einfach nicht! Mein guter Pagett wird sehr schockiert sein. Weiß man, wer dieser Bursche ist?»

«Ich vermute, es handelt sich dabei um einen jungen Mann, den wir alle sehr gern in die Finger bekämen.»

«Meinen Sie etwa…?», rief ich in steigender Erregung.

Er nickte.

«Harry Rayburn alias Harry Lucas, wie er wirklich heißt. Einmal ist er uns durch die Lappen gegangen, aber diesmal soll er uns nicht entkommen.»

«Du liebe Zeit!», murmelte ich.

«Es ist nicht anzunehmen, dass das Mädchen seine Komplizin ist. Bei ihr handelt es sich höchstwahrscheinlich nur um eine Liebesgeschichte.»

Ich war immer der Meinung gewesen, Race sei selbst in das Mädchen verliebt. Die Art, wie er die letzten Worte sagte, bestärkte mich darin.

«Sie ist nach Beira gefahren», fuhr er hastig fort.

«Tatsächlich?» Ich blickte ihn erstaunt an. «Woher wissen Sie das?»

«Sie schrieb mir ein paar Zeilen von Bulawajo aus, in denen sie mir mitteilte, sie fahre direkt nach England zurück. Das Beste, was sie tun kann, die Arme.»

«Ich glaube nicht recht daran, dass sie in Beira ist», erwiderte ich nachdenklich.

«Als sie mir schrieb, befand sie sich auf dem Weg dorthin.»

Ich war sehr verblüfft. Irgendetwas lag in der Luft. Ohne zu überlegen, dass Anne wahrscheinlich einen guten Grund für ihre Täuschungsmanöver besaß, zog ich das Telegramm aus der Tasche und reichte es Race.

«Wie erklären Sie sich dann das?», fragte ich.

«Beide Damen in Kimberley», sagte Race kopfschüttelnd. «Was tun sie dort?»

«Ja, das frage ich mich auch. Ich hätte eher angenommen, dass Miss Anne schleunigst hierher nach Johannesburg käme, um aus erster Hand Berichte über die Revolte ans Daily Budget zu liefern.»

«Kimberley!», wiederholte er. «Dort gibt es überhaupt nichts zu sehen – in den Minen wird nicht gearbeitet.»

Er ging noch immer kopfschüttelnd davon. Ich hatte ihm anscheinend etwas zum Nachdenken aufgegeben.

Kaum war er fort, erschien mein Regierungsbeamter wieder auf dem Plan.

«Verzeihen Sie, wenn ich Sie nochmals störe, Sir Eustace», entschuldigte er sich. «Aber ich muss Ihnen leider noch eine kleine Frage stellen.»

«Fragen Sie, fragen Sie ruhig, mein Freund», sagte ich herzlich.

«Es betrifft Ihre Sekretärin…»

«Miss Pettigrew?», rief ich erstaunt.

«Jawohl, Sir Eustace. Man hat sie gesehen, als sie aus Agrasatos Antiquitätengeschäft kam und…»

«Du lieber Himmel», unterbrach ich ihn, «ich selbst wollte heute Nachmittag ebenfalls bei Agrasato einkaufen. Sie hätten also auch mich dort entdecken können.»

Anscheinend kann man in Johannesburg nicht den harmlosesten Schritt tun, ohne bespitzelt zu werden.

«Sie ist aber mehr als einmal dort gesehen worden, und zwar unter recht eigenartigen Umständen. Ich möchte Ihnen im Vertrauen sagen, Sir Eustace, dass gerade dieses Geschäft im Verdacht steht, ein geheimer Treffpunkt der Organisation zu sein, die hinter der Rebellion steckt. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie mir genauere Auskünfte über Ihre Sekretärin geben könnten. Auf welche Weise ist sie in Ihre Dienste gekommen?»

«Sie wurde mir durch Ihre eigene Regierung in Kapstadt empfohlen», sagte ich kalt.

Er fiel beinahe in Ohnmacht.