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Der Rest der Nacht verlief ruhig. Ich frühstückte im Bett und stand spät auf. Mrs Blair winkte mir zu, als ich an Deck kam.

«Guten Morgen, kleine Zigeunerin. Setzen Sie sich hier neben mich. Erzählen Sie mir etwas über sich. Weshalb fahren Sie nach Südafrika?»

Ich erzählte ihr etwas über Papas Lebensaufgabe.

«So sind Sie also die Tochter von Charles Beddingfeld? Wusste ich doch gleich, dass Sie nicht nur eine kleine Landpomeranze sind. Wollen Sie nach Broken Hill, um weitere Schädel auszubuddeln?»

«Vielleicht», sagte ich vorsichtig, «ich habe jedoch auch noch andere Pläne.»

«Kleine Geheimniskrämerin! Aber Sie sehen heute wirklich müde aus. Haben Sie schlecht geschlafen? Ich bin an Bord immer das reinste Murmeltier, könnte zwanzig Stunden ohne Unterbrechung schlafen.» Sie gähnte und sah wie ein kleines, müdes Kätzchen aus. «Irgendein Trottel von Steward hat mich heute mitten in der Nacht aufgeweckt, um mir meinen verlorenen Film wiederzubringen. Und er hat es auf höchst melodramatische Art getan: Streckte seinen Arm durch den Ventilator und ließ den Film mitten auf meinen Magen fallen. Ich bin aufgeschreckt und habe zuerst geglaubt, es sei eine Bombe.»

«Da kommt Ihr Colonel», sagte ich, als sich Colonel Race an Deck zeigte.

«Er ist keineswegs mein Colonel. In Wirklichkeit bewundert er nur Sie. Laufen Sie also nicht davon, Zigeunerin!»

«Ich will nur schnell einen Schal für meinen Kopf holen, damit die Haare nicht so flattern.»

Und schon war ich weg. Aus irgendeinem unklaren Grund fühlte ich mich in Gesellschaft von Colonel Race bedrückt. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die mich einschüchterten.

Ich ging also in meine Kabine, um etwas Geeignetes für meine widerspenstigen Locken zu finden. Ordentlich, wie ich bin, hatte ich meine Sachen fein säuberlich in die Schubladen gelegt. Als ich jetzt eine öffnete, sah ich sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Ich zog die anderen auf – überall war es dasselbe. Jemand musste in meiner Abwesenheit alle meine Sachen hastig durchstöbert haben!

Gedankenvoll setzte ich mich aufs Bett. Wer mochte das getan haben – und warum? Hatte jemand nach meinem kostbaren Zettel mit den gekritzelten Ziffern gesucht? Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. Das schien mir zu weit hergeholt, denn niemand hier konnte davon wissen. Um was aber handelte es sich dann?

Ich musste überlegen. Die Ereignisse der letzten Nacht waren zwar aufregend, doch keineswegs aufschlussreich gewesen. Wer war eigentlich der junge Mann, der in meine Kabine gestürzt kam? Ich hatte ihn bisher weder an Deck noch beim Essen gesehen. Gehörte er zur Schiffsmannschaft, oder war er ein Passagier? Wer hatte ihm den Dolchstich versetzt? Und warum? Weshalb um alles in der Welt spielte Kabine siebzehn eine so wichtige Rolle? All das war sehr geheimnisvoll, und eines schien sicher: Auf der Kilmorden Castle gingen seltsame Dinge vor.

Ich zählte an den Fingern ab, welche Personen mir fragwürdig erschienen.

Meinen nächtlichen Besucher rechnete ich nicht dazu, obgleich ich mir vornahm, so schnell wie möglich herauszufinden, wer er war. Auf drei Passagiere jedoch wollte ich ein wachsames Auge halten:

 

  1. Sir Eustace Pedler. Er war der Eigentümer des Hauses zur Mühle, und sein Auftauchen hier an Bord mochte mehr als bloßer Zufall sein.
  2. Mr Pagett, sein unheimlicher Sekretär, der sich so sehr um die Kabine siebzehn bemüht hatte. (Wichtig: Herausfinden, ob er Sir Eustace nach Cannes begleitet hatte!)
  3. Reverend Edward Chichester. Gegen ihn konnte ich seine Halsstarrigkeit anführen, mit der er sich in den Besitz meiner Kabine bringen wollte. Das mochte aber auch nur ein Charakterzug von ihm sein. Dickköpfige Menschen benehmen sich oft merkwürdig.

 

Eine kleine Unterhaltung mit dem Reverend konnte nichts schaden. Rasch band ich mir ein Tuch um den Kopf und ging wieder an Deck, voller Unternehmungsgeist. Ich hatte Glück. Reverend Chichester lehnte an der Reling und trank eine Bouillon. Ich ging auf ihn zu.

«Ich hoffe, Sie haben mir unseren kleinen Streit wegen Kabine siebzehn vergeben», sagte ich mit meinem liebenswürdigsten Lächeln.

«Langes Grollen halte ich für eine unchristliche Eigenschaft», erwiderte er kalt. «Aber der Zahlmeister hatte mir die Kabine nun einmal versprochen.»

«Zahlmeister sind so viel beschäftigt, nicht wahr? Sie können leicht etwas vergessen.»

Mr Chichester gab keine Antwort.

«Fahren Sie zum ersten Mal nach Afrika?», fragte ich leichthin.

«Nach Südafrika, ja. Doch ich habe die letzten zwei Jahre unter den Kannibalenstämmen im Innern von Ostafrika verbracht.»

Merkwürdig! Wenn Mr Chichester wirklich vor kurzem noch in Afrika gelebt hatte, musste er eigentlich viel brauner sein. Seine Haut war blass und so zart wie die eines Säuglings. Ob da etwas nicht stimmte? Sein ganzes Gebaren war jedoch so priesterlich – vielleicht auch zu sehr. Er wirkte fast wie ein Schauspieler in der Rolle eines Geistlichen.

Während ich darüber nachdachte, schlenderte Sir Eustace Pedler auf uns zu. Als er an Reverend Chichester vorbeikam, bückte er sich und hob etwas vom Boden auf.

«Sie haben das fallen lassen», sagte er und hielt es ihm hin. Sir Eustace ging weiter und bemerkte daher wohl nicht, wie der Reverend auf den Fund reagierte. Ich jedoch sah es. Er zuckte zusammen, und sein Gesicht wurde geisterhaft grün. Nervös zerknüllte er den Zettel zu einem kleinen Ball. Mein Verdacht kehrte hundertfach zurück. Er bemerkte meinen Blick und beeilte sich, eine hastige Erklärung zu geben.

«Es ist nur der… äh… der Entwurf für eine Predigt», sagte er mit einem verzerrten Lächeln.

«Oh, ja», erwiderte ich höflich.

Entwurf zu einer Predigt – dass ich nicht lache!

Er ließ mich mit einer gemurmelten Entschuldigung stehen. Hätte nur ich statt Sir Eustace Pedler diesen Zettel entdeckt! Etwas wurde mir jedenfalls klar: Ich durfte Mr Chichester nicht von meiner Liste der Verdächtigen streichen. Er gehörte im Gegenteil ganz an die Spitze.

Nach dem Essen schlenderte ich zum kleinen Saal, um dort den Kaffee einzunehmen, und sah Mrs Blair und Colonel Race an einem Tisch mit Sir Eustace und Mr Pagett sitzen. Mrs Blair winkte mir… und ich gesellte mich zu ihnen. Sie plauderten über Italien.

«Ich liebe die Italiener», sagte Mrs Blair. «Sie sind so überaus höflich. Allerdings bringt das auch Schwierigkeiten mit sich. Wenn man einen Italiener nach dem Weg fragt, dann bricht er erst in einen Schwall von Worten aus, und merkt er dann, dass man ihn verständnislos anstarrt, fasst er einen höflich beim Arm und kommt einfach mit – den ganzen Weg, wenn es auch noch so weit ist.»

«Haben Sie diese Erfahrung in Florenz auch gemacht, Pagett?», fragte Sir Eustace und wandte sich dabei lächelnd an seinen Sekretär.

Aus irgendeinem Grund schien dieser verlegen. Er stotterte und wurde ganz rot.

«O ja… ja, gewiss.» Mit einer gemurmelten Entschuldigung erhob er sich und verließ den Tisch.

«Ich beginne zu fürchten, dass mein guter Guy Pagett in Florenz eine düstere Tat begangen hat», sagte Sir Eustace und blickte seinem Sekretär kopfschüttelnd nach. «Jedesmal, wenn die Rede auf Florenz oder auf Italien kommt, weicht er dem Thema aus oder zieht sich fluchtartig zurück.»

«Vielleicht hat er jemanden umgebracht?», meinte Mrs Blair hoffnungsvoll. «Ich möchte Sie nicht verletzen, Sir Eustace, aber sieht er nicht aus wie der geborene Verbrecher?»

«Sie haben ganz Recht, der reinste Borgia! Manchmal amüsiert es mich, besonders weil ich weiß, wie entsetzlich ehrbar und spießbürgerlich er in Wirklichkeit ist.»

«Er ist wohl schon lange Zeit bei Ihnen?», fragte Colonel Race. «Sechs Jahre», sagte Sir Eustace mit einem tiefen Seufzer.

«Sicher ist er von unschätzbarem Wert für Sie», meinte Mrs Blair höflich.

«Unschätzbar ist das richtige Wort, wahrhaftig!», erwiderte Eustace mit einem so kummervollen Ausdruck, als ob diese Eigenschaft Pagetts wie ein Gewicht auf ihm lastete. Dann fuhr er lebhafter fort: «Aber sein Gesicht sollte Ihnen eigentlich Vertrauen einflößen, meine liebe Mrs Blair. Kein Verbrecher, der etwas auf sich hält, würde mit einem solchen Gesicht herumlaufen. Der berüchtigte Crippen zum Beispiel war einer der nettesten Männer, die man sich vorstellen kann.»

«Er wurde auf einem Schiff gefasst, nicht wahr?», fragte Mrs Blair leise.

Das Zerbrechen von Porzellan wurde hörbar. Ich fuhr herum und sah, dass Mr Chichester seine Kaffeetasse hatte fallen lassen.

Unsere Gesellschaft brach bald auf. Mrs Blair zog sich zu einem Schläfchen zurück, und ich ging an Deck. Colonel Race folgte mir.

«Sie sind sehr schwer zu fassen, Miss Beddingfeld. Ich habe Sie gestern Abend beim Tanz überall gesucht.»

«Ich bin sehr früh zu Bett gegangen», erwiderte ich.

«Werden Sie heute erneut ausreißen? Oder darf ich Sie um einen Tanz bitten?»

«Ich würde sehr gerne mit Ihnen tanzen», antwortete ich schüchtern. «Aber Mrs Blair…»

«Unserer Freundin Mrs Blair liegt nichts am Tanzen.»

«Und Ihnen?»

«Mir liegt sehr viel an einem Tanz mit Ihnen.»

«Oh…!» Es war nur ein nervöses Flüstern. Ich hatte Hemmungen, und trotzdem freute ich mich. Das war jedenfalls etwas anderes, als über fossile Schädelfunde mit alten Professoren zu sprechen. Colonel Race mochte etwa vierzig sein und war genau der Typ von Mann, wie er mir vorschwebte.

Am Abend tanzte ich mehrmals mit ihm, und als ich mich zurückziehen wollte, schlug er mir einen kleinen Spaziergang auf Deck vor. Wir machten dreimal die Runde und ließen uns dann in zwei Liegestühlen nieder. Kein Mensch war in Sicht.

Wir unterhielten uns über belanglose Themen.

«Wissen Sie, dass ich einmal Ihrem Vater begegnet bin, Miss Beddingfeld? Ein sehr interessanter Mann – auf seinem Spezialgebiet. Und für mich hat dieses Gebiet etwas Faszinierendes; ich habe mich, in ganz bescheidenem Umfang natürlich, selbst ein wenig damit befasst. Als ich in der Dordogne-Region war…»

Und damit bewegte sich unser Gespräch auf vertrauten Bahnen. Colonel Race hatte keine leere Behauptung aufgestellt; er wusste wirklich einiges. Nur einmal beging er einen Fehler, der einem Kenner der Materie niemals hätte unterlaufen dürfen. Er sagte nämlich, der Homo Mousteriensis sei ein Nachkomme des Aurignacmenschen, was kompletter Unsinn ist.

Es war bereits Mitternacht, als ich mich in meine Kabine zurückzog. Noch lange grübelte ich über den Irrtum von Colonel Race nach. Sollten seine ganzen «Kenntnisse», nur ein gut aufgebauter Schwindel sein, um mich abzulenken? Verstand er in Wirklichkeit gar nichts von Archäologie? Ich schüttelte den Kopf; das erschien mir dann doch unwahrscheinlich.

Als ich bereits am Einschlafen war, fuhr ich plötzlich wieder auf. Ein neuer Gedanke hatte sich meiner bemächtigt. Hatte er etwa mich auszuhorchen versucht? Waren seine Bemerkungen nur Prüfsteine, um herauszufinden, ob ich mich wirklich auf dem Gebiet auskannte? Mit anderen Worten: Verdächtigte er mich, nicht die echte Anne Beddingfeld zu sein?

Und wenn ja, weshalb?