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Die nächsten Wochen waren sehr langweilig. Meine Pläne machten keine Fortschritte. Unser Haus und die ganze Einrichtung waren verkauft worden, und der Ertrag hatte gerade gereicht, um die Schulden zu begleichen. Eine Stellung konnte ich nicht finden – ich gab mir allerdings auch keine besondere Mühe. Immer noch war ich fest davon überzeugt, dass ich mich nur umzuschauen brauchte, um einem Abenteuer zu begegnen. Nach meiner Ansicht kommt einem meist das entgegen, was man sich wünscht. Und bald zeigte es sich, dass diese Ansicht richtig war. Es geschah an einem kalten Januartag – am 8. Januar, um genau zu sein. Ich kehrte von einer erfolglosen Besprechung mit einer Dame zurück, die eine Sekretärin/Gesellschafterin gesucht hatte, und schlenderte zum Hyde Park Corner, wo ich in die U-Bahn einstieg. Ich ging bis zum Ende des Bahnsteigs, weil ich neugierig war, ob man tatsächlich auf dieser Strecke zwischen zwei Tunnels ein Stück Tageslicht erblicken konnte. Und es stimmte wirklich. Nur wenige Menschen standen auf dem Bahnsteig. Am Beginn des Tunnels befand sich außer mir nur noch ein Mann. Ich schnupperte misstrauisch, als ich an ihm vorbeiging. Wenn es einen Geruch gibt, den ich nicht ausstehen kann, so ist es der von Mottenkugeln. Und der schwere Mantel dieses Mannes war buchstäblich getränkt davon. Das schien mir merkwürdig, denn im Allgemeinen holt man die Wintermäntel lange vor dem Januar hervor, und zu dieser Zeit sollte ihnen kein Geruch mehr anhaften. Der Mann war völlig in Gedanken versunken, so dass ich ihn ganz offen betrachten konnte. Er war klein und mager, mit dunkel gebräuntem Gesicht und einem schwarzen Bärtchen.
Eben aus den Tropen gekommen, schloss ich. Deshalb riecht sein Mantel so stark. Vielleicht aus Indien? Ein Offizier ist er nicht, sonst würde er keinen Bart tragen. Eher ein Teepflanzer.
In diesem Moment wandte sich der Mann um, als ob er den Bahnsteig verlassen wollte. Er blickte mich flüchtig an, doch als seine Augen weiterwanderten, bekam sein Gesicht plötzlich einen Ausdruck der Panik. Entsetzt taumelte er einen Schritt zurück, als ob er sich aus einer Gefahr retten wollte. Doch dabei vergaß er, dass er dicht an der Bahnsteigkante stand. Er strauchelte und fiel rücklings auf die Schienen hinab. Aus den Schienen stoben elektrische Funken. Ich stieß einen schrillen Schrei aus. Fahrgäste rannten herbei, aus dem Nichts tauchten zwei Bahnbeamte auf.
Ich blieb stehen, wo ich war, wie festgenagelt durch den Schreck. Ein Teil von mir schien entsetzt über den plötzlichen Unglücksfall, während der andere Teil kühl und unbeteiligt zusah, wie man den Mann von den elektrisch geladenen Schienen hob und wieder auf den Bahnsteig schaffte.
«Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt», ertönte eine Stimme. Ein großer, schlanker Mann mit braunem Bärtchen drängte sich an mir vorbei und beugte sich über den leblosen Körper. Während er ihn untersuchte, beschlich mich ein Gefühl der Unwirklichkeit. Das war nicht echt, konnte einfach nicht echt sein! Schließlich stand der Doktor auf und schüttelte den Kopf. «Mausetot – nichts mehr zu machen.»
«Bitte zurücktreten», sagte einer der Beamten. «Es hat keinen Zweck, sich hier herumzudrängen.»
Ein plötzlicher Brechreiz befiel mich, ich wandte mich um und lief blindlings die Treppe hinauf zum Lift. Luft! Ich brauchte frische Luft, das alles war zu grässlich. Vor mir entdeckte ich den Arzt, der den Mann untersucht hatte. Der Lift war eben im Begriff, sich in Bewegung zu setzen, und der Arzt machte ein paar lange Schritte, um ihn noch zu erreichen. Dabei fiel ihm ein kleiner Zettel aus der Tasche.
Ich bückte mich, hob den Zettel auf und rannte hinter dem Arzt her. Aber vor meiner Nase schloss sich die Lifttür, und ich blieb zurück, den Papierfetzen in der Hand haltend. Als ich mit dem zweiten Lift endlich die Straße erreichte, war von dem Mann nichts mehr zu sehen. Der Zettel war eine Seite aus einem Notizblock mit bleistiftgekritzelten Zahlen und Worten. 17. 122 Kilmorden Castle.
Auf den ersten Blick schien das keine Bedeutung zu haben. Und trotzdem zögerte ich, den Zettel wegzuwerfen. Ich blieb stehen, in seine Betrachtung versunken, und rümpfte unwillig die Nase. Wieder Mottenkugeln! Langsam hob ich das Papier hoch. Tatsächlich, es roch durchdringend danach.
Ich faltete den Zettel sorgsam und steckte ihn in meine Tasche. Langsam und gedankenvoll begab ich mich auf den Heimweg.
Mrs Flemming sagte ich, dass ich Zeugin eines hässlichen Unfalls gewesen sei und mich gar nicht wohl fühle. Ich würde daher gern in mein Zimmer gehen und mich hinlegen. Die freundliche Dame beharrte darauf, ich müsse eine Tasse Tee trinken. Dann überließ sie mich meinen Überlegungen, und ich hatte Zeit, den Plan auszuarbeiten, den ich bereits auf dem Heimweg gefasst hatte. Zunächst einmal musste ich wissen, woher das merkwürdige Gefühl des Unwirklichen kam, das mich während der Untersuchung des Arztes plötzlich ergriffen hatte. Ich legte mich flach auf den Boden und versuchte die Stellung der Leiche nachzuahmen. Dann musste ein Kissen meinen Platz einnehmen, während ich selbst jede Bewegung des Arztes wiederholte. Ja, nun wurde mir alles klar! Ich kauerte auf dem Boden und starrte die gegenüberliegende Wand an…
In den Abendzeitungen stand eine kurze Notiz, dass ein Unbekannter an der U-Bahn-Station Hyde Park Corner ums Leben gekommen sei. Man fragte sich allerdings noch, ob es sich um einen Unglücksfall oder um Selbstmord handelte. Diese Bemerkung schien mir meine Aufgabe klarzumachen, und als Mr Flemming meine Erzählung hörte, stimmte er mir sofort zu.
«Zweifellos wird man Ihre Aussage bei der Leichenschau verlangen. Sind Sie sicher, dass außer Ihnen kein Mensch nahe genug war, um alles zu sehen?»
«Ich hatte das Gefühl, dass jemand hinter mir herkam, aber ich bin dessen nicht sicher.»
Die Leichenschau wurde abgehalten. Mr Flemming begleitete mich. Er schien zu glauben, dass das alles ganz schrecklich für mich war und dass ich an ihm eine Stütze benötigte.
Der Tote war als ein Mr L. B. Carton identifiziert worden. In seinen Taschen hatte man nichts gefunden als die Bewilligung eines Grundstückmaklers, ein Haus am Fluss in der Nähe von Marlow zu besichtigen. Die Genehmigung war ausgestellt auf den Namen L. B. Carton, Hotel Russell. Ein Angestellter des Hotels bestätigte, dass der Mann am Vortage eingetroffen sei und ein Zimmer unter diesem Namen bezogen habe. Laut Eintragung im Gästeregister sei er aus Kimberley, Südafrika, gekommen, anscheinend direkt vom Dampfer.
Ich war die einzige Person, die das Geschehnis beobachtet hatte. «Halten Sie es für einen Unglücksfall?», fragte mich der Coroner.
«Ich bin überzeugt, dass es kein Selbstmord war. Irgendetwas hat den Mann erschreckt. Er fuhr blindlings zurück, ohne daran zu denken, wo er stand.»
«Was kann ihn erschreckt haben?»
«Das weiß ich nicht. Aber er muss etwas gesehen haben, denn er schien von wahrer Panik ergriffen.»
Einer der Geschworenen meinte, viele Menschen hätten vor Katzen Angst. Vielleicht sah er eine Katze? Mir kam dieser Hinweis recht kläglich vor, aber er fand Anerkennung vor dem Gericht, weil die Leute offensichtlich keine Lust zu einer näheren Untersuchung hatten. Der Spruch der Geschworenen lautete einstimmig, es handle sich um einen Unglücksfall und nicht um Selbstmord.
«Merkwürdig erscheint es mir», sagte der Coroner, «dass der Arzt, der den Mann am Unfallort untersuchte, sich nicht gemeldet hat. Man hätte natürlich sofort seinen Namen und seine Adresse verlangen sollen. Das war eine grobe Unterlassung.»
Ich lächelte innerlich, denn ich hatte eine eigene Theorie über diesen Arzt. Diese Theorie gedachte ich so bald wie möglich Scotland Yard mitzuteilen.
Doch der nächste Morgen brachte eine Überraschung. Die Flemmings waren Leser des Daily Budget, und das Daily Budget hatte seinen großen Tag.
Merkwürdige Folge des Unfalls an der U-Bahn
Frau in einem einsamen Haus erdrosselt
Begierig verschlang ich den Artikel.
«Eine Aufsehen erregende Entdeckung wurde gestern im Haus zur Mühle bei Marlow gemacht. Der Besitz gehört Sir Eustace Pedler und wird unmöbliert vermietet. Eine Genehmigung zur Besichtigung des Hauses fand sich in der Tasche des Mannes, der an der U-Bahn-Station Hyde Park Corner ums Leben kam. Zunächst wurde angenommen, der Mann – ein Mr L. B. Carton aus Kimberley – habe Selbstmord begangen, indem er sich auf die Schienen warf. Gestern wurde in dem Haus zur Mühle die Leiche einer bildschönen jungen Frau gefunden, die allen Anzeichen nach erdrosselt wurde. Bisher konnte die Frau nicht identifiziert werden, man glaubt jedoch, dass sie eine Ausländerin ist. Die Polizei verfolgt eine Spur. Sir Eustace Pedler, der Eigentümer des Hauses, hält sich während der Wintermonate an der Riviera auf.»