Kapitel 10

Kiri fütterte gerade Masra Henry, als Masra Pieter hinter seiner Zeitung ein wütendes Schnauben von sich gab. Masra Henry wollte allerdings viel lieber mit dem silbernen Löffel spielen, als sich damit den Brei in den Mund schieben zu lassen. Mit klebrigen Fingerchen grabschte er immer wieder nach dem Löffel, und Kiri hatte ihre liebe Not, dass nicht noch mehr von dem Brei da landete, wo er eigentlich nicht hin sollte – auf dem Boden. Misi Martina, die schon zweimal böse herübergeschaut hatte, wollte wohl gerade ansetzen, Kiri zu schelten, als Masra Pieter barsch die Zeitung zusammenknüllte und auf den Tisch warf. Verwundert blickten ihn alle an, selbst Masra Henrys Fingerchen blieben in der Luft stehen, und seine großen blauen Kulleraugen fixierten den erwachsenen Mann erschrocken.

»Es ist unglaublich! Der König will tatsächlich die Sklaverei abschaffen lassen. Jetzt wurde eine Kommission gebildet, und die berät nun, was zu tun ist. Was denken die eigentlich, was aus der Kolonie wird, wenn wir keine Sklaven mehr halten dürfen?«

Misi Martina zuckte nur mit den Achseln und widmete sich weiter ihrem Frühstück. »Pieter, reg dich doch nicht auf, der König sitzt in Europa, und der Gouverneur wird das schon regeln.«

»Ach, das ist doch auch so ein Negerfreund! Du würdest dich umgucken, wenn du dich plötzlich selbst anziehen müsstest.«

Woraufhin Misi Martina ihren Mann in der Tat kurz verwundert anstarrte. Kiri hätte fast gelacht, und auch Liv, die gerade dem kleinen Masra Martin sein Frühstück in mundgerechte Stücke zerteilte, verzog kurz belustigt das Gesicht, senkte dann aber schnell den Kopf.

Sichtlich erbost verließ Masra Pieter den Tisch. Misi Martina bedeutete Liv, auf Masra Martin aufzupassen und verließ ebenfalls den Raum.

Als die Herrschaften verschwunden waren, atmete Kiri erleichtert auf. Sie hatte immer noch Angst vor Masra Pieter – obwohl der sie schon seit Monaten nicht mehr behelligt hatte. Dass sie ihn tagtäglich sehen und der Familie dienen musste, machte das Ganze nicht leichter.

Auch Liv entspannte sich etwas. Sie war nun schon sehr lange Misi Martinas Leibsklavin und inzwischen auch für Masra Martin zuständig, aber so recht schien die junge Frau sich daran nicht zu gewöhnen.

»Die Sklavenhaltung abschaffen ...« Liv schüttelte den Kopf. »Das wird doch nie passieren.«

»Aber wenn es doch schon in der Zeitung steht?«, wandte Kiri hoffnungsvoll ein.

»Ach, Kiri – hörst du nicht, was da ab und an für Zeug drinsteht? Erinnere dich doch mal, was Masra Karl früher manchmal vorgelesen hat: Angeblich gibt es Boote, die unter Wasser fahren, und in Europa soll es Kutschen ohne Pferde geben, die dafür mit Dampf oder so fahren. Ich glaube das alles nicht.«

Kiri hingegen wollte es gerne glauben. Was sie alles tun könnte, wenn sie frei wäre ...

Als Kiri später während Masra Henrys Mittagsschlaf zum Sklavendorf hinüberging, stutzte sie. Sie sah bereits von Weitem einen Menschenauflauf, und als sie näher kam, bemerkte sie, dass sich zwei Seiten gegenüberstanden. Neben Masra Pieter standen die Basyas mit Peitschen und Hunden, auf der anderen Seite die Arbeitssklaven, allen voran Jenk. Kiri blieb stehen. Es war besser, jetzt nicht dorthin zu gehen. Hatte es in den letzten Tagen immer schon schwelende Proteste gegeben, die von den Basyas mit der Peitsche sofort niedergemacht wurden, so hatte sich heute das ganze Sklavendorf versammelt. Sie versuchte, aus dem Gewirr von Stimmen etwas zu verstehen. Offensichtlich war soeben ein weiterer Mann nach Masra Pieters Behandlung gestorben. Kiri bekam Angst und rannte so schnell sie konnte zurück zum Plantagenhaus, wo sie nach Amru rief. Selbst Misi Martina tauchte auf.

»Was ist hier denn für ein Krach?« Als sie sah, dass Amru alles stehen und liegen ließ und aus dem Haus eilte, folgte sie ihr verwundert.

Als die Frauen am Sklavendorf ankamen, hatte sich der Streit verschärft. Masra Pieter stand mit hochrotem Kopf da und zeigte mit dem Finger immer wieder auf Jenk, wobei er schrie: »Du mit deinem Hokuspokus hast mir die Sklaven doch jetzt widerspenstig gemacht. Sorg dafür, dass sie wieder an die Arbeit gehen. Sofort!«

Jenk hob nur hilflos die Arme. »Masra, ich kann auch nichts dafür, die Männer haben Angst vor ...«

Masra Pieter griff nach der Peitsche des Basya, riss sie ihm aus der Hand und schlug auf Jenk ein. Der Mann blieb am Boden liegen. Neben Kiri stieß Amru einen leisen Schrei aus und wollte losstürmen. Kiri hielt sie geistesgegenwärtig zurück. Die anderen Sklaven wichen einen kurzen Moment zurück, um sich dann aber wieder geschlossen aufzustellen. In den Gesichtern der Männer sah man, dass sie es dieses Mal absolut ernst meinten.

»Wenn ihr nicht sofort losgeht, lass ich die Hunde losmachen!« Masra Pieters Stimme überschlug sich fast.

Selbst die Basyas sahen sich hinter seinem Rücken kurz verwundert an. Die Hunde waren darauf abgerichtet, jeden Sklaven zu beißen, den sie zu packen bekamen. Sie im Wald laufen zu lassen, um Flüchtige zu suchen, das war eine Sache, aber sie auf der Plantage, im Sklavendorf loszumachen? Das würde in einer Katastrophe enden. Die Basyas hatten sonst den Befehl, jeden Hund sofort zu erschießen, der sich auf dem Grund der Plantage freimachte.

Die Drohung brachte die Sklaven ins Wanken, noch aber standen sie alle da.

»Gib mit den Hund!« Masra Pieter zerrte an der Leine, die der Basya neben ihm festhielt. Der große erdfarbene Hund, dem bereits lange Geiferfäden aus den Lefzen tropften, knurrte drohend. »Nun gib schon her!«

Verdattert ließ der Basya los, Masra Pieter schnappte sich den Hund und löste die Leine. Das Tier stutzte einen Moment verwundert und setzte dann sofort mit einem großen Sprung zwischen die vielen schwarzen Körper, die vor ihm standen. Die Sklaven stoben auseinander, viele schrien, und alle suchten ihr Heil in der Flucht.

Der Masra gab ein schallendes Lachen von sich. »Na, lauft!«

Endlich regte sich Misi Martina. »Pieter, bist du verrückt?«, schrie sie, und zu einem der Basyas: »Los! Holen Sie das Gewehr, und erschießen Sie das Tier.«

Amru war mit einem Satz bei Jenk, der vor Masra Pieter auf dem Boden lag.

»Es reicht.« Masra Pieter hatte einen entrückten Ausdruck in den Augen. »Es reicht wirklich, hier werden jetzt andere Seiten aufgezogen.«

»Pieter, bitte ...« Weiter kam Misi Martina nicht, Masra Pieter verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. »Und du«, brüllte er, »geh ins Haus, wie sich das gehört!«

Die Misi wich taumelnd zurück und hielt sich erschrocken die getroffene Wange.

Hinter den Hütten hörte man einen Schuss und ein kurzes Aufheulen. Der Basya hatte den Hund erlegt. Trotzdem hatte der Hund jeden gebissen, der ihm zwischen die Fänge geraten war. Viele Männer lagen auf dem Boden und hielten sich die blutenden Beine. Die Frauen, die das Spektakel aus den Hütten beobachtet hatten und aus Angst um ihre Kinder die Eingänge verschlossen hatten, sobald der Hund losgelaufen war, kamen nun hervorgestürzt und versuchten, ihren Männern zu helfen.

»Nehmt den Mann und hängt ihn an den Baum«, befahl Masra Pieter und gab Jenk noch einen Tritt.

Amru warf sich vor dem Masra auf die Knie. »Bitte, Masra ... bitte nicht«, flehte sie.

»Er hat hier alle aufgewiegelt, das muss bestraft werden! Nun packt ihn schon, und hängt ihn an den Baum – wie früher, sage ich!«, befahl der Masra kalt.

Amru versuchte noch, sich an den Arm ihres Mannes zu klammern, aber die Basyas stießen sie weg. Wie früher, hatte er gesagt! Das ließ alle Sklaven bis ins Mark erschrecken.

Die Basyas brachten Jenk zum Baum, fesselten seine Handgelenke an die Fußgelenke, sodass er mit den Armen seine Beine umschlang, steckten oberhalb der Ellenbogen ein Stange durch die Kniekehlen und hängten ihn daran kopfüber an einen dicken Ast. »Papageienschaukel« nannte man diese Strafe, eine Foltermethode, die schon seit einigen Jahren verboten war. Kiri sah hilflos zu, wie Amru nochmals versuchte, den Masra zu beschwichtigen. Misi Martina stand derweil schluchzend hinter Kiri und jammerte nur: »Was ist nur in ihn gefahren? Warum tut er das?«

Masra Pieter hingegen sah sich zufrieden den zusammengeschnürten Sklaven im Baum an, klopfte sich den Staub von der Hose und ging zum Plantagenhaus. Amru blieb weinend unter ihrem Mann sitzen. Masra Pieter hatte zwei Aufseher abgestellt, die Wache halten mussten, dass niemand Jenk befreite.

Amru saß auch zwei Tage später noch dort. Sie hatte nichts gegessen und nichts getrunken, und kein gutes Zureden der anderen Sklaven brachte sie von Ort und Stelle.

Am vierten Tag war Jenk tot.