Kapitel 7

Kiri saß vor ihrer kleinen Hütte und nähte nachdenklich an einem ihrer Kleider. Welches Glück sie schließlich doch gehabt hatte! Zwar traute sie dem Masra nicht über dem Weg, Misi Martina war ihr nicht geheuer und Masra Pieter schon gar nicht ... aber Misi Juliette, sie war nicht so wie die anderen Weißen, die Kiri bisher kennengelernt hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie selbst noch nicht so lange im Land war? Und Amru, sie war auch nett – ein bisschen erinnerte die Frau sie an ihre Tante Grena. Kiri seufzte leise.

Ihre Gedanken wurden von einigen aufgeregten Stimmen ein paar Hütten weiter unterbrochen.

»Aber das kann sie doch nicht machen!« Es war die junge Liv, die sich lauthals bei ihrer Mutter beklagte. »Mutter, rede du doch noch mal mit Amru!«

Kiri stand auf und ging neugierig näher heran, so wie einige andere Frauen und Mädchen auch. Auf Kiris fragenden Blick flüsterte eine der Frauen ihr zu: »Liv soll Misi Martinas neue Leibsklavin werden.«

Kiri hatte schon von Misi Juliette gehört, dass Amru entlastet werden sollte. Kiri fand das eine gute Idee, wobei sie sich aber auch vorstellen konnte, dass es die neue Leibsklavin mit Misi Martina nicht leicht haben würde.

Liv schluchzte derweil im Arm ihrer Mutter. »Aber ich kann das doch gar nicht. Warum gerade ich?« jammerte sie. Als sie Kiri zwischen den anderen Frauen erblickte, funkelte Liv sie böse an. »Deine Misi ist schuld, sie bringt alles durcheinander. Wenn ihr nicht gekommen wärt, wäre alles beim Alten geblieben.«

Livs Mutter nahm ihre Tochter tröstend in den Arm. »Ach, Kind, Kiri kann doch auch nichts dafür, die Entscheidung hat Misi Juliette getroffen, und das ist ihr gutes Recht. Und dass sie dich ausgesucht hat ... Sie meint das ja nicht böse.«

Kiri war die Situation unangenehm, und sie verzog sich wieder vor ihre Hütte. Bald darauf löste sich auch die kleine Ansammlung von Frauen auf, und Orla, die fast blinde alte Sklavin, die in der Hütte neben Kiri lebte, kam auf ihren Stock gestützt angehumpelt. Kiri hatte Angst vor der Alten, deren grau getrübte Augen immer ins Leere zu blicken schienen.

Jetzt steuerte die Alte genau auf Kiri zu und ließ sich ächzend neben ihr nieder. Kiri erschrak: Was wollte die Alte?

Die Frau neigte den Kopf und sagte freundlich: »Bist ein gutes Mädchen.« Sie nickte wohlwollend und zeigte ein zahnloses Lächeln. »Du musst dir keine Sorgen machen, deine Misi hat schon richtig entschieden. Liv hat nur Angst, dass Misi Martina sie irgendwann mit fortnimmt, mit Masra Pieter ... aber noch bleibt sie ja da.«

Kiri sah die alte Orla dankbar an. Die anderen Sklaven des Dorfes hatten Kiri zwar freundlich aufgenommen, aber niemand kümmerte sich direkt um sie. Und da Kiri hier keine Familie hatte, war sie manchmal ziemlich einsam.

»Mein Sohn arbeitet auch im Haus«, sagte die Alte nachdenklich. »Dieses Haus hat schon viel Schrecken erlebt ...«

Kiri fröstelte. Jetzt machte die Alte ihr doch wieder Angst. War sie gar verrückt?

Als Orla bemerkte, dass Kiri leicht von ihr abrückte, richtete sie ihre trüben Augen wieder auf das Mädchen. »Deine Misi ist ein guter Geist, sie wird die dunklen Schatten vertreiben, aber du wirst ihr dabei helfen müssen. Sei tapfer, Kind ...«

Damit erhob sich die Alte stöhnend und ging humpelnd ihres Weges. Kiri schaute ihr hinterher. Sie war sich nicht sicher, was sie von der Frau halten sollte.

Später traf Kiri auf der hinteren Veranda auf Amru. Sie setzte sich auf eine der Matten und beobachtete schweigend, wie die Haussklavin das Essen vorbereitete. Am Nachmittag, bis zum Abendessen, hatte Kiri meistens frei und durfte ihren eigenen Dingen nachgehen. Die Misi zog sich dann auf ihr Zimmer zurück, um zu lesen oder zu ruhen.

»Amru?« Kiri wollte zu gerne wissen, was es mit der alten Orla auf sich hatte. »Ist Orla eigentlich schon immer hier?«

Amru sah sich verwundert zu Kiri um. »Hat Orla mit dir gesprochen?« Kiri nickte. »Seltsam. Eigentlich spricht sie nicht mehr viel, seit ...«

Sie wandte sich wieder den Töpfen zu, in denen das Essen auf der Kochstelle vor sich hindampfte.

Doch Kiri ließ nicht locker. »Warum? Was ist denn passiert?«

Amru schüttelte den Kopf, ohne sich jedoch zu Kiri umzudrehen. »Ach, Kiri, manchmal ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.«

Kiri spürte, dass sie an dieser Stelle nicht weiterkommen würde.

»Orla sprach von ihrem Sohn«, bemerkte sie stattdessen. In diesem Moment ging ihr auf, um wen es sich handelte. »Ist Aiku Orlas Sohn, Amru?«

»Lass die Vergangenheit ruhen, Kiri!« Amru war laut geworden, und ihr Tonfall beschied deutlich, dass sie darüber nicht sprechen wollte.

Kiris Neugier aber war dadurch nur mehr entfacht. Sie würde schon noch herausfinden, was geschehen war. Irgendwie schien das Ganze mit ihrer Misi zu tun zu haben.

Amru wies das Mädchen unwirsch an, das Zimmer der Misi zu reinigen, die auf der vorderen Veranda saß und las. Kiri gehorchte folgsam und trollte sich nach oben. Sorgsam lüftete sie das Bett und schrubbte dann den Boden, erst mit Wasser, dann mit halben Orangen, bis das Holz glänzte und die Dielen einen frischen, sauberen Geruch annahmen. Nichts sollte ihre Misi verärgern. Kiri hatte mit Sorge bemerkt, dass Misi Juliette im Verlauf der Wochen etwas stiller geworden war. Vermutlich schlug ihr die Eintönigkeit auf der Plantage auf das Gemüt, und auch weder Masra Karl noch Misi Martina waren besonders nett zu ihr – vielleicht bedrückte sie das. Die Weißen waren schon seltsam. Warum hatte Masra Karl wohl Misi Juliette aus dem fernen Land mitgebracht, wenn er sich hier nicht um sie scherte?

Kiri war stolz, jetzt eine eigene Misi zu haben. Früher hatte sie die Leibsklavinnen der weißen Misis immer bewundert. Sie durften recht hübsche Kleider tragen und erfuhren auch sonst kleine Vergünstigungen. Jetzt war sie selbst eine von ihnen. Sie war zwar bei Weitem noch nicht so geschickt, aber sie bemühte sich wirklich. Die Misi sollte wissen, dass Kiri ein braves und gehorsames Mädchen war. Nicht dass die Misi noch auf den Gedanken kam, sie wieder zurück in die Stadt zu diesem Bakker zu schicken! Schon der Gedanke an den schmutzigen Holzverschlag bereitete ihr Übelkeit.

Das Verhalten ihrer Misi war so anders als das der anderen feinen Damen. Allein die Tatsache, dass sie meistens Niederländisch mit ihr sprach, würde vermutlich die anderen feinen Damen zu einer Ohnmacht treiben, würden sie das mitbekommen. Mit Sklaven sprach man schließlich höchstens taki-taki, Negersprache. Gott sei Dank waren Kiri und die Misi meistens allein. Außerdem konnte die Misi die Negersprache nun mal noch nicht richtig. Kiri war stolz, ihr schon viel davon beigebracht zu haben.

Natürlich verstanden die meisten Sklaven die niederländische Sprache, nur sprechen durften sie sie nicht. Als Kind hatte Kiri oft genug von Tante Grena bittere juk-juk-Blätter in den Mund gesteckt bekommen, wenn sie es gewagt hatte, einen niederländischen Satz zu sagen. Aber das war allemal besser gewesen, als Schläge von den Basyas zu kassieren. Kiri hatte schnell verstanden, dass es besser war, sich dumm zu stellen und so zu tun, als beherrsche man die Sprache nicht.

Früher war alle paar Monate ein »Bruder« auf die Plantage gekommen. Kiri hatte das damals lustig gefunden: Sie hatte doch gar keinen Bruder, wie konnte ein einziger Mann Bruder von allen anderen sein? Aber dieser Bruder hatte den Sklaven aus einem Buch vorgelesen – und das sogar in ihrer eigenen Sprache. Kiri hatte zwar nicht ganz verstanden, was er erzählte, aber es war eine willkommene Abwechslung zum gleichmäßigen Plantagenalltag gewesen. In dem Buch ging es um einen Gott und viele andere Dinge: Es gab zum Beispiel Menschen, die vertrieben und gefoltert wurden. Kiri erinnerte das ein bisschen an die Geschichte ihres eigenen Volkes, aber Grena hatte nur gesagt, das sei doch etwas anderes. Viele Sklaven hatten sich dem Glauben dieses Bruders angeschlossen, und man hatte ihnen Wasser über den Kopf gegossen. Das hatte durchaus Vorteile für die Sklaven, manchen Weißen schien es zu gefallen, wenn man an ihren Gott glaubte, und der Bruder war dann immer voll des Lobes gewesen. Kiri hatte aber auch gehört, dass der Bruder auf anderen Plantagen davongejagt worden war.

Allerdings war er manchmal auch böse gewesen, wenn er wiedergekommen war und die Sklaven neben seinem Gott auch noch andere Götter verehrt hatten. Die Sklaven gingen einfach davon aus, dass dieser Gott der Weißen ja nicht immer und überall Acht geben konnte, da war es doch besser, auch die anderen Götter um Hilfe zu bitten oder zu beschwichtigen, je nach dem.

Kiri war das alles zu kompliziert. Manchmal hatte sie sich gewünscht, auch lesen zu können, dann hätte sie in dem Buch vielleicht Antworten gefunden. Aber Sklaven durften nicht lesen lernen. Die Weißen hielten sie für dumm und faul.

Ob der neue Masra auch einen Bruder auf die Plantage kommen ließ?

Kiri hatte Angst vor Masra Karl. Sie hatte gleich bei ihrer Ankunft im Dorf der Plantage Rozenburg gemerkt, dass die Sklaven nicht besonders erfreut gewesen waren, dass ihr Masra wieder zurück war von der Reise. Das Lied, das sie gesungen hatten, war ein Klagelied gewesen. Gut, dass der Masra den Text in der alten Sprache nicht verstanden hatte.

Gleich am Tag nach seiner Rückkehr, der Morgen war gerade angebrochen, hatte er auch einige Strafen verhängt. Seine Basyas, die die Zügel während seiner Abwesenheit hatten schleifen lassen, wollten ihm ihre Untergebenheit versichern, und so waren gleich nach Sonnenaufgang einige Sklaven am dafür vorgesehenen Baum festgebunden und geschlagen worden. So einen Baum gab es auf jeder Plantage. Auf Rozenburg gab es zudem sogar ein Loch, Kiri hatte es beim Herumschleichen auf der Plantage gesehen. Das Loch war eine Kuhle im Boden, in die sich schwangere Frauen mit ihrem Bauch legen mussten – dann gab es die Peitsche.

Zufrieden hatte der Masra die Basyas, durchweg alles Mischlinge, gelobt. Kiri kannte das. Die meisten Mulatten waren den Weißen eher zugetan als den Schwarzen. Im Grunde ging es nur um die Hautfarbe, und jeder Mulatte, dessen Haut auch nur eine Nuance heller war als die der anderen, fühlte sich gleich als etwas Besseres. Kiri wusste zwar, dass es bei ihrer Herkunft auch die ein oder andere offene Frage gab, aber sie hatte sich bisher immer eher als Schwarze gefühlt.

Die alte Sklavin in Bakkers Holzschuppen hatte Kiri sogar erzählt, dass es in der Stadt viel mehr Mulatten gab als auf den Plantagen. Es gäbe sogar inzwischen viele freie Sklaven, sogenannte manumissis, die von ihren Herren freigekauft wurden oder das gar selbst geschafft hatten. Kiri erinnerte sich an die Buschneger, sie hatte nie verstanden, wie sie zu ihrer Freiheit hatten gelangen können. Die Alte hatte Kiri erklärt, dass ein Masra einen Sklaven nicht nur kaufen, sondern auch freikaufen konnte. Das war zwar sehr teuer, aber die Kinder eines solchen Sklaven waren dann ebenfalls frei und so weiter.

Kiri hatte darüber nachgedacht. Was machte man denn als freier Sklave, wer versorgte einen, wo lebte man? Die alte Frau hatte auf ihre Fragen nur gelacht und dann ernst geantwortet: Viele Weiße schenkten ihren schwarzen Gespielinnen die Freiheit und versorgten sie dennoch weiterhin – eine surinamische Ehe nenne man das. Also, wenn Kiri sich anstrenge, zu einem hübschen Mädchen heranzuwachsen, dann ... hatte sie gesagt und eine anzügliche Geste gemacht.

Kiri mochte sich nicht recht vorstellen, dass es schwarze Frauen gab, die sich freiwillig mit Weißen einließen. Soweit sie gehört hatte, nahmen sich die Weißen einfach, was sie wollten. Aber wenn das wiederum dazu führte, dass man vielleicht frei wurde?

Nachdenklich schob Kiri den Wischeimer auf den Flur. Der Boden im Zimmer musste trocknen, es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie jetzt weitermachen konnte. Sie beschloss, Amru derweil ein bisschen zur Hand zu gehen und lief über die Hintertreppen nach unten. Den Eimer vergaß sie.