Kapitel 8

Als Kiri auf die Straße hinaustrat, zögerte sie kurz. Ein Angstschauer lief über ihren Rücken. Musste sie jetzt wirklich allein los? Ja, die Misi hatte es ihr befohlen. Also eilte sie sich, der Droschke zu folgen, in die der Masra eingestiegen war. Zum Glück war es recht belebt auf der Straße, sodass der Wagen nicht allzu schnell fahren konnte. Kiri hastete am Straßenrand hinterher. Seit sie bei Misi Juliette wohnte, war sie nie allein durch die Stadt gelaufen. Entweder hatte einer der Haussklaven sie begleitet, wenn sie für Foni Besorgungen erledigte, oder sie war mit Misi Juliette und Masra Jean unterwegs gewesen.

Jetzt schwappten in ihr Erinnerungen an die Erlebnisse hoch, die sie nach ihrer Flucht von der überfallenen Plantage in der Stadt gehabt hatte. Der weiße Soldat, der sie so barsch angefahren hatte, der Sklavenhändler Bakker, der stinkende Verschlag, in dem sie wochenlang hatte kauern müssen. Hoffentlich dachte jetzt nicht wieder jemand, sie sei Freiwild und fing sie ein. Die Misi würde sie niemals wiederfinden in dieser großen Stadt.

Die Gedanken hatten ihre Schritte verlangsamt, und fast hätte sie die Kutsche aus den Augen verloren. Kiri riss sich zusammen, sie hatte einen Auftrag und beschleunigte ihren Schritt. Je schneller sie herausfinden würde, wohin der Masra fuhr, desto eher konnte sie wieder zurück zur Misi.

Die Kutsche fuhr immer weiter, die Häuser am Straßenrand wurden zusehends ärmlicher, und auf den Fußwegen sah man immer häufiger auch Weiße zu Fuß gehen – ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich hier nicht gerade um eine noble Gegend handelte. An einem Eckhaus kam die Droschke schließlich zum Stehen. Viel weiter hätte sie auch nicht fahren können, am Ende der Straße lagen nur noch Kostäcker.

Masra Karl stieg aus, und der Kutscher setzte zum Wenden an. Kiri drückte sich hinter eine Hausecke, von wo aus sie beobachtete, wie der Masra auf das Eckhaus zuging und ohne zu klopfen durch die Eingangstür trat. Kiri wartete.

Die Sonne stieg höher und höher, und allmählich taten ihr vom langen Stehen die Beine weh. Also setzte sie sich hin und lehnte sich an die Hauswand, wenn niemand in der Nähe war, sprang aber schnell auf und lief ein paar Meter hin und her, sobald eine Kutsche oder ein Fußgänger kam. Es sollte schließlich niemand denken, sie lungere hier herum. Gerade als sie überlegte, woher sie jetzt wohl einen Schluck Wasser bekommen könnte, näherte sich von der Seite der Gärten aus eine hochgewachsene schwarze Frau. Kiri bereitete sich darauf vor, einen geschäftigen Eindruck zu machen, aber zu ihrer Verwunderung ging die Frau auf das gleiche Haus zu, in dem vor Stunden der Masra verschwunden war, und betrat es. Durch die gleiche Tür wie der Masra!

Kiri ließ sich verwirrt im Schatten der Hauswand nieder. Dann würde der Masra wohl bald auch fertig sein und nach Hause wollen. Aber nichts geschah. Als sich die Sonne zum Nachmittag neigte, hatte Kiri genug vom Warten. Ob die Misi böse mit ihr wäre, wenn sie jetzt nach Hause kam? Viel hatte sie ja nicht in Erfahrung gebracht, sie konnte der Misi nicht einmal sagen, wie die Straße hieß, in der sie nun seit Stunden auf den Masra wartete.

Als zwei schwarze Jungen die Straße entlangkamen, sprach sie diese an: »Hört mal, könnt ihr mir was sagen?« Die etwa zwölfjährigen Bengel kicherten. Kiri zeigte auf das Eckhaus. »Wer wohnt da, wisst ihr das?«

Wieder kicherten die beiden, der eine zuckte mit den Achseln, der andere setzte aber plötzlich eine gewichtige Miene auf und nickte. »Ich weiß, wer da wohnt.«

»Na, sag schon«, bat Kiri ungeduldig.

»Was kriegen wir denn dafür?«, fragte der Bengel spitz.

Kiri seufzte. »Ich hab nichts für euch.« Wie zum Beweis zupfte sie an ihrem Kleid.

Der Junge blickte kurz mürrisch drein, dann leuchtete sein Gesicht aber wieder spitzbübisch auf. Er flüsterte seinem Freund etwas ins Ohr, und der kicherte gleich wieder los.

Kiri rollte ungeduldig mit den Augen. »Na, sagt schon, was wollt ihr?«

Jetzt schienen sich die Jungen zu genieren. Der größere grinste zwar immer noch bis über beide Ohren, blickte aber zu Boden. »Wenn du’s wissen willst, musst du ... du ...« Er zupfte an seinen verschlissenen Hosenbeinen, als wolle er sie hochziehen.

»Ach was.« Kiri verschränkte trotzig die Arme. Was glaubten die Kleinen denn!

»Bitte!«, feixte jetzt der Kleinere.

Kiri schaute sich kurz um. Niemand war zu sehen.

»Also gut.« Schnell zog sie ihr Kleid bis kurz über die Knie hoch. Die Jungs quietschten vor Lachen und wollten auf dem Absatz kehrtmachen, als Kiri den einen am Schlafittchen packte. »Du hast versprochen, es mir zu sagen«, forderte sie energisch.

Der Junge zappelte an ihrer Hand.

»Ist ja gut! Da in dem Haus, meinst du? Lass los! Lass schon los.« Kiri lockerte ihren Griff. »Da wohnen die Suzanna und der Masra Karl.« Und mit einem Ruck riss sich der Junge los und rannte johlend hinter seinem Freund her.

»Der Masra Karl?« Kiri blieb verdutzt allein am Wegesrand stehen.

Sie musste nach Hause, sie musste der Misi Bericht erstatten. Auch wenn der ihrer Misi bestimmt nicht gefallen würde.

Karl kam weder am Abend nach Hause noch spät in der Nacht, er kam gar nicht. Julie hatte Kiri, die erschöpft und sichtlich irritiert in das Stadthaus zurückgekehrt war, nach ihrem Bericht freigestellt. Sie sollte sich bei Foni etwas zu essen abholen und sich dann zur Ruhe begeben. Julie selbst lag stundenlang in ihrem Zimmer und lauschte auf die Geräusche des Hauses. Irgendwann schlief sie ein. Am Morgen blieb Karls Platz am Tisch frei. War er bei dieser Frau geblieben? Bei Suzanna? War sie Teil seiner surinamischen Ehe, von der Pieter gesprochen hatte?

Martina schien die Abwesenheit ihres Vaters nicht weiter zu stören, sie sehnte vermutlich den Abend herbei, wenn er wieder Richtung Plantage reisen und sie zu Valerie ziehen würde – bis zu seinem nächsten Besuch.

Nachmittags kam Karl kurz ins Stadthaus, entschuldigte seine lange Abwesenheit knurrend mit geschäftlichen Dingen und verabschiedete sich dann wieder nach Rozenburg.

Martina packte ihre Tasche und zog mit Liv zu Valerie. Julie blieb mit Kiri im Stadthaus.

Grübelnd zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück. Wenn Karl wirklich eine Liebschaft hatte, wäre das vielleicht eine Möglichkeit für sie, aus der Ehe mit ihm zu kommen. Eine wirkliche Ehe führten sie ja schon seit Monaten nicht mehr. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wann er sie das letzte Mal in ihrem Bett besucht hatte ... Julie schüttelte es allein bei dem Gedanken an den Alkoholgeruch. Nein, es war ihr ganz recht, dass er sich zurückhielt. Aber eine Scheidung? War das wirklich eine Möglichkeit? Vermutlich blieben ihr als Frau dabei kaum Rechte. Sie würde mittellos sein, ihr Vermögen war bei der Heirat an Karl gegangen, und nun würde sie es nicht einmal an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag erhalten. Würde sich überhaupt ein Richter finden, der die Ehe schied, allein aufgrund von Karls Verhältnis zu einer Farbigen? Julie schätzte die Chancen dazu eher gering ein. Wahrscheinlich würde man über sie spotten, schließlich schien sich in diesem Land jeder weiße Mann mit den Sklavinnen zu vergnügen. Nein ... Es war aussichtslos. Sie war weiterhin an Karl gebunden. Und selbst wenn sie geschieden würden, was sollte sie allein und ohne Geld in diesem Land?

Im Stillen verfluchte sie ihren Onkel. Wie hatte er damals nur so handeln können? Es hatte ihm bestimmt ein schönes Sümmchen eingebracht. Julie wusste von Riard, dass die Plantage bevorzugt an das Kontor Vandenberg lieferte – Julie fühlte sich wie eine Stute, die auf dem Pferdemarkt verschachert worden war.

Karl hatte nach der Ankunft auf Rozenburg damals recht schnell mit seinen wöchentlichen Stadtbesuchen begonnen. Wenn Julie genau darüber nachdachte, war er vermutlich schon direkt nach der Ankunft in Paramaribo zu Suzanna gefahren. Also hatte es diese Frau in seinem Leben schon vor Julie gegeben. Sie fühlte sich gekränkt, einmal mehr führte sie sich vor Augen, dass sie nur Mittel zum Zweck gewesen war.

Karl hatte sie ein paar Wochen lang auf den Nachbarplantagen herumgezeigt und sich damit über jeden Verdacht erhoben, ein unstetes Leben zu führen. Danach hatte er seine Frau in sein Haus gesetzt – als Alibi für sein bisheriges Leben. Julie bemerkte mit Verbitterung, dass Karl einen Plan gehabt haben musste. Ob der aufgegangen war, konnte sie nicht sagen, er hatte bei seinen Besuchen bei den Nachbarn zumindest ein paar gute Geschäfte abgeschlossen. Wirklichen Kontakt zu seinen Nachbarn hatte er nie gewollt, im wahren Leben beschäftigte sich hier ohnehin jeder mit seinem eigenen Land. Natürlich war ein Ereignis wie Martinas und Pieters Hochzeit jetzt eine Gelegenheit, sich zu profilieren – aber wirklich engagiert war Karl dabei nicht, er überließ das alles ihr.

Andererseits: Wenn er sich sein eigenes Leben aufbaute, dann konnte sie das vielleicht auch? Auf der Plantage würde sie ihm gegenüber zumindest nicht mehr so schnell klein beigeben. Er schien sie ja doch irgendwie gebraucht zu haben, wenn auch nur aus wirtschaftlicher Sicht. Der Gedanke verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung. Und zweitens wollte sie das Feld in Bezug auf Pieter keinesfalls kampflos räumen. Niemand wusste, was er mit den Sklaven auf der Plantage anstellen würde.

Pieter hatte von vornherein gewusst, was hinter ihrem Rücken gespielt wurde, da war sich Julie ganz sicher. Und Martina interessierten diese Dinge vermutlich nicht. Sie würde bald ihre eigene kleine Familie haben, Julie brauchte sie dafür nicht. Für sie würde Karl immer ihr Vater bleiben, ob mit oder ohne schwarzer Konkubine. Wahrscheinlich empfand Martina diese Beziehung sogar als normal. Und wer weiß: Vielleicht würde es ihr mit Pieter ja genauso ergehen – Interesse an den Sklavenmädchen zeigte er ja zumindest schon.

Julie war erschüttert über die Verhältnisse in Surinam.

Wo steckte Pieter eigentlich, sollte er nicht langsam mal wieder in die Stadt zurückkehren?

»Pieter? Der nutzt die Gelegenheit, einige Plantagen am Fluss Para zu besuchen. Solange er noch Arzt ist.«

Martina antwortete sehr betont auf Julies Frage. Sie und ihr Zukünftiger sprachen inzwischen ganz offen darüber, dass Pieter nach der Hochzeit gedachte, sich endgültig auf Rozenburg niederzulassen. Es gäbe inzwischen genug Ärzte im Land, und Pieter mache keinen Hehl daraus, den Beruf nur aus zwei Gründen ergriffen zu haben: seines Vaters wegen und weil er dadurch seine Studienzeit in Europa verbringen konnte. Von Berufung war in diesem Zusammenhang nie die Rede. Eher schien er sich mehr und mehr mit seiner zukünftigen Stellung als Plantagendirektor anzufreunden.

Julie bereitete das Unbehagen. Martina war inzwischen recht zugänglich, sobald Julie mit ihr allein war, sogar kurze Gespräche waren möglich, ohne dass Martina gleich einen Streit heraufbeschwor. Offenbar war sie Julie wirklich dankbar, dass sie ihr zu diesem Stadtbesuch verholfen hatte. Noch war ihre Schwangerschaft nicht weit fortgeschritten, aber schon bald nach der Hochzeit würde sie nicht mehr viel reisen können. Und wenn das Kind erst einmal da war ...

Ging es aber um die Plantage, sprach Martina ganz ungeniert über ihre Zukunft mit Pieter auf Rozenburg. Karl oder gar Julie kamen in diesen Überlegungen allerdings nie vor. Julie schob dies auf Martinas naive Vorstellung, sie schien ihr häufig doch etwas weltfremd. Manchmal allerdings überkam sie tatsächlich die Angst, es könnten schon Absprachen getroffen worden sein, von denen sie nichts wusste. Nicht dass Karl in den Ruhestand zu seiner surinamischen Ehe zog und Julie ihr Dasein als Alibifrau und alternde Strohwitwe einsam und allein im Stadthaus fristete ... oder gar unter der Fuchtel von Pieter auf der Plantage.

Julie seufzte. Bis dahin blieb immerhin noch Zeit.

Die Frauen saßen wieder beim Tee in Valeries Damensalon und ließen sich von Ivon diverse Muster für Blumengestecke und Tischdekorationen vorführen. Julie kam nicht umhin, die dargebotenen Sachen für durchaus geschmackvoll zu befinden. Valerie und Martina hingegen taten sich schwer mit einer Entscheidung, und somit zog sich die Prozedur in die Länge.

Julie rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Riard hatte angekündigt, am Abend eine Überraschung für sie zu haben. Sie war gespannt und freute sich auf seine Gesellschaft.

Nachdem die Blumenbuketts endlich zur Zufriedenheit aller abgehandelt waren, entschuldigte sie sich eilig und ließ sich von einer Droschke zurück ins Stadthaus bringen. Kiri hatte am Nachmittag sorgfältig Julies Lieblingskleid geplättet, und als Julie nun in ihr Schlafzimmer kam, stand dort bereits eine Schale mit Rosenwasser zur Erfrischung bereit. Julie gab sich besonders viel Mühe, hübsch auszusehen. Für den jungen Buchhalter? Vielleicht. Ein Lächeln umspielte ihren Mund, als sie sich im Spiegel betrachtete. Seit ihr bewusst geworden war, dass ihre Ehe eine reine Farce war, genoss sie die Begegnungen mit Riard noch mehr. Warum sollte sie sich nicht auch etwas amüsieren dürfen in der Stadt? Die Zeit auf der Plantage würde wieder lang genug werden.

»Kiri, du hast heute Abend frei«, beschied sie das Mädchen und wartete dann aufgeregt, dass Riard sie abholte.

Er fuhr mit ihr zu einer Parkanlage nahe des Gouverneurpalastes. Die Gärten hier waren besonders prachtvoll und verströmten am Abend einen betörenden Duft. In der Parkanlage selbst gelangten sie nach einem kurzen Spaziergang zu einem kleinen Freilufttheater. Mehrere Tische und Stühle standen zu einer Bühne ausgerichtet, rundherum brannten Fackeln, und schwarzes Personal in europäischer Dienertracht trug Sektkühler und Kanapees zu den Tischen, an denen nun immer mehr Menschen Platz nahmen.

»Oh, was ist das denn hier?« Julie war beim Anblick dieses Arrangements ganz entzückt. »Ein Theater unter freiem Himmel?«

Der junge Mann nickte stolz. Er führte sie zu einem Tisch mit zwei Stühlen und bot ihr an, Platz zu nehmen. Kurz darauf nippte Julie bereits an einem Glas Champagner und wartete gespannt, was auf der Bühne passieren würde. An den Tischen rundum saßen einige weiße, aber auch einige schwarze Besucher. Das waren vermutlich sogenannte »Freie«, denn Sklaven war der Besuch solcher Veranstaltungen untersagt.

Julie versuchte seit ihrer Ankunft in der Stadt, das komplizierte soziale Geflecht um die Hautfarben herum zu durchschauen: Je nach Abstufung der Farbe gab es deutliche Standesunterschiede. Je dunkler die Haut, desto niedriger der Stand, das war nicht schwer zu begreifen. Andererseits gab es durchaus auch freie Schwarze in der Stadt und wiederum viele Weiße, die sich für einfache Tätigkeiten nicht zu schade waren. Diese allerdings standen dann im Ansehen der wohlhabenden Kolonialgesellschaft nicht sehr hoch.

Als der Vorhang sich lichtete, trat eine junge Mulattin hervor und begann zu singen. Alsbald tauchten mehrere Schauspieler auf der Bühne auf, sangen oder sprachen einen Text, woraus sich eine Geschichte entspann. Julie verstand zwar nicht den gesamten Text, der aus einem Gemisch von Französisch und Negerenglisch bestand, aber die Bilder sagten mehr als Worte. Es ging um Liebe, Verrat und Eifersucht – und am Ende gab es eine rührende Versöhnung. Julie war ganz benommen und fühlte sich überglücklich. Um sie herum war es inzwischen tiefste Nacht geworden, und nur die Fackeln und der Mondschein erhellten noch die Gesichter der Zuschauer.

Im Feuerschein bemerkte Julie, dass Jean Riard sie belustigt anschaute. Ihr wurde bewusst, dass sie sich die ganze Aufführung über nur auf das Schauspiel konzentriert hatte. Nachdem jetzt der Applaus verebbte und nochmals Getränke gereicht wurden, sah sie ihn verlegen an.

»Entschuldigung, dass ich Sie den ganzen Abend nicht beachtet habe, aber ich ... ich habe schon lange nicht mehr ...«

»Ist schon gut, ich hoffe, es hat Ihnen gefallen?«

»Es war sehr schön, danke, dass Sie mich hierher geführt haben, Mijnheer Riard.«

»Wollen wir nicht ...«, er erhob sein Glas, »ich meine, wir können das Sie auch gerne weglassen. Es ist immer so ...« Er lächelte verlegen.

»Gerne, wenn Sie ... du ...« Julie war froh, dass es dunkel war, so sah er hoffentlich nicht, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

Himmel, was würde Karl jetzt wohl denken, schoss es ihr durch den Kopf. Sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich auf die blauen Augen ihr gegenüber.

»Freut mich, Juliette.«

»Jean.«

Sie erhoben beide ihre Gläser.

Etwas später schlenderten sie im Schutz der Nacht durch die Gärten, zu dem Platz, an dem die Droschken warteten. Allerlei kleine Nachtvögel umschwirrten im Licht des Mondes die Bäume auf den Grünflächen, die von gepflegten Muschelsandwegen durchzogen wurden. Julie und Jean gingen sehr langsam, und so waren sie bald allein.

»Jean, das war ein sehr schöner Abend.« Julie hatte sich wieder bei ihm eingehakt und zog ihn jetzt zur Bestätigung ihrer Worte leicht zu sich heran. Sie mochte seine Nähe, den leicht männlichen Duft, der von ihm ausging, seine Art zu reden. Sie fühlte sich wohl mit ihm.

Jean blieb stehen und wandte sich ihr zu. »Mir hat der Abend auch sehr gefallen, Juliette ... Julie, und wenn ... wenn ich ...« In Julies Brust machte sich ein Schwarm Schmetterlinge frei, wie sie es noch nie erlebt hatte. Alles um sie herum schien in weite Ferne zu rücken. Hier, jetzt, in diesem Moment, in diesem Garten, auf diesem, vom Mondlicht bestrahlten Weg, gab es nur sie beide. Ihre Augen suchten die seinen, ihre Blicke trafen sich. Er strich ihr sanft mit der Hand über die Wange, fasste sie zärtlich am Kinn und führte ihre Lippen zu den seinen. Einen kurzen Moment schien die Welt um Julie stillzustehen. Als sich ihre Lippen trennten, rang sie nach Atem. »Julie ... wenn es in meiner Macht stünde ... ich würde dir jeden Abend eine Freude bereiten, und jeden Tag ... und ...« Er strich ihr zärtlich über die Wange. Julies Körper reagierte mit einem wohligen Schauer. Dann näherten sich Schritte. Der Zauber entschwand. Jean trat einen Schritt zurück, sein Gesicht bekam einen ernsten Ausdruck. »Julie ... Es ... es tut mir leid. Wir sollten weitergehen, da kommt jemand.« Sie hakte sich mechanisch wieder bei ihm unter, und gemeinsam schritten sie zu den Kutschen.

Im Stadthaus angekommen ließ Julie sich rücklings auf ihr Bett fallen.

»Misi? Alles in Ordnung?« Kiri blieb verwundert stehen, als sie gerade eine frische Schale Wasser hereinbrachte.

»Ja, Kiri, es ist alles gut.«

Julie wusste nicht, wie ihr geschah, eine solche Gefühlsexplosion wie vorhin, als ... als seine Lippen die ihren gesucht hatten, das hatte sie noch nie erlebt. Sie hoffte, Jean bald wiederzusehen.

Zu Julies Bedauern ging Jean von diesem Abend an auf Distanz zu ihr. Seine Besuche nahmen wieder einen förmlicheren Charakter an, auch führte er sie nur noch zu belebten Plätzen aus und niemals mehr am Abend. Zunächst versuchte sie, seinem Verhalten etwas Positives abzugewinnen, außerdem redete sie sich ein, sich ihrer Gefühle noch nicht ganz klar zu sein. Aber nach und nach merkte sie, wie sehr sie sich nach ihm sehnte, nach seiner Nähe, seiner Stimme. Wenn er nicht da war, verursachte ihr sein Fehlen nichts als schmerzhaftes Verlangen. Sicherlich war es taktvoll von ihm, sie beide nicht noch einmal in eine verfängliche Situation zu bringen. Aber Julie hatte manchmal das Gefühl zu platzen.

In der folgenden Woche kam Karl wieder in die Stadt. Und dieses Mal wollte Julie es mit eigenen Augen sehen. Als er sich am Vormittag verabschiedete, rief sie kurz darauf eine Mietdroschke und führte den Fahrer gemäß Kiris Beschreibung. Die Straßen in dieser Stadt waren fast alle schnurgerade, man musste nur darauf achten, dass man oft genug abbog. Als Julie schließlich an der richtigen Straße angelangt war, wies sie den Kutscher an, zu halten und zu warten. Sie wollte das letzte Stück zu Fuß gehen. Sie hatte sich möglichst unauffällig gekleidet, um nicht aufzufallen. Viele Menschen begegneten ihr nicht, und dies war eine Gegend, in der eine weiße Frau durchaus auch allein herumspazierte.

Als sie am Ende der Straße tatsächlich das Haus erblickte, welches Kiri beschrieben hatte, blieb Julie stehen. Sie hatte keinen Plan, in ihren Gedanken war sie immer nur bis zu diesem Haus gelangt. Was sollte sie jetzt tun? Vielleicht war Karl ja doch woanders hingefahren? Und wenn er hier war? Was, wenn er sie hier sah? Plötzlich befand sie ihre Idee, ihm zu folgen, für sehr dumm. Sie machte auf dem Absatz kehrt, um zu der Straßenecke zurückzukehren, an der der Kutscher wartete. Fast wäre sie dabei mit einer hochgewachsenen dunkelhäutigen Frau zusammengestoßen, die mit einem Korb Früchte hinter ihr aufgetaucht war.

»Oh, Entschuldigung!« Reflexartig senkte Julie den Blick. Dass dies in Surinam Farbigen gegenüber unangemessen war, entfiel ihr in diesem Moment.

»Ist ja nichts passiert.« Die Frau lächelte sie freundlich an, als Julie den Blick wieder hob. »Haben Sie sich verlaufen? Sie standen so ratlos auf dem Weg.« Das Gesicht der Frau hatte fein geschnittene Züge und war so ganz anders als die Gesichter der afrikanischen Sklaven mit ihren vollen Lippen und breiten Nasen. Julie konnte ihre Herkunft nicht einordnen, aber die Frau war hübsch, das stach sofort ins Auge.

»Ja ... verlaufen ...« Julie wusste nicht, was sie sagen sollte, »aber ich glaube, ich muss da entlang.«

Schnell murmelte sie ein verlegenes Danke und huschte an der Frau vorbei, die Straße hinunter.

Nach ein paar Metern aber verharrte sie kurz. Sie nahm ihren Mut zusammen und blickte sich um. Die Frau hatte ihren Weg fortgesetzt, wandte sich jetzt zum Eingang des letzten Hauses und verschwand darin. Julie stockte der Atem. Suzanna!