Kapitel 4

Julie stand in der Krankenstation und faltete Tücher zusammen. Seit Erikas Abreise kam sie jeden Tag hierher, half Klara und schaute nach den Kindern. Das gab ihr zumindest ein wenig das Gefühl, eine Aufgabe zu haben und gebraucht zu werden. Der Wunsch, zu ihrem Kind zurückzukehren, übermannte sie täglich, aber jetzt musste sie wenigstens noch warten, bis Erika wieder heimkehrte. Das hatte sie ihrer Freundin versprochen.

Erika war nun schon fast eine Woche fort. Julie bereitete das zunehmend Sorge. War es falsch gewesen, Erika auf dieses Schiff zu bringen? Was, wenn unterwegs etwas passiert war? Wenn es einen Unfall gegeben hatte? Andererseits wusste sie nicht, wie lange die Reise nach Batavia dauerte, und sie kannte auch niemanden, den sie danach oder nach eventuellen Vorkommnissen auf dem Fluss hätte fragen können. Sie ging immer wieder zum Hafen, fragte aber nicht mehr nur nach Jean, sondern wartete auf Erika, auch wenn beide Unterfangen hoffnungslos erschienen. Inzwischen hatte sie jeden Kapitän nach Jeans Verbleib gefragt, es waren doch immer die gleichen Schiffe, die von den Fahrten entlang der Küste oder aus den Nachbarländern heimkehrten. Die großen Schiffe aus Amerika oder Europa legten so selten an, dass sie befürchtete, es könnte Jahre dauern, alle abzuklappern. In ihr machte sich tiefe Hoffnungslosigkeit breit. Sie würde Erikas Rückkehr abwarten und dann sofort ihre Rückreise nach Rozenburg antreten.

Julie legte gerade die letzten Tücher in das dafür vorgesehene Schränkchen, als es an der Tür der Krankenstation klopfte.

»Ja?«

Dodo kam herein und schob dabei einen kleines, etwa zehnjähriges Mulattenmädchen vor sich her.

»Misi Juliette, wo ist Misi Klara?«

»Klara ist zu einem Hausbesuch. Was ist denn, Dodo? Hat die Kleine was?« Julie hatte nicht übersehen, dass dem Mädchen die Tränen über die Wangen rannen.

»Nein, Misi, sie hat nichts«, Dodo schob das Mädchen ein paar Schritte vor und forderte sie in ruhigem Tonfall auf: »Nun red mit der Misi!«

»Misi«, die Kleine verbeugte sich ungelenk, »ich komme wegen meiner Mutter. Sie ist krank und kann nicht aufstehen.« Sie flüsterte fast.

Julie ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Erschrocken zuckte das Kind zurück. »Ist schon gut, ich tu dir doch nichts.« Julie ging in die Hocke. »Nun erzähl mal ganz in Ruhe, was ist mit der Mutter?«

Das Mädchen schniefte. »Ich ... ich weiß nicht ... sie hat Fieber und liegt da. Ich ... ich hab nach der Medizinfrau gesucht, aber die war nicht zu finden. Ich glaube, sie stirbt.«

»Na, so schnell stirbt man nicht.« Julie tätschelte ihr beruhigend den Arm. »Wir warten jetzt noch auf Schwester Klara, und dann sehen wir nach deiner Mutter, in Ordnung?«

Das Mädchen wischte sich mit der Hand über das Gesicht und nickte.

Julie hatte Mitleid mit der Kleinen. Nicht genug damit, dass sie Angst um ihre Mutter hatte, ihr war bestimmt auch unwohl bei dem Gedanken, nachträglich Ärger von ihrer Mutter zu bekommen, weil sie in die Mission gelaufen war. Trotz der zahlreichen Hilfsangebote der Station kamen Sklaven und Mulatten nur selten hierher. Es sei denn, der Besitzer eines Sklaven sprach ein Machtwort, oder ein Mulatte war so in Geldnot, dass er sich keinen Medizinmann oder den farbigen Arzt der Stadt leisten konnte.

Die Angst, dass die Missionare ihre Hilfe an ein Glaubensbekenntnis koppelten, hielt sie vehement zurück. Wobei insbesondere Klara sich nicht gerade missionarisch verhielt. Ihr lag in der Tat das Wohl der Menschen am Herzen – unabhängig von der Hautfarbe und Religion. Ihr hünenhaftes Auftreten erleichterte ihr dieses Anliegen allerdings nicht gerade.

Es dauerte nicht lange, bis Klara von ihrem Hausbesuch zurückkehrte. Kaum hatte Julie ihr die Geschichte des Mädchens berichtet, stand die Missionsschwester bereits mit ihrer Tasche wieder in der Tür.

»Dodo, ruf eine Droschke.«

Wenig später hievte sie das Mädchen neben den mürrisch dreinblickenden Kutscher und setzte sich dann hinten neben Julie in die Kutsche. »Wenn sie laufen muss, kommen wir ja nie an«, sagte sie knapp.

Julie mochte Klaras resolute Art.

Kurze Zeit später überkam Julie ein ungutes Gefühl. Sie kannte die Gegend, in die sie nun fuhren. Sie kannte auch die Straße, in die sie abbogen und – sie kannte das Haus, vor dem das Kind dem Kutscher bedeutete zu halten.

Es war das Haus von Suzanna!

Julie betrat das Haus mit einem mulmigen Gefühl. Am liebsten wäre sie weggelaufen, aber sie schritt tapfer hinter Klara her, die ohne zu zögern dem kleinen Mädchen durch die Eingangstür folgte. Das Kind führte die beiden Frauen eine Treppe hinauf und einen kurzen Flur entlang in ein abgedunkeltes Schlafzimmer. Auf einem Bett am Fenster lag eine Frau.

»Mevrouw?« Klara sprach laut, um auf sich aufmerksam zu machen. Vom Lager der Frau kam allerdings keine Reaktion. Klara stellte ihre Tasche ab und trat an das Bett.

Das kleine Mädchen hatte sich auf die Bettkante gesetzt und hielt die Hand seiner Mutter. Auch Julie trat nun heran. Auch wenn die bronzefarbene Haut der Frau bleich wirkte und tropfnass vom fiebrigen Schweiß war, erkannte Julie sie: Es war Suzanna.

»Wer?«, drang es leise au dem Mund der Kranken. Ihre Stimme war leise und heiser.

»Alles gut. Wir kommen von der Krankenstation der Mission. Ihre Tochter hat uns geholt, sie macht sich Sorgen. Sie sind sehr krank, wir werden Ihnen helfen«, sagte Klara so zuversichtlich wie möglich und wandte sich dann an das kleine Mädchen. »Kannst du uns eine Schale kaltes Wasser holen und ein paar Tücher?«

Das Mädchen nickte eifrig und lief los.

Klara betrachtete Suzanna besorgt. »Wir müssen dafür sorgen, dass das Fieber sinkt und ihr kalte Wickel machen. Dass diese Leute aber auch immer warten, bis es fast zu spät ist.«

Julie zögerte einen Moment, Klara dabei zu helfen, Suzanna aus ihrer durchgeschwitzten Kleidung zu befreien. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Dies war die surinamische Ehefrau ihres Mannes. Und damit war diese Frau ja auch ... Witwe! War das Mädchen, das sie hierher geführt hatte, etwas Karls Tochter?

Dann besann sie sich. Diese Frau war schwer krank. Ob Karls Geliebte oder nicht – sie brauchte Hilfe.

Bald kehrte das Mädchen zurück. Mit besorgtem Gesicht drückte sie sich in eine Zimmerecke und beäugte das Tun der beiden weißen Frauen. Sie wickelten kalte Tücher um Suzannas Körper und wechselten das Bettzeug. Dann flößte Klara Suzanna noch Fiebertropfen ein. »Jetzt können wir nur warten. Juliette, würden Sie bitte bei der Frau bleiben, bis sie wieder bei Bewusstsein ist?«

Julie sah Klara mit großen Augen an. Nein! Sie konnte doch nicht ... hier ... bei ...

Klara wartete Julies Antwort aber gar nicht ab. Im Vorbeigehen tätschelte sie dem Mädchen das Haar. »Ich komme in ein paar Stunden wieder, bis dahin sollte es deiner Mutter besser gehen.«

Julie blieb verdattert im Raum stehen. Als sie in die großen braunen Kulleraugen des Mädchens sah, das sie hoffnungsvoll anblickte, straffte sie sich. Sie würde hierbleiben. »Komm her und setzt dich zu deiner Mutter, das ist gut für sie«, sagte sie freundlich.

Gleich nahm das Kind wieder die Hand seiner Mutter zwischen die kleinen Hände. »Sie wird doch wieder gesund, oder?«, fragte sie ängstlich.

Julie nickte. Sie hoffte es, vermochte es dem Kind aber nicht zu versprechen. Sie war nicht so optimistisch wie Klara, zu viele Menschen schienen in diesem Land am Fieber dahinzusiechen.

Sie setzte sich auf einen Stuhl in der Zimmerecke und betrachtete still die Frau im Bett. Suzanna war immer noch schön, obwohl ihre Wangen eingefallen waren. Julie erinnerte sich an ihre fein geschnittenen Züge. Aber sie hatte sie nur einmal kurz gesehen. Ob Suzanna sie erkennen würde? Kannte sie Julie überhaupt? Sie waren ja lediglich aus Versehen zusammengestoßen, als Julie ... aber ob sie wusste, wer sie war? Karl hatte ihr doch bestimmt nicht von ihr erzählt?

Dann besann sie sich auf das Mädchen. Julie zog ihren Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. »Sagst du mir deinen Namen, Kleine?«

Das Mädchen sah sie schüchtern an. »Minou. Ich heiße Minou.«

»Und, Minou«, Julie konnte es sich nicht verkneifen, danach zu fragen, »wo ist denn dein Vater?«

Das Mädchen sah betroffen auf seine Hände, dann kurz zu seiner Mutter und zuckte mit den Achseln. »Der ist schon seit Monaten nicht gekommen. Mama ... Mama sagt, er wird wohl auch nicht wiederkommen.«

»Hast du noch Geschwister, Minou?«

Jetzt lächelte das Mädchen kurz und nickte. »O ja! Einen großen Bruder habe ich. Wico.«

»Und wo ist dein großer Bruder?«

Wieder zuckte das Mädchen mit den Achseln. »Als Vater nicht mehr kam ... Wico sagte, er muss nun Geld verdienen und ist fortgegangen. Irgendwohin.«

Julies Magen krampfte sich zusammen. Hatte sie diesen Kindern womöglich den Vater genommen, dieser Frau den Mann? Karl war ein Tyrann gewesen, daheim auf Rozenburg, aber im Grunde wusste sie nichts über sein zweites Leben in der Stadt, welches er so konsequent geführt hatte, trotz seiner Ehe mit ihr.

Klara kam einige Stunden später wieder. Sie untersuchte die Kranke und blickte dann zufrieden auf. »Das Fieber scheint zu sinken.«

Julie war erleichtert. Sie hatte sich die ganze Zeit Gedanken gemacht, was passieren würde, wenn Minou und Wico jetzt auch noch die Mutter verloren.

»Wir kommen morgen wieder«, Klara packte ihre Tasche zusammen, »du musst deiner Mutter so oft wie möglich das kalte Tuch auf der Stirn frisch machen, hörst du?«

Minou nickte eifrig.

»Gut! Und wenn sie wach wird, muss sie viel trinken!«

Julie warf im Gehen noch einen besorgten Blick auf Minou und Suzanna. »Bis morgen, Minou!«, sagte sie leise und folgte Klara aus dem Haus.

Nachdem sie die Mietdroschke bestiegen hatte, gab Klara ein verächtliches Prusten von sich.

»Sehen Sie – da haben wir es wieder. Da lassen sich die Frauen von weißen Männern aushalten, und wenn sie wirklich Hilfe brauchen, machen sie sich aus dem Staub.«

Julie sah Klara verwundert an. Solche Ausbrüche waren Klara eigentlich nicht zu eigen. »Woher wollen Sie wissen, dass diese Frau sich von einem Weißen aushalten lässt?«, fragte sie neugierig.

»Ach, Juliette, ich kenne die Gegend hier, die Kinder werden immer heller, das können Sie mir glauben. Und der Vater von der Kleinen, der sitzt bestimmt gerade brav bei seiner weißen Familie. Diese Ehebrecher!«

Klara mochte noch so resolut sein, sie war immer noch eine Missionsschwester. Dass der freizügige Lebenswandel unter den Kolonisten ihre Abscheu schürte, konnte Julie verstehen.

Julies Gefühlswelt war völlig aus den Fugen geraten. Im Stadthaus angekommen fand sie keine Ruhe, ihre Gedanken schwirrten wild umher. Ja, sie hatte Karl einmal dafür gehasst, dass er eine Beziehung zu einer anderen Frau hegte. Später aber war sie sogar froh darüber gewesen, denn er hatte sie dadurch immer seltener behelligt. Seit seinem Tod versuchte sie so wenig wie möglich an ihn zu denken. Und nun kam die Erinnerung mit voller Wucht zurück. Jetzt musste sie sich zwangsweise noch einmal mit Karls Vergangenheit auseinandersetzen. Sie brachte es nicht übers Herz, Minou und die kranke Suzanna ihrem Schicksal zu überlassen.