Kapitel 6

Julie stapfte durch den Schnee im Park hinter dem Haus. Sie spürte weder die Kälte noch hatte sie Augen für die Schönheit der verschneiten Bäume.

Kloster hallte es in ihrem Kopf wieder und wieder. Schmerzhaft traten die Erinnerungen an die verhassten Gebetsstunden im Internat in ihren Kopf. Martha hatte ihr schonungslos und nicht ohne eine gewisse Genugtuung berichtet, dass ihre Eltern gedachten, Julie im kommenden Sommer in eine Diakonissenanstalt zu schicken.

Für Julie war das wie ein Schlag ins Gesicht. Nein! Auf keinen Fall würde sie sich in ein Kloster stecken lassen. Wenn ihr doch nur ein Ausweg einfallen würde! Wenn doch nur Sofia da wäre, ihr wäre sicher eine Lösung eingefallen. Julie fühlte sich schrecklich allein.

Sie hatte zwar schon das eine oder andere Mal daran gedacht, was wohl aus ihr werden würde, wenn die Schulzeit vorbei wäre, dann aber die Gedanken jedes Mal wieder von sich geschoben. Das war noch lange hin. Jetzt wurde ihr schmerzlich bewusst, dass es eben nicht mehr lange hin war. Im kommenden Sommer würde sie das Internat verlassen müssen, würde sie Sofia verlassen müssen. Wie kurz hatte doch nur ihr Glück gewährt. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Für die anderen Mädchen war es selbstverständlich, in den Schoß ihrer Familien zurückzukehren, um dort beizeiten in die Hände eines heiratswilligen Mannes übergeben zu werden. Aber wer sollte sie schon heiraten? Sie, die »graue Internatsmaus«, wie Martha sie vor einigen Jahren einmal genannt hatte. Und Onkel Wilhelm? Der würde sich wohl kaum um einen Kandidaten kümmern, musste er doch zunächst seine eigenen Töchter gut verheiraten. Wo Martha recht hatte, hatte sie recht.

Sie würde sich seinem Willen beugen müssen.

Am nächsten Tag, nach einer schlaflosen Nacht, ließ ihr Onkel nach ihr rufen. Sie konnte sich denken, was er ihr zu sagen hatte.

Julie betrat resigniert sein Arbeitszimmer. »Onkel Wilhelm, du wolltest mich sprechen?«

»Setz dich, Juliette.« Er wies auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. »Wie geht es dir?«

Julie war überrascht ob der Frage, ihr Wohlbefinden interessierte ihn sonst nie. »Danke, gut, Onkel«, sagte sie zögerlich.

»Also, Juliette, du wirst ja nun im kommenden Sommer die Schule beenden, und deine Tante und ich haben uns Gedanken gemacht, wie es dann mit dir weitergehen soll.«

Julie sackte auf ihrem Stuhl zusammen und nestelte nervös an ihrem Kleid.

»In Anbetracht der Gesamtsituation haben Margret und ich uns überlegt, dass es für dich angemessen wäre, noch einige Jahre in der Obhut einer Diakonissenanstalt zu verbringen.«

Julie versuchte, ein überraschtes Gesicht zu machen, vielleicht konnte sie ihren Onkel ja irgendwie überzeugen, seine Entscheidung zu ändern. »Ein ... ein Kloster?« stammelte sie.

»Ja, Kind. Schau, du bist doch jetzt schon achtzehn und ein wirklich passender Bewerber um deine Hand ist nicht in Sicht. Wenn deine Schulzeit beendet ist, wärst du allein. Wir können dich leider nicht aufnehmen, du weißt ja ... Margret ... In einer Diakonissenanstalt bist du unter Frauen, die ein ähnliches Schicksal verbindet.«

Julie starrte ihren Onkel zornig an. »Ich will aber nicht in eine Diakonissenanstalt. Das könnt ihr nicht mit mir machen! Was soll ich da überhaupt? Den ganzen Tag beten? Ich würde viel lieber ... vielleicht könnte ich Lehrerin werden?«

»Kind, dort hättest du auf jeden Fall Zeit, darüber nachzudenken, was du später einmal machen möchtest. Die Schwestern wären dir sicherlich dabei behilflich, und für alleinstehende junge Frauen ist so eine Diakonissenanstalt nun mal ... durchaus angemessen.«

»Ich will aber nicht!«, sagte Julie mutlos. Die Argumente gingen ihr aus.

»Nun ja, wenn du partout nicht möchtest ... Es ist natürlich nicht so, dass es keine Heiratsinteressenten gibt. Nur ... Nein, ich denke, das wäre keine gute Idee und war von Seiten des Herrn sicher nur eine Laune.« Wilhelm hüstelte.

»Herr? Welcher Herr?« In Julies Augen flackerte ein Hoffnungsschimmer. Das waren ja ganz unerwartete Neuigkeiten. In ihrer jetzigen Situation würde sie sogar eher einem der alten krummbeinigen Geschäftskumpanen des Onkels ihre Hand reichen, als sich hinter Klostermauern bringen zu lassen.

»Ach«, ihr Onkel machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich hätte es besser gar nicht erwähnen sollen. Dieser unverfrorene Kerl, ich weiß sowieso nicht, was er sich dabei denkt. Als ob wir dich an den Nächstbesten verheiraten würden.«

»Wer denn, um Himmels willen?«, rief Julie. »Onkel, ich möchte es jetzt wissen!«

»Na, dieser Leevken. Die haben ein komisches Heiratsgebaren da in diesen Kolonien. Kommt hier rein und ...«

»Karl Leevken hat ... um meine Hand angehalten?« Julie schoss das Blut ins Gesicht.

»Ich habe ihm gleich gesagt, dass so eine Verbindung für uns nicht in Frage kommt. Dieser viel ältere Mann und dann noch dieses wilde Land.«

Hinter Julies Stirn arbeitete es fieberhaft. Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Augen. War das jetzt der Strohhalm, an den sie sich klammern sollte? Die Heirat mit einem fast Fremden?

Wilhelm gab ihr anscheinend gerne einen Moment, darüber genauer nachzudenken, und gönnte sich einen Schluck Whisky. Dann holte er tief Luft und fuhr fort: »Ich habe ihm gesagt, dass du zunächst in einer Diakonissenanstalt leben wirst. Sollte er längerfristig immer noch Interesse an dir haben, was bei der Entfernung ja nicht zu erwarten ist ... also, ich denke, das hat sich damit erledigt.«

Jetzt war es an ihr. Leevken war immer noch besser als einer dieser älteren Herren mit schlechten Zähnen und dickem Bauch, von der Schwesterntracht ganz zu schweigen.

»Ich mache es!« Julies Gestalt straffte sich, als sie ihre Entscheidung kundtat. »Ich werde Karl Leevken heiraten.«

»Aber Juliette! Nein ... das geht doch nicht! Du müsstest mit ihm nach Surinam gehen und ...«

»Wenn er um meine Hand angehalten hat«, sie sprach jetzt mit fester Stimme, »werde ich Ja sagen. Ich werde Karl Leevken heiraten und mit ihm nach Surinam gehen.«

Julie starrte in den Spiegel und zupfte sich einige Haarsträhnen zurecht. Was hatte sie getan? Nun war es also offiziell.

Aber in ein Kloster stecken ... Sie konnte es immer noch nicht fassen. Da wäre ihr ja alles lieber gewesen. Und eine Hochzeit war nicht die schlechteste Alternative. Wenn sie auch etwas überstürzt stattfand. Im Grunde kannte sie Karl Leevken schließlich gar nicht. Aber jedes Mal, wenn sie an die Silvesternacht zurückdachte, überkam sie ein wohliger Schauer. Sicherlich war er in gewisser Weise unschicklich vorgegangen. Aber seine Lippen ... Julie legte ihre Finger an den Mund. Sie meinte immer noch, seinen Atem auf ihren Wangen zu spüren.

Nein, die Verlobung mit Leevken war die richtige Entscheidung! Schon, um sich aus den Fängen von Onkel Wilhelm zu befreien. Wer weiß, was er sich sonst noch hätte einfallen lassen. Entweder die Schwesterntracht oder gar später irgendwann einen dieser blassen, langweiligen Männer. So hatte Julie wenigstens ein klein wenig das Gefühl, selbst entschieden zu haben.

Sie hatte weder von ihrem Onkel noch von ihrer Tante jemals so etwas wie Zuneigung verspürt. Karl Leevken dagegen mochte sie, sonst hätte er sie wohl kaum geküsst an jenem Abend. Und er sah gut aus, war gebildet und schien auch recht vermögend zu sein, was konnte ihr also Besseres passieren? Dazu noch ein fremdes, aufregendes Land. Gut, er könnte ihr Vater sein, aber ...

So eine Chance bekommst du nur ein Mal! Der Gedanke war Julie bereits in Wilhelms Arbeitszimmer durch den Kopf geschossen, und jetzt setzte er sich in ihrem Kopf fest.

Aber sie würde nicht in das Internat zurückkehren. Wehmütig dachte sie an Sofia. Andererseits würde auch die Freundin im kommenden Sommer die Schule verlassen. Ihre Wege würden sich also zwangsläufig trennen. Aber sie konnte ihr schreiben ...

Und gleich würde nun Karl eintreffen! Margret hatte sofort zu einem Abendessen geladen, um alles Weitere zu besprechen. Sie schien erstaunlich froh über die Verlobung, wahrscheinlich freute sie sich, Julie bald los zu sein. Martha und Dorothea hatten dagegen entsetzte Gesichter gemacht. »Du kannst doch nicht mit einem fremden Mann in ein Land voller ... voller Neger gehen?« Für ihre Cousinen war es offenbar unvorstellbar, sich freiwillig aus dem sicheren Nest der Heimat fortzubewegen. Für sie galt es, brav hier zu sitzen, Kinder zu bekommen und sich den Mund fusselig zu reden beim Klatsch mit ähnlich langweiligen Damen. Wahrscheinlich würden sie als Alternative eher noch das Kloster wählen.

Julie dagegen sah sich schon in der üppigen, tropischen Pracht der fernen Kolonie. Das roch doch nach Abenteuer. »Juliette Leevken, Herrin über die Plantage Rozenburg.« Das Gefühl, einmal selbst eine Entscheidung getroffen zu haben, und, wie ihr schien, nicht mal die schlechteste, beflügelte sie. Vielleicht waren ihre beiden Cousinen aber auch einfach nur neidisch, dass sie jetzt zuerst heiraten würde.

Entschlossen stand Julie auf und kontrollierte nochmals ihr Kleid. Sie wollte gut aussehen heute, überwältigend ... nicht dass Karl es sich noch einmal anders überlegte! Sie würde genau in diesem Moment das etwas blasse Internatsmädchen ablegen und endlich erwachsen werden. Bei dem Gedanken, Karl gleich wieder zu treffen, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Schnell tupfte sie sich nochmals etwas Puder um die Nase und machte sich dann auf den Weg nach unten.

»Es freut mich außerordentlich, Juliette.« Karl küsste Julie zur Begrüßung die Hand und wisperte ihr einige Worte zu, wobei nur der verschwörerische Tonfall erraten ließ, dass sie mehr als eine Höflichkeitsfloskel enthielten. Julie verspürte sogleich erneut das aufregende Prickeln, während Margret und Wilhelm Vandenberg den Gast zu Tisch baten. Man hatte ihn neben Julie platziert, und sie zitterte ein wenig, als er seine Hand beiläufig auf ihren Unterarm legte. Der Abdruck brannte heiß auf ihrer Haut. Warum nur geriet sie so völlig außer sich, wenn er in ihrer Nähe war?

Julie musste sich sehr anstrengen, dem Gespräch bei Tisch zu folgen.

Wim schien etwas verwundert über diese Zusammenkunft und machte ein überraschtes Gesicht, als sein Vater ihm den Anlass verkündete. Julie wich seinem fragenden Blick aus und konzentrierte sich auf Karl.

»Mijnheer Leevken«, Margret legte ihre Serviette zusammen und beschloss damit, dass es Zeit war, über die wesentlichen Dinge zu sprechen. »Wann gedenken Sie denn nun abzureisen? Es geht mir bei meiner Frage ausschließlich um einen Überblick über den zeitlichen Rahmen.«

»Das Schiff wird am 28. Januar auslaufen. Ich habe mir erlaubt, bereits eine passende Unterbringung für uns beide zu reservieren.«

Julie wusste zwar, dass es alsbald auf Reisen gehen würde, gleich nach ... nach der Hochzeit. Aber so schnell? Am 28. Januar? Heute war bereits der neunte!

»Gut, ich denke, die Eheschließung sollte um den zweiundzwanzigsten erfolgen. So können wir noch das Aufgebot bestellen und die nötige Frist einhalten.« Karl Leevken schien seine Termine im Kopf zu haben. »Und danach bleibt ausreichend Zeit, die Reise vorzubereiten. Ich werde alles Nötige veranlassen.«

Margret sah kurz zu Julie herüber und verspürte fast so etwas wie Mitleid. Merkte ihre Nichte nicht, wie hier über ihre Hochzeit gesprochen wurde, als ginge es um Verzollung und Verschiffung einer Handelsware?

Julie nickte nur kurz. In ihrem Blick schien für einen Moment Furcht aufzuflackern, aber als sie ihre Augen auf Karl richtete, strahlte sie wieder.

Margrets Mitleidsanwandlung erlosch. Sollte das Mädchen doch blauäugig in sein Verderben tappen. Dass dieser Mann sie nicht liebte, war allzu offensichtlich.