Achtung:

Wer böse war, kommt in den Keller

Yannick bekam einen Anruf von Angel, um kurz nach halb vier. Im Hintergrund war großes Geschrei, wie immer. Die Mutter gegen den Vater, der Vater gegen Patric, Patric gegen die Kleinen, die Kleinen gegen Angel, Angel gegen sich selbst, alle gegen alle. Dann plötzlich Ruhe. Angel war rausgegangen, hatte die Tür hinter sich zugeworfen wie den Deckel eines Mülleimers. Weg, nur weg damit.

»Kommst du?«, fragte sie, ihre Stimme klang bröckelig, und Yannick war sich nicht sicher, ob sie diesmal vielleicht geweint hatte, ob sie es diesmal vielleicht nicht mehr ausgehalten hat.

»Ich bin gleich da«, sagte er.

Sie ging ihm dann entgegen, sie trafen sich in der Thadenstraße an der Ecke zum Park, so wie sie es immer machten, so wie es immer lief. Yannick nahm Angel in den Arm und sagte: »Scheiß doch auf die Alten.«

Dann liefen sie los, Hand in Hand. Die Thadenstraße runter, über den Pferdemarkt, die Feldstraße entlang. Das Weihnachtsglitzern und Lichtergedöns in den Fenstern nahmen sie nicht wahr, und hätten sie es wahrgenommen, es wäre ihnen egal gewesen. Auf Höhe der U-Bahn-Station überquerten sie die Straße, kein Auto weit und breit, da lief ihnen auch nur wieder Weihnachten über den Weg, und auch da war es wieder egal. Weihnachten bedeutete nichts, so wie alles nichts bedeutete.

Nur Yannick und Angel, das bedeutete was.

Sie liefen über den Platz beim alten Schlachthof, und Yannick lächelte. Das war sein Viertel hier. Er regierte es. Kontrollierte die Nutten und das Koks, dachte er manchmal bei sich, haha, gab hier ja gar keine Nutten. Egal. Er war der Chef. Dass das außer ihm und seinen Freunden niemand wusste, war genau richtig. Er wollte nicht berühmt sein. Er wollte nur machen, wozu er Lust hatte. So wie Snake.

Sie schlenderten die Marktstraße entlang, immer noch Hand in Hand, für immer einander versprochen. Sie kickten die Schneehäufchen vom Gehsteig, sie genossen ihr Reich.

»Hey, Yannick«, rief die Frau, die gerade ihren Schuhladen abschloss. Eine Freundin seiner Mutter, die er nicht mochte. Er mochte sie im Grunde alle nicht. Blöde Schnepfen, altes Gewöll, das so tut, als wäre es immer noch sexy oder wichtig. Genau wie seine Mutter.

»Frohe Weihnachten!«, rief die Frau.

Yannick nickte kurz, dann kuckte er wieder weg.

»Soll bloß das Maul halten, die blöde Fotze«, sagte er.

Er zog sich seine Kapuze über den Kopf und nahm seine Freundin in den Arm. Angel zitterte ein bisschen. Sie fror.

Wenn dicke Jacken nur nicht so hässlich wären.


»Halt«, sagte jemand hinter ihnen. »Stehen bleiben.«

Yannick drehte sich um. Angel stellte sich seitlich hinter ihren Freund und hielt sich an seinem Arm fest, aber es half ihr nicht. Die fünf Obdachlosen hatten um die beiden Jugendlichen einen Kreis formiert, und das in einer Geschwindigkeit, die ihnen niemand zugetraut hätte, am allerwenigsten sie selbst. Dunkle Gesichter sahen Yannick und Angel an. Ihre Blicke und ihr Schweigen waren von einer aggressiven Schwere, die in der Lage gewesen wäre, das Pflaster unter ihnen einzudrücken.

Sie mussten nicht sagen, was sie wollten. Yannick wusste es auch so. An ein paar von ihnen konnte er sich erinnern. Und sie wollten Rache.

Aber Snake würde sich nicht einschüchtern lassen.

»Verpisst euch«, sagte er.

Die Obdachlosen rührten sich nicht. Ihr fuseliger Atem, ihr Gestank nach Straße und Einsamkeit und Armut, das alles waberte Angel ins Gehirn. Ihr wurde schlecht. Die kamen ihr zu nah. Wenn sie die im Bunker vor sich hängen hatten, lebten sie fast nicht. Sie stanken dann irgendwie nicht so. Und die Mädchen gingen auch nie so nah ran wie die Jungs. Die Mädchen setzten nur mal einen Tritt. Sie waren ja eher zum Anfeuern dabei.

Yannick machte einen Schritt nach vorne, aber einer der Obdachlosen, der mit der Fliegermütze, schubste ihn zurück in die Mitte.

»Schön hierbleiben«, sagte ein anderer. Er trug eine verfilzte Fellmütze und einen fusseligen, bodenlangen Wollmantel.

»Lasst uns durch«, sagte Yannick und versuchte es noch mal. Denen musste man nur zeigen, mit wem sie es zu tun hatten: mit Snake. Wieder wurde er von dem Penner mit der Fliegermütze zurückgeschubst, diesmal packte er ihn richtig an den Schultern dabei, er hatte mehr Kraft, als Yannick gedacht hätte. Als er ihn am Haken gehabt hatte, war er nur ein nasser Sack gewesen, der sich eingepinkelt hatte. Ja. Er war einer der Ersten gewesen. Yannick empfand für einen Moment lang fast eine gewisse Zärtlichkeit für den Penner. So als würden sie sich gut kennen, als hätten sie zusammen was durchgemacht.

Angel hielt sich immer noch an seinem Jackenärmel fest. Yannick konnte spüren, dass sie Angst hatte. Sie brauchte keine Angst zu haben. Er würde sie beschützen.

»So«, sagte der Mann mit der Fellkappe, »denn mal her mit den Telefonen.«

Er griff in die rechte Tasche seines flusigen Mantels und holte eine Pistole raus. Yannick hatte keine Ahnung, ob die echt war. Sie sah verdammt echt aus.

»Telefone!«, sagte der Mann, jetzt etwas lauter. »Oder soll ich sie mir holen?«

Yannick griff in seine Hosentasche, holte sein Telefon raus und hielt es dem Mann hin. Der nahm es, gab es einem der anderen Obdachlosen und sagte:

»Akku rausholen.«

Dann hielt er Angel seine Hand unter die Nase.

»Telefon, Fräulein.«

Angel rückte ihr Telefon raus. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie ihr Telefon abgegeben. Als sie zusehen musste, wie einer der Obdachlosen mit seinen schmutzigen Fingern den Akku da rauspulte, hätte sie schreien können vor Wut.

Als die Sache mit den Telefonen erledigt war und der Mann mit der Fellmütze die Einzelteile in seinem Mantel verstaut hatte, richtete er die Pistole auf Angel, zeigte mit der freien Hand in Richtung Glashüttenstraße und sagte: »Und jetzt Abmarsch, ihr Früchtchen. Da lang.«

Yannick nickte Angel zu, und sie setzten sich in Bewegung. Der Mann nahm die Pistole ein Stück runter, pflückte Angel von Yannick weg und hielt ihr die Pistole in den Rücken.

»Und denk nicht mal drüber nach abzuhauen, mein Freund«, sagte er zu Yannick, »sonst ist dein Mädchen tot.«

So schlichen sie durch die Glashüttenstraße. Ein bizarrer Tross. Zwei junge, bockige Menschen vorweg, ein zerlumpter Haufen hinterdrein, düster brummend wie ein Gefangenenchor. Irgendwo in der Mitte des Heiligengeistfelds, es war dunkel, eisig und kalt, bat der Mann mit der Fellmütze einen seiner Kollegen, mal kurz die Waffe zu halten. Er holte aus der Innentasche seines riesigen Mantels einen Schürhaken heraus.

Jetzt erschlagen sie uns, dachte Yannick, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hatte er Angst. Snake, dachte er, verdammt. Snake würde sich nicht so einfach erschlagen lassen. Aber er war nicht Snake. Er hatte nichts von dem, was Snake hatte.

Snake war nicht mehr da.

Der Mann mit dem Schürhaken bückte sich und hebelte einen Kanaldeckel auf, während einer, der aussah wie ein Geier, die Pistole hielt. Der Geier wirkte zappelig. Zu viel Alk, das sah man sofort. Vielleicht, dachte Yannick, könnten wir jetzt abhauen. Er sah sich um. Das Heiligengeistfeld war ein schwarzes Loch. Rechts sah er die Umrisse des Bunkers, da vorne musste die Budapester Straße sein, hinter ihnen war die Feldstraße. Alles groß und mächtig. Er und Angel waren zu klein. Sie würden es nicht schaffen. Es war Heiligabend. Es war keiner da, der das alles hätte beobachten können.

»Bitte schön«, sagte der Mann mit dem Mantel, zeigte auf das dunkle Loch im Boden, verstaute den Schürhaken in seinem Mantel und nahm die Pistole wieder an sich. »Bitte schön«, sagte er noch mal. Seine Stimme schnarrte.

Er will uns in der Kanalisation ertränken, dachte Yannick, und er wusste nicht, ob er eigentlich froh darüber sein sollte, nicht auf der Stelle erschlagen worden zu sein. Kanalisation war ja auch kein Zuckerschlecken.

Angel dachte an gar nichts. Die Kälte hatte von ihr Besitz ergriffen, schon vor langer, langer Zeit. Hatte ihr Herz gefrostet. Und die Kälte in ihr reagierte jetzt genauso wie in den Situationen zu Hause, wenn ihre Mutter sie anschrie und schubste und schlug: Sie fror auch die Gedanken ein. Sie drehte Angel einfach runter. Stellte alle Funktionen ab. Wenn die Kälte übernahm, war Angel nicht mehr da.

Als wäre sie ein Roboter, kletterte sie in den Schacht, ließ sich dann fallen und landete mit den Füßen auf dem Boden eines Tunnels. Yannick kletterte etwas vorsichtiger nach unten; als auch er in der schummrigen Röhre stand, sahen sich die beiden an. Vor ihnen lag eine endlose, dunkle Feuchtigkeit, über ihnen rutschte der Mann mit dem Mantel durch den Einstieg. Dann stand er hinter ihnen, mit der Pistole in seiner Hand. Der Kanaldeckel wurde von außen wieder zugeschoben, sie hörten noch einmal, zweimal, dreimal ein röcheliges Stöhnen und Schnauben, dann hörten sie nichts mehr.

Hier waren sie jetzt also. Yannick und Angel und der Mann mit dem Mantel, den alle nur »den Wolfsmann« nannten. Die drei waren alleine. Alleine mit der Angst, die die Vierte im Bunde war.

Auch der Wolfsmann spürte sie. Plötzlich wurde ihm das hier zu groß, was wollte er eigentlich von der Brut. Für eine Sekunde dachte er daran, nach seinen Kollegen zu rufen, aber dann ließ er es doch. Er vertrieb die Angst aus seinem Nacken, so wie er es sein halbes Leben lang schon machte, und schob sie zu den beiden jungen Leuten rüber. Die hatten von seinem Manöver nichts mitgekriegt. Er konnte erkennen, wie ihre Umrisse zitterten. Seine Augen waren gut in der Dunkelheit.

»Vorwärts«, sagte er.

Yannick und Angel setzten sich in Bewegung. Langsam, vorsichtig, einen Fuß vor den anderen. Die Feuchtigkeit im Tunnel war gefroren, sie tasteten sich durch eine geeiste Röhre.

»Da runter«, sagte der Wolfsmann.

»Wo runter?« Yannick versuchte immer noch, seine Stimme gefährlich klingen zu lassen. Es gelang ihm nicht. Seine Stimme klang jämmerlich. Wie ein Milchbrötchen.

»Na, da«, sagte der Wolfsmann und machte eine Taschenlampe an. Er war sonst nie in Begleitung hier unterwegs, es verunsicherte ihn, dass die beiden sich nicht zurechtfanden. Er leuchtete mit der Taschenlampe auf die rechte Wand der Röhre. Da war ein Loch. Davor ging es zwei Stufen hoch, dahinter eine Treppe hinunter.

»Los, runter da«, sagte der Wolfsmann.

Angel ging als Erste, die Kälte gab ihr die Kraft dazu. Die Kälte machte alles egal und möglich. Yannick ging ihr nach. Wenigstens das Mädchen beschützen, wenigstens das. Snake. Von wegen.

Der Wolfsmann ging als Letzter, der Schein seiner Taschenlampe reichte weit nach vorne. Angel konnte sehen, dass es eine lange Treppe war. Bestimmt zwanzig Stufen, schnurgerade nach unten. Am Ende waren sie wieder in einem Tunnel. Aber dieser Tunnel war trocken. Und alt. Das konnte Angel spüren. Sie hatte keine Ahnung von Gebäuden oder Geschichte, aber wenn man einem Bauwerk das Alter anmerkt, wenn man all die Seelen spürte, die jemals in ihm waren, dann musste es sehr alt sein, das wusste sie. Der Tunnel war aus hellem Stein gehauen, und er war angenehm hoch. In der Kanalisationsröhre hatten sie den Kopf einziehen müssen. Hier nicht. Hier konnte man aufrecht stehen, und es war noch Luft nach oben. Angel spürte, wie die Kälte aus ihren Gedanken wich. Wie die Angst einen kleinen Teil von ihr freigab. Vielleicht wollte der Wolfsmann sie ja gar nicht umbringen. Sie sah sich zu Yannick um. Er wirkte plötzlich viel jünger als sonst. Seine Schultern waren so schmal.


Der Wolfsmann verriegelte die Eisentür. Den Riegel sicherte er mit einem dicken Vorhängeschloss, dann machte er die Taschenlampe aus und drehte an einem altmodischen Lichtschalter. Ein paar Glühbirnen, die desorientiert von der Decke baumelten, gingen an und tauchten den Raum in graugelbes Licht.

»So«, sagte der Wolfsmann, »da wären wir.«

Es klang ein bisschen, als wollte er ihnen etwas Aufregendes zeigen. Und Angel fand den Ort auch gar nicht mal so schlecht. Ein Gewölbe mit bestimmt drei Meter hohen Decken. Die Decke war in ein Dutzend kleine, geschwungene Kuppeln unterteilt, von Säulen getragen. Wie eine Kirche war das gebaut. Aus dem gleichen hellen Stein wie der Tunnel, durch den sie gekommen waren.

Im Grunde war es überall besser als zu Hause.

»Wo sind wir?«, fragte Angel.

Der Wolfsmann brummte und zeigte auf eine Matratze, die in der Mitte des Gewölbes an einer Säule lehnte. Er fuchtelte ein bisschen mit seiner Pistole.

»Ihr könnt euch da draufsetzen«, sagte er.

Yannick rührte sich nicht. Er war kurz davor loszuheulen, aber er riss sich zusammen wie noch nie in seinem Leben. Und er hoffte inständig, dass weder seine Freundin noch der Penner es bemerken würden. Angel nahm ihn an der Hand und zog ihn zu der Matratze. Sie kippte die Matratze auf den Boden, ignorierte die Flecken und setzte sich drauf. Sie klopfte mit der Hand ganz sachte auf den freien Platz neben sich und sagte zu Yannick:

»Na, komm schon.«

Als Yannick sich hinsetzte, fühlte sich das an, als würde er zusammenbrechen.

Der Wolfsmann schlurfte in die hinterste Ecke des Gewölbes. Da stand noch eine Matratze an der Wand. Davor lagen ein paar ordentlich zusammengelegte Wolldecken, eine Schachtel mit Keksen und zwei bunte alte Seile, so wie man sie zum Klettern verwendet.

Der Wolfsmann nahm die Taue, schlurfte zurück zu Yannick und Angel.

»Rutscht mal an die Säule ran.«

Er legte die Pistole zur Seite, und sie ließen sich von ihm an die steinerne Säule fesseln. Yannick hatte kurz daran gedacht, ihn zu treten, ihn zu überwältigen, es ihm so richtig zu geben. Aber er konnte nicht. Der Wolfsmann war jetzt der Stärkere.

Angel dachte nicht eine Sekunde darüber nach, abzuhauen. Wohin denn auch. Sie sah dem Wolfsmann in die Augen, als er sie fesselte. Es waren dunkelbraune Augen mit winzigen Spritzern in Gold, die Augen wirkten tief und warm. So einer fesselt normalerweise nicht.

»Warum?«, fragte sie.

Er trat einen Schritt zurück, nahm seine Pistole vom Boden auf und steckte sie in seine Manteltasche.

»Ihr wart böse.«

»Das stimmt«, sagte Angel.

Yannick sagte: »Schwachsinn.«

Langsam, ganz langsam fand er seine Stimme wieder. Auch wenn er gefesselt war, spürte er, dass das hier eventuell nicht so schlimm werden würde, wie er gedacht hatte.

»Erinnert ihr euch an den Mann, den ihr vor drei Tagen halb totgeprügelt habt?«

Yannick wusste nicht genau, welchen Mann er meinte. Angel begriff sofort, von wem der Wolfsmann sprach. Sie erinnerte sich an seine Füße. Die waren so hart und dick gewesen wie bei keinem anderen.

»Er war mein Freund«, sagte der Wolfsmann.

Er knöpfte seinen Mantel zu.

»Und jetzt ist er tot.«

Dann ging er um die Säule herum und zog die Fesseln stramm. Yannick und Angel konnten sich keinen Millimeter mehr bewegen, und der Stein drückte gegen ihre Wirbelsäulen. Es war egal. Sie waren erstarrt. Dass einer der Obdachlosen sterben könnte, war nicht eingeplant gewesen.

Der Wolfsmann ging zurück zur Eisentür, drehte am Lichtschalter, das Licht erlosch, sie hörten, wie er noch mal an ihnen vorbeischlurfte, und dann war er weg.

Angel starrte in die Dunkelheit. Die Kälte kam zurück.

Der Junge, der mal Snake Plissken war, fing an zu weinen.


Der Wolfsmann stieg die paar Treppen zur Schachtel hinauf. Die Schachtel war niedrig, man konnte kaum stehen in der Schachtel, aber ihr Vorteil war, dass sie ein bisschen wärmer war. Die Schachtel lag genau zwischen dem Keller und der Straße. Im Keller war nichts, in der Schachtel konnte man das Leben da draußen schon wieder ahnen. Die Scheiße da draußen. Aber zum Aufwärmen war sie gut. Von der Schachtel ging eine weitere Treppe ab, die führte nach oben. Am Ende der Treppe schob der Wolfsmann eine Stahlplatte zur Seite. Dann eine dicke Holzplatte. Er griff zwischen die schweren Mäntel und Anzüge aus den sechziger Jahren, die an der Kleiderstange hingen, schob sie auseinander, schloss die Schranktür von innen auf und stand in einem alten Laden. Niemand brauchte den Laden mehr. Irgendwer hatte hier ein paar alte Sofas abgestellt. Manchmal, wenn es ihm im Keller zu kalt war, schlief der Wolfsmann hier oben. Aber nicht so gern. Die Schlüssel zu dem Laden hatte ihm mal einer geschenkt. So hatte er alles gefunden. Den Kleiderschrank. Die Schachtel. Den Keller.

Er schloss die Ladentür auf, hob das Gitter ein bisschen aus den Angeln und schob sich hindurch. Hinter sich machte er alles wieder gut zu. Niemand wusste, was hinter diesen schäbigen Ladenfenstern für ein Schatz lag, und das sollte auch so bleiben.

Er zog seine Fellmütze tiefer in die Stirn. Mit jeder Nacht wurde es kälter. Affenwinter. Er sah in den Hamburger Himmel. Ohne dass er es bemerkte, lief ihm eine Träne über die Wange. Da oben war in dieser Nacht kein Stern zu sehen, kein Mond. Nur Schnee, der aus den schwarzgrauen Wolken fiel.

Er hatte keine Ahnung, was er jetzt mit den beiden machen sollte.


Irgendwann waren ihnen die Augen zugefallen. Die Schultern und Köpfe aneinandergelehnt, beruhigt vom Atmen des anderen, waren Yannick und Angel eingeschlafen. So wie Kinder eben einschlafen, wenn die Batterien leer sind. Sie waren auch nicht aufgewacht, als der Wolfsmann zurückgekommen war, mit einer Thermoskanne Tee in der Manteltasche. Er hatte die beiden schlafen lassen, ihre Fesseln gelockert und ihnen eine Decke über die Beine und Füße gelegt. Dann war auch er schlafen gegangen, auf seiner Matratze in der Ecke. Es war ihm schwergefallen, das Gefühl zu benennen, das er bei dem Gedanken gehabt hatte, diese Nacht nicht alleine zu verbringen.


Angel war als Erste wach. Es war dunkel im Keller, kein Hauch von Licht in der Luft, aber es musste gegen Morgen sein, denn sie war nicht mehr müde, und sie hatte Hunger. Sie lauschte in die Dunkelheit. Der Wolfsmann schnarchte ein bisschen, aber nur ganz leise. Ihr taten die Arme weh. Sie ruckelte ein bisschen an dem Seil, mit dem sie an die Säule gebunden war, und spürte, dass es lockerer saß als vor dem Einschlafen. Sie konnte ihre Arme sogar ein Stückchen nach vorne schieben. Von ihrem Ruckeln wachte Yannick auf.

»Sind wir tot?«

»Nein«, sagte Angel, »wir sind nicht tot.«

»Mir tun die Arme weh«, sagte Yannick.

»Mir auch«, sagte Angel. »Könnte aber schlimmer sein.«

»Wo ist der Penner?«

»Der Penner würde gerne noch schlafen«, knurrte der Wolfsmann von hinten. »Aber bei eurem Gequatsche geht das ja nicht.«

Sie hörten, wie er sich seine Wolldecke vom Leib schob und zum Lichtschalter schlurfte. Klack. Die Glühbirnen fingen an zu glimmen. Der Wolfsmann schlurfte zurück in seine Ecke, holte die Thermoskanne und schlurfte zu Yannick und Angel. Er setzte sich vor die beiden auf den Boden, öffnete die Kanne, goss die immer noch warme Flüssigkeit in den abgeschraubten Deckel und fragte:

»Tee?«

Angel nickte. Yannick starrte ihn an.

Der Wolfsmann setzte Angel den Becher an die Lippen und ließ sie trinken. Dann hielt er den Becher auch Yannick hin. Yannick schüttelte den Kopf.

»Keine Angst«, sagte der Wolfsmann. »Da ist kein Gift drin. Keine K.-o.-Tropfen.«

Yannick stieg eine plötzliche Hitze ins Gesicht. Er hätte dem Penner seinen blöden Becher am liebsten aus der Hand getreten, direkt ins Gesicht, das Gesicht verbrannt, fertigmachen würde er ihn. Aber Snake Plissken war und blieb verschollen.

»Na, komm schon«, sagte der Wolfsmann. »Nimm einen Schluck.«

Er setzte ihm den Becher an den Mund, und Yannick hätte nicht gedacht, wie gut es tun könnte, warmen Pfefferminztee zu trinken.

»Also«, sagte der Wolfsmann, nachdem er auch getrunken hatte. »Jetzt müssen wir überlegen, was wir heute machen.«

Haha, dachte Yannick, machen, so ein Schwachsinn, der stinkende Idiot hat uns hier festgebunden, was sollen wir schon machen. Angel musste tatsächlich ein bisschen grinsen.

So begann der erste Tag. Das dunkle, kalte, langsame Leben im Keller.

Es war der erste Weihnachtstag. Oben saßen die Leute in ihren Wohnzimmern. Kuschelten sich in ihre Couchgarnituren. Überlegten, welche Geschenke sie umtauschen sollten und welche nicht. Hier unten spielte das alles keine Rolle. Hier unten war nichts außer ihnen dreien. Sie saßen einfach nur rum, mit ein bisschen Licht an. Sie redeten nicht, schauten sich nur hin und wieder an.

Als Angel mal musste, band der Wolfsmann sie los und brachte sie in eine Ecke ganz am Ende des Kellers. Hinter eine Mauer. Da ging eine Treppe nach oben, aber da oben war eine Betondecke. Am unteren Ende der Treppe stand ein Eimer, der Boden war herausgeschnitten, und darunter war ein Loch im Keller. Der Wolfsmann wusste nicht, wohin das Loch führte, aber er war ein pragmatischer Mensch, und so hatte er sich aus dem Loch und dem Eimer eine Toilette gebaut.

Irgendwann musste Yannick auch mal, und wenn er sich nicht in die Hose machen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich vom Wolfsmann zur Toilette bringen zu lassen.

Gegen Mittag zog der Wolfsmann die Fesseln wieder fester, machte das Licht aus und ging. Vielleicht eine Stunde später kam er zurück. Er hatte gebratenen Reis mit Gemüse dabei, zwei Portionen. Die Kellner des asiatischen Restaurants im Schanzenviertel gaben mittags Essen an Obdachlose aus, er hatte ihnen eine zusätzliche Portion abgeschwatzt, angeblich für einen kranken Freund.

Schmeckte ganz gut.

Als es Zeit zum Schlafen war, fragte Angel den Wolfsmann, ob er ein Licht anlassen könnte. Es sei ihr zu dunkel. Der Wolfsmann brummte. Dann holte er eine Leiter und schraubte aus allen Fassungen die Glühbirnen raus, bis auf eine. Es war schummrig im Keller, dunkelgolden. Das Licht war jetzt so ähnlich wie in der Bar, die genau obendrüber lag, aber davon wussten Angel und Yannick nichts.

Der Wolfsmann dachte darüber nach, wie man die verdammte Bude mal ein bisschen wärmer kriegen könnte.

Und Yannick war Angel so dankbar für die Sache mit dem Licht, dass er schon wieder fast geheult hätte.


Am zweiten Tag gab es gebratene Nudeln mit Huhn. Am dritten Tag gab es wieder Nudeln, aber diesmal waren sie nicht gebraten, sondern es gab eine klebrige, scharfe Sauce dazu. Ziemliche Sauerei. War schwierig zu essen. Der Wolfsmann band Angel und Yannick los, er band sie tatsächlich beide los, zum ersten Mal, seit sie hier waren. Dann aßen sie zu dritt aus zwei Styroporpackungen. Die Kellner aus dem asiatischen Restaurant glaubten ihm die Geschichte mit dem kranken Freund. Oder sie fanden einfach, dass man einem Obdachlosen rund um Weihnachten ruhig auch mal zwei Portionen Essen ausgeben kann.

Abends, als alle müde wurden, band der Wolfsmann Angel und Yannick wieder fest. Irgendwie fühlten sich die drei wohler so. Dass eine Glühbirne anblieb, war inzwischen selbstverständlich.

Am vierten Tag brachte der Wolfsmann von seinem Mittagsausflug nicht nur etwas zu essen und zu trinken mit, sondern auch ein Scrabble-Spiel. Das hatte er in der Tauschbox am Paulinenplatz gefunden. Es gab da immer mal wieder tolle Sachen. Er besorgte sich dort regelmäßig Bücher, las sie und stellte sie zurück. Angel und Yannick spielten Fangen, als er in den Keller stieg, und zwischendrin küssten sie sich. Er freute sich, als er die beiden so ausgelassen sah.

Nach dem Essen, es gab gebratenen Reis mit Huhn, holte der Wolfsmann das Scrabble-Spiel aus seinem Mantel. Sie legten die beiden Matratzen so, dass sie sich gegenübersaßen, das Spiel stellten sie in die Mitte. Sie brauchten eine Weile, bis es sich zurechtruckelte, wie immer, wenn man Scrabble spielt, aber dann klappte es ganz gut. Es klappte sogar wie am Schnürchen. Sie legten Worte wie die Weltmeister. Weder Angel noch Yannick konnten sich daran erinnern, dass ihre Eltern jemals mit ihnen gespielt hätten, was auch immer. Die Eltern des Wolfsmannes hatten mit ihm gespielt. Aber das war in einem anderen Leben, in einer anderen Welt gewesen. Als er dran war, legte er das Wort Wolkenbruch.

Angel nickte anerkennend, sah ihm ins Gesicht und legte das Wort Hackfresse. Seine Mundwinkel fingen an zu zittern, aus seinem Inneren kam ein Keuchen, und dann brach es hervor, das lauteste Lachen, das Angel jemals gehört hatte. Yannick war kurz zusammengezuckt. Aber dann lachten sie alle drei, und sie konnten einfach nicht mehr aufhören damit.

Als sie müde wurden, schoben sie die Matratzen zusammen und legten sich hin. Angel in der Mitte, rechts Yannick, links der Wolfsmann. War doch wärmer so.


Am fünften Tag lag eine seltsame, ganz neue Traurigkeit im Keller herum. Gestern zu viel gelacht. Und dem Wolfsmann war in der Nacht klargeworden, dass es vorbei war. Dass er die beiden gehen lassen musste, am besten gleich. Yannick und Angel wussten es auch. Sie aßen noch zusammen, es gab einen Sack voller Frühlingsrollen. Dann schoben sie die Matratzen an die Wand und ließen sich vom Wolfsmann sein Leben erzählen. Diesmal war es Angel, die weinen musste.

Gegen Abend, es war kurz vor sieben, gab der Wolfsmann ihnen die Telefone zurück. Sie setzten die Akkus ein, machten die Geräte an und lasen all die Nachrichten und sahen all die vergeblichen Anrufe.

»Die haben uns gesucht«, sagte Angel.

»Die suchen euch immer noch«, sagte der Wolfsmann. Er hatte die Polizisten durchs Viertel streifen sehen, immer wieder. Er war ein paar Mal kurz davor gewesen zu sagen: Kommt mit, ich zeige euch, wo die Kinder sind. Und dann dachte er: Nur ein bisschen noch.

Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis Angel und Yannick beschlossen, jetzt zu gehen.

Der Wolfsmann brachte sie nach oben, schob sie durch den Kleiderschrank in den alten Laden, schloss die Tür auf und hob das Gitter aus den Angeln. Weil er nicht sehen wollte, wie sie davongingen, drehte er sich um und verschwand wieder in seinem Keller.

*

Das Möwe Sturzflug ist auch wieder so ein Ding. Eine Bar, wie es nur noch ganz wenige gibt auf Sankt Pauli. Da kann einer wie der Faller neben einer wie mir sitzen, und niemand findet es komisch. Da sitzen eigentlich nur Typen wie wir rum, die sind durch die Bank relativ verlebt, verkantet, verschickt, alle sehen irgendwie besonders aus, aber keiner besonders gut. Im Möwe Sturzflug trifft sich die Ureinwohnergemeinschaft und nicht die Eigentümergemeinschaft. Die Fenster sind alt, wellig und bodenlang, von den Wänden bröckelt der Putz, die Gäste sitzen am angeritzten Tresen und auf tiefergelegten, fransigen Sofas, in den Ecken stehen gebrechliche Stehlampen mit roten und gelben Schirmen. Aus den Lautsprechern fallen Klagelieder von Amy Winehouse.

Das Möwe Sturzflug ist eine leicht angegammelte Schönheit, ein Ort, an dem sich Sankt Pauli manifestiert.

Der Faller bestellt bei dem Mädchen mit den roten Rastazöpfen einen Apfelsaft für sich und ein Bier für mich. Wir sind durchs Karoviertel gelatscht, bis uns die Socken gequalmt haben, was bei dieser Kälte echt eine beachtliche Leistung ist. Wir haben jede einzelne kleine Gasse abgesucht, und nirgends haben wir jemanden gefunden, der mit uns geredet hätte. Also, mit uns geredet haben die Leute schon, aber: der Wolfsmann? Nie gesehen. Kennt keiner.

Irgendwann konnten wir nicht mehr und sind im Möwe Sturzflug gelandet, in diesem dreieckigen alten Haus. Vielleicht ist es ja auch der merkwürdige Grundriss, der den Laden für Leute wie uns so interessant macht.

Das rothaarige Mädchen schiebt unsere Getränke rüber, wir stoßen an und trinken. Der Faller schüttelt sich.

»Bah, ist das Zeug kalt«, sagt er. »Ich hätte mir Kakao bestellen sollen.«

»Kakao gibt’s hier nicht«, sagt das rothaarige Mädchen. »Ich könnte dir ’n Grog machen.«

»Nee, nee«, sagt der Faller, »lass mal.«

»Ich will aber nicht, dass hier jemand friert«, sagt sie. Sie greift über die Theke, nimmt dem Faller sein Glas aus der Hand und hält die Heißdüse von der Kaffeemaschine in den Apfelsaft. Dann stellt sie ihm das Glas wieder hin, steckt eine Stange Zimt rein und sagt:

»Bitte schön, so geht’s bestimmt besser.«

Der Faller kuckt, als hätte er sich verliebt. Ich könnte es ihm nicht verdenken. Das war sehr süß von dem rothaarigen Mädchen.

Mein Telefon klingelt. Der Tschauner ist dran.

»Was gibt’s?«, frage ich.

»Wir haben die Telefone von Yannick und Angel geortet«, sagt er.

»Wo kommt das Signal her?«, frage ich.

»Sankt Pauli«, sagt er. »Annenstraße Ecke Clemens-Schultz-Straße.«

»Da bin ich gerade«, sage ich.

»Wie bitte?«

»Kennen Sie das Möwe Sturzflug?«

»Klar«, sagt er. »Aber unsere Vermissten sitzen ja wohl kaum gemütlich in der Kneipe, oder?«

»Ich schau mich hier mal um«, sage ich. »Bleiben Sie dran?«

»Natürlich, Chef.«

Ich nehme mein Telefon vom Ohr und drehe eine Runde durch die Bar. Hier ist niemand unter dreißig. Ich halte mir das Telefon wieder ans Ohr.

»Tschauner?«

»Yo.«

»Was macht das Signal?«

»Es entfernt sich«, sagt er, »ist jetzt in der Clemens-Schultz-Straße, fast schon an der Hein-Hoyer-Straße.«

»Schicken Sie sofort ein paar Leute hin.«

»Die sind schon unterwegs«, sagt er.

»Gut«, sage ich. »Ich versuche rauszufinden, wo die hier gesteckt haben. Ich ruf Sie gleich wieder an.«

Der Faller kuckt verknittert.

»Nee, oder?«

»Doch«, sage ich. »Die waren hier.«

»Und jetzt leben sie und sind wieder frei?«

»Keine Ahnung«, sage ich. »Die Kollegen verfolgen das Telefonsignal der beiden.«

Ich hab Hummeln im Bauch, einen ganzen Schwarm. Ich heb gleich ab. Das rothaarige Mädchen sieht mich an.

»Wen sucht ihr?«, fragt sie.

»Zwei Jugendliche, die seit ein paar Tagen verschwunden sind«, sage ich. »Sieht so aus, als wären sie vor ein paar Minuten noch irgendwo hier im Haus gewesen. Kennst du die Wohnungen?« Ich zeige mit dem Finger an die Decke.

Sie nickt.

»Direkt obendrüber wohnt unser Chef«, sagt sie. »Darüber seine Freundin. Und ganz oben wohne ich.«

Ich kann mir nicht helfen: Sie sieht mich an, als wüsste sie was.

»Gibt’s hier einen Keller?«, frage ich.

»Ja, klar«, sagt sie, »den haben die Bullen vor ein paar Tagen auch durchsucht, wie alle Keller hier in der Ecke.« Sie sieht zu Boden. »Ich wusste nicht, dass die ein paar junge Leute suchen. Ich dachte, das wäre so ’ne Art Razzia.« Sie wirkt zerknirscht.

»Gibt es einen Keller, den die Polizisten nicht gesehen haben?«

Sie macht eine kleine Schublade hinter der Theke auf, in der jede Menge Zettel, Gummibänder und Flaschenöffner liegen. Sie zieht einen Schlüssel an einem schwarzen Band mit Totenköpfen raus.

»Kommt mal mit.«

Sie geht zur Tür, der Faller und ich folgen ihr. Sie geht rechts ums Eck, in die Clemens-Schultz-Straße rein. Vor einem verschnörkelten schmiedeeisernen Gitter bleibt sie stehen. Das Gitter ist aus den Angeln gehoben, die dahinter liegende Tür ist nur angelehnt.

»Oh«, sagt sie.

»Was ist?«, frage ich.

Dem Faller ist kalt. Er tritt von einem Fuß auf den anderen. Ich bin froh, dass er da ist.

»Er lässt die Tür sonst nie auf«, sagt sie.

»Wer?«, frage ich.

»Ich weiß nicht, wie er heißt«, sagt sie. »Er schläft hier.«

Wir machen das Gitter auf und die Tür, ich mache mit dem Display meines Telefons ein bisschen Licht, es reicht gerade aus, um zu sehen, dass am Ende des Raumes ein alter Kleiderschrank offen steht.

»Da«, sagt das rothaarige Mädchen, »durch den Schrank.«

Ich gehe vor und leuchte, der Faller geht hinter mir. Das Licht meines Displays fällt durch den Schrank durch, der keine Rückwand mehr hat. Dahinter ist eine Treppe, wenn ich das richtig sehe.

»Was ist da unten?«, frage ich.

»Die Pesthöfe«, sagt das Mädchen. »Sankt Pauli ist unterkellert, das ganze Viertel, wusstet ihr das nicht?«

Ich schüttele den Kopf. Der Faller kuckt wie ein Auto.

»Das ist noch aus der Pestzeit«, sagt das rothaarige Mädchen. »Die Kranken, die mit den Schiffen im Hafen ankamen, mussten ja irgendwie zu den Krankenhäusern geschafft werden. Das haben die wohl unterirdisch gemacht. Ach, was weiß denn ich. Erzählt man sich halt so. Die meisten Gänge und Keller sind wahrscheinlich auch zugeschüttet. Aber hier unten, direkt unterm Möwe Sturzflug, ist der Rest eines alten Krankenhauses. Die Pesthöfe eben. So hieß das damals.«

Ich glaub, ich spinne. Wieso weiß ich so was nicht?

»Ich muss zurück in die Bar«, sagt das Mädchen. »Ihr schafft das alleine, oder?«

Ich nicke.

»Danke«, sage ich.

Sie zuckt mit den Schultern, und dann ist sie weg.

Pesthöfe. Unglaublich.

*

»Darf ich Sie was fragen?«

Der Wolfsmann sieht mich an, brummt. Er sitzt auf einer Matratze, lehnt mit dem Rücken an der Wand. Über ihm baumelt eine einzelne Glühbirne. Sie taucht das Gewölbe in ein dunkles, geheimnisvolles Licht, sieht aus wie eine kleine Kathedrale. Ich wusste nicht, dass wir so was haben auf Sankt Pauli.

Der Wolfsmann brummt noch mal. Dann nickt er.

»Worauf warten Sie, wenn Sie an der Feldstraße stehen?«

Er sieht mich weiter an, regungslos. Dann sieht er zu Boden, streicht mit den Fingern über ein Scrabble-Spiel, das zu seinen Füßen liegt.

»Auf wen warten Sie da immer?«

Er holt Luft, sieht kurz durch mich hindurch, dann wieder in meine Augen.

»Auf einen Engel«, sagt er. »Aber ich schätze, damit höre ich jetzt auf.«