26. Dezember:
Snake Plissken
Es ist ein bisschen unglücklich: Als der Inceman anruft, liege ich noch in Klatsches Bett.
Ich bin bestimmt einmal am Tag in Versuchung, die Karten auf den Tisch zu packen. Klatsche einfach zu sagen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit mit meinem türkischen Kollegen eine Nacht verbracht habe. Und es ist ein schreckliches Gefühl, es nicht zu sagen. So ein unehrliches Ding zwischen uns, das passt nicht. Aber es würde ihm unnötig weh tun, wenn er es wüsste. Er hätte ja auch nichts davon. Ich wäre halt mein schlechtes Gewissen los. Seltsam, wir messen da mit zweierlei Maß. Klatsche hat mich schon so oft beschissen, und das geht im Prinzip in Ordnung. Ich bin häufig nicht erreichbar für ihn, emotional verschollen, in mir selbst eingemauert.
Wo soll er denn dann auch hin mit sich.
Aber wenn ich das mal tue, wenn ich zu jemand anderem ins Bett steige, hat es eine Menge mehr zu bedeuten. Ich mache das nicht einfach so. Das wissen wir beide.
Ich gehe lieber nicht ans Telefon. Ich lasse den Inceman hängen. Ich hoffe, dass Klatsche das jetzt nicht großartig gemerkt hat.
Er hat es gemerkt.
»Was sollte das denn? Du gehst doch sonst immer ans Telefon?«
»Ich mach mal Kaffee«, sage ich und stehe auf. Mein Telefon nehme ich mit.
Beim Kaffeemachen rufe ich den Inceman zurück. In Klatsches Küche kann ich ein Gespräch mit ihm verkraften, in Klatsches Bett nicht.
»Entschuldige«, sage ich und räuspere mich, als er rangeht. »Ich war gerade nicht schnell genug.«
»Kein Problem«, sagt er, und seine tiefe Samtstimme klingelt in meinem Bauch. »Ich hab mich mal ein bisschen schlaugemacht. Die von Heesens sind ziemlich erfolgreiche Unternehmer. Haben eine gar nicht mal so kleine Werbeagentur, die repräsentativ und obercool im alten Hochbunker an der Feldstraße sitzt. Sie arbeiten seit zwanzig Jahren für ausgesuchte Kunden aus Hamburg und Berlin. Das Haus in der Wohlers Allee haben sie vor zehn Jahren gekauft.«
»Danke«, sage ich.
»Darf ich jetzt noch erfahren, was du von den Leuten willst?«
»Ihr Sohn ist verschwunden«, sage ich. »Und ich glaube, dass das irgendwas mit den Obdachlosen zu tun hat, die seit ein paar Wochen im Karoviertel zu Brei gehauen werden.«
»Aha«, sagt er. »Was soll das denn damit zu tun haben?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, dass Yannick von Heesen zuletzt im Karolinenviertel gesehen wurde. Und dass seine Schwester das ganz offensichtlich ziemlich nervös macht. Da liegt die Schnittmenge.«
»Aha«, sagt er noch mal. »Klingt ja interessant.«
»Der Calabretta findet’s eher langweilig«, sage ich.
»Der Calabretta hat den Kopf voll«, sagt der Inceman. »Der ist angespannt. Da geht gerade was im großen Stil schief. Wenn er Pech hat, rutscht ihm der Albaner wieder durch die Lappen. Und könnte sein, dass uns das dann auch mehr gekostet hat als nur Geld.«
»Ich weiß«, sage ich. »Sieht nicht gut aus, oder?«
»Sieht überhaupt nicht gut aus«, sagt er. »Sieht eher richtig scheiße aus.«
Ich hasse meinen Urlaub.
»Steckst du da eigentlich gar nicht mit drin«, sage ich, »in der Albaner-Jagd?«
»Ich hab auch Urlaub«, sagt er, »schon seit zwei Wochen. Gar nicht mitgekriegt, hm?«
Oh. Ich sage nichts, es ist ein paar Sekunden Stille zwischen uns. Im Rest der Wohnung ist es auch still, Klatsche ist wohl wieder eingeschlafen.
»Und du gehst heute dann wahrscheinlich noch ein bisschen in der Wohlers Allee schnüffeln, oder?«
»Ja«, sage ich, »ich hab’s ja nicht so mit Weihnachten.«
Und ich hab’s auch im Moment nicht so mit meiner Wohnung.
»Kann ich mitkommen?«
So was in der Art hab ich mir jetzt fast schon gedacht. Ich hätte wetten können, dass der Inceman auch nicht weiß, was er mit seinem Urlaub so anfangen soll.
*
Am Klingelschild steht von Heesen. Und obendrüber, das muss die Klingel fürs ausgebaute Dachgeschoss sein, da steht Snake Plissken. Ist mir gestern gar nicht aufgefallen, so schnell hatte Yannicks Mutter die Tür aufgerissen.
»Wer ist Snake Plissken?«
»Die Klapperschlange«, sagt der Inceman.
Ach ja.
»Worum geht’s da noch mal genau?«, frage ich.
»Großstadtwestern mit Kurt Russell, Science-Fiction, frühe achtziger Jahre. Ganz Manhattan ist abgesperrt, gewalttätig und sich selbst überlassen. Und Snake Plissken ist der coolste Bad Guy von allen.«
»Was du alles weißt.«
»Ich vergesse nichts«, sagt er, und so wie er mich in diesem Augenblick ansieht, ist klar, dass er dabei nicht an die Klapperschlange denkt.
Es ist kurz vor vier, es dämmert schon ordentlich. Das Haus der Familie von Heesen ist ein Hamburger Bildungsbürgertraum. Hellblau gestrichener Jugendstil direkt am geschichtsträchtigen Wohlers Park, weißer Stuck an der Fassade, das weitläufige Erdgeschoss, das Obergeschoss mit der kleinen Terrasse. Im Garten steht ein alter efeuumrankter Baum, der weiße Holzzaun gibt dem Grundstück etwas Skandinavisches. Ich schaue vorsichtig durchs Wohnzimmerfenster. Kann niemanden sehen, aber die Lichter sind an, die Kerzen am Weihnachtsbaum brennen, es ist wohl jemand da.
»Und Snake Plissken ist also verschwunden«, sagt der Inceman.
»Ja«, sage ich. »Snake Plissken und seine Cobrafreundin.«
»Haben die Kollegen die Telefone der beiden schon geortet?«
»Haben sie natürlich versucht«, sage ich, »aber da ist nichts zu machen. Die Telefone sind aus.«
»Nicht gut«, sagt der Inceman.
»Oder ganz besonders clever«, sage ich.
»Oder einfach nur der Akku alle«, sagt der Inceman. »Sollen wir klingeln?« Er macht Anstalten, seinen Dienstausweis zu zücken.
Ich schüttele den Kopf.
»Ich war da gestern schon drin«, sage ich. Ich wollte mir das hier nur noch mal ankucken. »Kennst du dich mit Computerspielen aus?«
»Geht so«, sagt er. »Mein Neffe hat eine Menge von dem Zeug zu Hause rumstehen. Was willst du denn wissen?«
»Metal Gear Solid«, sage ich, »was ist das?«
Er grinst und zeigt auf Yannicks Spezialklingelschild.
»Der Typ hier«, sagt er, »Snake Plissken, der ist das Vorbild für die Hauptfigur aus Metal Gear Solid. Ich weiß aber nicht genau, worum’s da geht. Die Story ist wahrscheinlich anders als im Film. Hat unser Flüchtling das in seinem Zimmer stehen?«
»Ja«, sage ich, »und er ist da offensichtlich ganz gut dabei. Sagt seine Mutter.«
»Aha«, sagt der Inceman. »Ist jetzt nichts Besonderes. Das Ding ist Kulturgut unter Jungs. Ist auch nicht übermäßig brutal oder so, sonst dürfte mein Neffe so was nicht spielen, das weiß ich. Und der hat das natürlich.«
»Also kein Ego Shooter?«, frage ich.
»Kann man nicht so genau sagen. Das dürfte eher ein Stealth Shooter sein. Da ballert man nicht sinnlos alles weg. Da musst du viel durch die Gegend schleichen, clever sein und im entscheidenden Moment zuschlagen. Ist ein bisschen intelligenter als die ganz üblen Sachen. Aber natürlich senkt es wie alle Kampfspiele irgendwann die Hemmschwelle. Gehen wir was trinken?«
Ich sehe ihn an und ziehe die Augenbrauen zusammen.
Er hebt die Hände und sagt:
»Okay. Warum frage ich dich das überhaupt noch.«
Er dreht sich um und geht langsam Richtung Straße. Ich mache drei große Schritte und bin bei ihm.
»Los, gehen wir was trinken«, sage ich.
Ich sollte das nicht tun.
»Du traust dich?«, fragt er.
»Wenn du dich traust«, sage ich.
»Wo gehen wir hin?«
»Altona«, sage ich. Ich will Klatsche nicht begegnen. Ich fühle mich wie ein Betrüger, und das bin ich ja auch.
»Dann komm mal mit«, sagt er und bietet mir seinen Arm. Ich tue so, als hätte ich’s nicht gesehen.
Wir gehen am Wohlers Park entlang, dem verwunschenen ehemaligen Friedhof. Im Sommer blühen hier die Rhododendren und Rosen. Jetzt liegt der Park unter einer dicken Schneeschicht. In seiner Schönheit, mit seinen zu Alleen gepflanzten Bäumen und im Schein der alten Laternen sieht er aus wie ein Garten im London des 19. Jahrhunderts. Der Schnee auf dem Gehsteig knirscht unter unseren Schritten, und als würde der Himmel darauf bestehen, uns zu verzaubern, fängt es in diesem Moment wieder an zu schneien.
»Warte mal«, sagt der Inceman und hält mich am Arm fest. »Hörst du das?«
Ich bleibe stehen und lausche. Stimmen. Junge Stimmen. Sie werden lauter, streiten sich. Dann wieder leiser. Die Stimmen kommen aus dem Wohlers Park.
Wir sehen uns kurz an, nicken uns zu und überqueren schnell die Straße. Wir laufen wieder ein Stück zurück und nehmen den kleinen, hinter Gestrüpp versteckten Seiteneingang zum Park. Der geschotterte Weg läuft direkt auf die Lichtung in der Mitte des Parks zu, und da sehen wir sie auch schon in der dumpfen Helligkeit, die der Schnee uns zur Verfügung stellt: ein paar Jugendliche. Drei Jungs und zwei Mädchen. Die Mädchen sitzen auf einer großen, gemauerten Grabplatte, die Jungs stehen davor. Jetzt reden gerade alle durcheinander, ich kann nichts verstehen. Aber ich erkenne Larissa. Sie trägt ihren Daunenparka und eine weiße Wollmütze. Sie wirkt immer noch ein bisschen nervös, aber im Kreise ihrer Freunde scheint sich das in Grenzen zu halten.
Ich ziehe den Inceman hinter einen Baum.
»Ich will zuhören«, flüstere ich.
»Dann müssen wir näher ran«, sagt er und deutet auf eine dicke Linde, die rechts von uns liegt, ein gutes Stück weiter vorne.
Keine Ahnung, wie wir da hinkommen sollen, ohne dass die uns sehen. Der Inceman nimmt mich am Ellbogen und zieht mich hinter irgendein struppiges, immergrünes Ding. Der Schnee schluckt unsere Schritte. Dann sind wir hinter dem nächsten Busch. Und dem nächsten. Komme mir vor wie beim Marine-Corps. Wir landen tatsächlich unerkannt hinter unserer Spionagelinde.
Das Mädchen, das neben Larissa sitzt, rutscht von der alten Grabplatte runter und fängt an, von einem Fuß auf den anderen zu treten. Sie hat viel zu wenig an. Einen Kapuzenpulli, darüber nur eine Steppweste mit Teddyfell am Kragen. Brüllend enge Jeans und dünne Turnschuhe. Auch an der Art, wie die junge Frau raucht, sieht man, dass sie friert. Rechts von den beiden Mädchen stehen zwei Jungs, ziemlich breitbeinig. Beide tragen Daunenjacken und Baseballkappen. Der eine hat die Hände tief in seinen Jackentaschen vergraben, der andere hält sich an einer Flasche fest, wahrscheinlich Bier. Ihnen gegenüber steht einer, der einen Tick älter ist, vielleicht zwei Jahre, er wird achtzehn oder neunzehn sein. Er trägt einen dicken, wattierten Kapuzenpulli, seine Haare sind kurz, an den Seiten rasiert. Während er redet, gestikuliert er drohend mit der rechten Hand. In der linken Hand hält er eine Zigarette.
»Das is’ nur korrekt, dass ich jetzt hier sag, was abgeht. Ihr beiden Lauchköppe scheißt euch doch in die Hosen.«
Die Lauchköppe maulen irgendwas, aber ich kann es nicht verstehen.
»Und?«, faucht Larissa ihn an. »Was geht denn ab? Was machen wir? Mann, mein Bruder ist verschwunden!«
Sie holt ihre rechte Hand aus der Jackentasche und fängt an, Fingernägel zu kauen.
»Und meine Schwester, vergiss das nich’, Püppi. Ich will auch, dass die wieder auftaucht. Ich will auch, dass denen nix passiert. Ich kann das regeln. Und deshalb bin ich hier jetzt der Chef.«
»Was kannst du regeln, Alter?«
Einer von den beiden Lauchköppen.
»Ich red mit den Pennern.«
»Was willste mit denen denn reden, Alter?«
Larissas Freundin wird ungeduldig, die friert einfach wie Sau. Dass diese jungen Dinger auch immer nichts anhaben.
»Na, ist doch ganz klar: Die Penner mucken auf. Die ha’m das gecheckt, dass wir das sind. Das is’ ’ne Botschaft, Schätzchen! Ich greif mir einen von den Typen und schaff ihn in’n Bunker. Ich zeig ihm, was da Sache is’. Und denn kriegt er die dicke Panik und fängt an zu sabbeln. Und dann sagt er uns, wo sie Yannick und Angel versteckt haben.«
Ich kucke den Inceman an und bewege lautlos meine Lippen: Bunker. Der Inceman hebt die linke Augenbraue und nickt. Notiert.
»Mir ist kalt«, sagt Larissa.
»Mir auch«, sagt ihre Freundin und zieht an ihrer Zigarette. »Ich frier mir’n zweites Loch in’n Po.«
»Hauen wir ab«, sagt der Lauchkopp ohne Bier.
Der mit Bier nickt.
»Wir sehen uns morgen, ihr Lurche«, sagt der neue Chef. »Und ich klär das mit den Pennern.«
Dazu kommst du nicht mehr, du Oberlurch, denke ich. Der Inceman und ich warten, bis die Jugendlichen abgezogen sind. Larissa und die beiden Daunenjackenjungs verlassen den Park durch den Seitenausgang in Richtung Wohlers Allee, Larissas Freundin und der neue Chef nehmen den Hauptausgang, der direkt nach Sankt Pauli führt.
Als es still geworden ist im Park, hole ich mein Telefon raus, rufe auf der Wache an und frage, wie die da gerade besetzt sind. Und ob sie zwei Beamten entbehren können.
»Reicht zur Not auch einer?«
Der diensthabende Kollege klingt ein bisschen genervt, aber nur ein bisschen. Er möchte, im Gegensatz zu mir, gerne nach Hause gehen.
»Einer reicht auch«, sage ich. Ich hab ja immerhin die Mordkommission dabei. Ich brauche nur noch irgendwen Offizielles, irgendjemanden, der nicht gerade Urlaub hat. »Wir treffen uns in zehn Minuten an der Lerchenstraße«, sage ich.
»In Ordnung«, sagt der Kollege, und da nimmt der Inceman mir das Telefon weg und klappt es zu. Er greift nach meiner Hand und sieht mich an. Zwischen uns rieseln die Schneeflocken zu Boden.
»Hör auf«, sage ich. »Hör auf damit.«
Er lässt meine Hand los. »Gehen wir.«
*
Kriminalmeister Tschauner ist noch ein ganz junger Hüpfer. Das ist wunderbar, denn ihm ist es scheißegal, dass Weihnachten ist. Er ist heiß auf Ermittlungen und froh, rauszukommen. Er wollte unbedingt mit dem dunkelblauen Audi zum alten Hochbunker an der Feldstraße fahren. Ich halte das für ein bisschen übertrieben, ist ja nur zweimal ums Eck. Wir hätten locker zu Fuß gehen können. Aber bitte. Wenn’s ihm Freude macht. Ich kann gerade noch verhindern, dass er das Blaulicht aufs Dach setzt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Jungs nur deshalb zur Kripo gehen, für diese eine Bewegung: Arm aus dem Fenster, Lampe aufs Dach. Und dann ab dafür.
Er fährt mit Vollstoff am Bunker vor, der Audi rutscht ein bisschen auf dem gefrorenen Schnee, fast hätten wir einen parkenden Fiat gerammt.
»Bisschen unauffälliger, wenn’s geht«, sage ich.
»Is’ verdammt glatt hier«, sagt er, »da kann ich nun wirklich nichts für.«
Der Inceman räuspert sich. Was so viel heißt wie: Aufhören.
Wir steigen aus, Kriminalmeister Tschauner schießt aus der Hüfte mit dem elektronischen Autoschlüssel. Die Karre macht klack, und die Türen sind verschlossen, und das scheint ihm eine große Genugtuung zu verschaffen. Jungs und ihre Maschinen.
Der Inceman geht vor. Wir hinterher. Durch eine große Flügeltür aus rotgestrichenem Stahl und Sicherheitsglas. Bunker bleibt Bunker, da kann man einfach nichts dran drehen.
Wir stehen alle relativ ratlos im Erdgeschoss rum. Links ein Aufzug, rechts ein Aufzug, geradeaus ein verhalten glamouröser Gang mit ein paar eher leeren Schaufenstern an den Seiten.
»Rechter Aufzug«, sage ich, »ganz nach oben.«
»Und dann Etage für Etage durchs Treppenhaus runter«, sagt der Tschauner.
Der Inceman drückt den Knopf, die Aufzugtür geht auf. Wir gehen rein, fahren in den obersten Stock. Und sehen es erst, als wir wieder aussteigen. Der Inceman stellt sich in die Aufzugtür, damit sie offen bleibt. Der Tschauner und ich gehen in die Knie und sehen es uns genauer an. Eine winzige, getrocknete Spur auf der Aufzugschwelle. Da vergisst man schon mal zu wischen.
»Was meinen Sie, Tschauner?«
»Könnte durchaus Blut sein«, sagt er.
Ich stelle mich in die Aufzugtür und lasse den Inceman kucken.
»Ja«, sagt der Inceman, »könnte sein.«
Kriminalmeister Tschauner holt eine kleine Plastiktüte und ein Taschenmesser hervor. Er kratzt ein bisschen was von der Spur ab, verfrachtet es vorsichtig in die Tüte, klebt sie zu und lässt sie in der Jackentasche verschwinden. Das Taschenmesser wischt er an seiner Jeans ab. Wir lassen den Aufzug wieder fahren und machen uns durchs Treppenhaus auf den Weg nach unten.
So ein Bunker ist ja nicht gerade mein Lieblingsort. Da ist mir viel zu viel Beton um mich herum. Zu viel Beton, zu wenig Fenster, zu harter Zweck. Bunker werden in Kriegen gebaut, damit den Menschen die Bomben nicht direkt auf den Kopf fallen. Wenn sie Glück haben, kriegen sie einen Platz im Bunker. Wenn sie Pech haben, kriegen sie einen Platz auf dem Friedhof.
Ich kann nicht verstehen, wie die Leute es schaffen, hier drin zu arbeiten oder Konzerte zu geben oder sich Konzerte anzuhören. Mir ist es ein Rätsel, warum jemand überhaupt gerne in einen Bunker geht. Ich kriege in so einem Ding über kurz oder lang einen Zustand. Tod und Krieg im Kopf, und sonst nichts. Knüppeldicke Betonparanoia.
Ich schleiche hinter meinen Kollegen die Treppen runter und hoffe, dass sie nichts davon mitkriegen. Kriegen sie nicht, die sind nämlich auf der Jagd, das ist eindeutig. Ihre Schultern und Hände sind unter Spannung, ihre Augen zusammengekniffen. Wären die beiden Füchse oder Wölfe oder Tiger, sie hätten jetzt alle Nackenhaare aufgestellt.
Sie pirschen über die Treppen.
Auf jedem Stockwerk gehen große, schwere Glastüren zu den Seiten ab, hinter den Türen liegen Agenturen, Ateliers, Computerfirmen, irgendwelche Büros. In der zweiten Etage sagt der Inceman: »Stopp.«
Auf der linken Tür, einer Milchglastür, steht in eleganten, blassgoldenen Buchstaben: VON HEESEN. KOMMUNIKATION. Die Schrift ist sehr fein, man kann sie nur lesen, wenn man sich ein bisschen Mühe gibt. Edel.
Die Tür ist zu.
»Tschauner, haben Sie was zum Aufmachen dabei?«, frage ich.
»Ich hab die Staatsanwältin dabei«, sagt er und zückt seine Dienstwaffe. »Ist nicht Gefahr im Verzug?«
»Sind wir bei den Wilden Kerlen?«, frage ich.
»Wir können auch Herrn und Frau von Heesen anrufen und sie hierherbitten«, sagt der Inceman.
»Wir können uns auch vor Angst einpinkeln«, sagt der Tschauner und überhört einfach, dass der Inceman ihn anknurrt. »Und ich frage mich, ob wir den beiden trauen können. Nach allem, was Sie mir eben im Auto erzählt haben, hat das Söhnchen ja eventuell ordentlich Dreck am Stecken.«
»Okay«, sage ich, »ballern Sie das Schloss auf. Zur Not zahl ich die Reparatur.«
Wäre ich nicht mit dem Inceman hier, gäbe es noch eine dritte Option: Ich könnte Klatsche anrufen, den Mister Superschlüsseldienst. Mein ehemaliger Einbrecherkönig hätte das Türchen hier in zwei Sekunden auf. Aber das geht irgendwie nicht. Und wäre ja auch nicht weniger gegen die Vorschriften, eher mehr.
Der Inceman und ich treten ein Stück nach hinten, dann wummst und klackt und raucht es einmal, und dann ist die Tür auf.
»Gute Arbeit, Herr Kollege.« Der Inceman klopft ihm auf die Schultern.
Wir stehen in einer Art Vorraum, vor einer zweiten Glastür. Kein Milchglas diesmal, dahinter liegt gut sichtbar die Agentur der von Heesens. An den Wänden im Gang hängen Fotografien, die alle das Gleiche zeigen: einen Strand, das Meer, den Himmel. Immer wieder das gleiche Bild. Hier im Vorraum sind einfach nur weiße Wände. Und zwei Türen ohne Klinken. Da ist jeweils nur ein silberner Knauf. Die Glastür zur Agentur ist nicht abgeschlossen, der Tschauner ist schon auf dem Weg in die Büros.
»Hey, Tschauner!«, rufe ich. »Wir brauchen Sie hier noch mal.«
Der Inceman ist in die Hocke gegangen und inspiziert den Türspalt der rechten von den beiden Türen. Ich finde, diesmal ist es viel eindeutiger als auf der Liftschwelle. Kriminalmeister Tschauner macht, dass er herkommt, und ich wundere mich fast ein bisschen, dass er nicht die Knierutsche macht, um schnellstmöglich neben dem Inceman zu landen. Irgendwie niedlich, der Lütte. Er holt ein zweites Tütchen raus und sein Taschenmesser und fängt wieder an zu kratzen. Im Spurensicherstellen kriegt er eine glatte Eins von mir. Im Türenaufschießen auch.
Aber als die Tür offen ist, wünschte ich, wir hätten sie zugelassen.
Der Raum ist dunkel, es riecht nach Blut und nach Schweiß und nach Straße. Es riecht nach Schmerzen, und es riecht nach Gewalt.
»Taschenlampe?«, frage ich.
Kriminalmeister Tschauner greift in die Innentasche seiner Jacke, holt eine LED-Leuchte raus, macht sie an und leuchtet los.
Wir stehen im Türrahmen, und keiner sagt was.
Der Raum ist vielleicht drei mal drei Meter groß. An der Decke hängt ein kräftiger Haken, so ein Ding, an dem man einen Boxsack befestigen kann, einen richtig großen. Der Betonfußboden ist nur noch an einzelnen Stellen grau, auf dem Rest verteilen sich dunkelrote und rotbraune Flecken. In der hinteren Ecke des Raumes liegen ein paar bunte Abschleppseile, auch von ordentlichem Kaliber. Daneben stapeln sich Männerschuhe. Schwere, schmutzige, abgetretene Männerschuhe. Der Haufen sieht aus wie eine Jagdtrophäensammlung.
Keine Ahnung, wie lange wir da stehen, ohne uns zu rühren. Als wären wir an der Türschwelle festgetackert. Der Inceman fängt sich als Erster.
»Tschauner«, sagt er, »rufen Sie die Kollegen für die Spurensicherung, ja? Und dann gehen Sie zurück zur Wache. Oder sonst irgendwohin, wo es hell und warm ist. Wir warten hier, bis alles geregelt ist.«
»Der Bruder von Angel Kober«, sage ich, und ich muss mich zusammenreißen, um sprechen zu können. »Den müssen wir hochnehmen. Kümmern Sie sich darum?«
Kriminalmeister Tschauner nickt. »Mach ich. Und die kleine von Heesen am besten gleich mit, oder?«
»Ja«, sage ich, »vielleicht kriegen Sie’s sogar heute noch hin. Ich würde gerne verhindern, dass hier wieder jemand landet.«
»Und sonst?«, fragt der Tschauner.
»Hochfahren«, sage ich, »Yannick von Heesen und Angel Kober sind in ernster Gefahr. Wenn es so ist, wie die Jugendlichen glauben, dass es ist, wenn sich einer für das hier rächen will, sollten wir die beiden schnell finden.«
»Dachböden, Keller, leerstehende Häuser?«, fragt der Tschauner.
»Alles außer normalen Wohnungen«, sage ich. »Stellen Sie eine Truppe von ordentlicher Größe zusammen. Die sollen Sankt Pauli auf den Kopf stellen. Und hauen Sie eine Fahndungsmeldung an die Presse raus.«
Der Tschauner nickt. Er macht seine Taschenlampe aus, hebt die Hand und zischt ab. Der Inceman und ich sehen uns an.
»Der packt das«, sagt der Inceman, »der arbeitet das weg.«
Wir setzen uns ins Treppenhaus und warten auf die Kollegen mit der Technik.
*
»Die haben die Männer an den Füßen aufgehängt, oder?«
Wie Boxsäcke haben sie die an den Füßen aufgehängt. Der Gedanke drückt mir Tränen in die Augen.
Der Inceman wischt sich mit der linken Hand übers Gesicht. In der rechten Hand hält er einen Gin Tonic. Wir sitzen in einer Eckbar in Altona, und wir haben kein Wort geredet, seit wir die Kollegen im Bunker zurückgelassen haben.
»Sieht fast so aus«, sagt er. »Ich frag mich, wie die das hingekriegt haben, die halben Braten. Von solchen Wichten lässt sich doch keiner einfach an einen Haken hängen, auch wenn er ein armseliger Obdachloser ist.«
Er nimmt einen großen Schluck, ich auch, dann sind die Gläser leer.
Er sagt: »Wir reden morgen weiter.«
Er sieht mich an.
Ich bin ja nicht doof. Ich wusste natürlich, dass das passiert. Mir war klar, dass er irgendwann seinen Magneten anschmeißt.
Und ich lasse ihn machen. Ziehen. An mir, an meinem Herzen, an meinem Leben. Ich halte mich an der Theke fest.
Er schüttelt den Kopf und lächelt.
»Du musst keine Angst vor mir haben«, sagt er, »ich will dir nichts tun, wirklich.«
Dann schiebt er seine Hand in meinen Nacken, zieht mich an sich, zieht mich von meinem nichtsnutzigen Barhocker, an dem ich eben noch so sicher klebte.
Meine Abwehr ist echt einen Scheißdreck wert und zerbröselt in Sekunden.
»Ich tu dir nichts«, sagt er noch mal.
Und tut es doch.
*
Ich schlafe nicht. Ich liege in seinen Armen, den einen hat er um meine Taille gelegt, den anderen um meine Schulter geschlungen. Sein Atem sitzt in meinem Nacken, ruhig und warm.
»Du bist das, was ich will«, hat er gesagt. »Du bist die Frau, nach der ich so lange gesucht habe. Und jetzt lass ich dich nicht mehr weg. Das kannst du vergessen, dass du hier noch mal wegkommst.«
Ich werde hier liegen und warten, bis es hell wird. Dann werde ich gehen.
Ich hab keinen Schimmer, wohin eigentlich.