24. Dezember:
Ich wollte nicht alleine sein
Heiligabend. Gegen Mittag. Gestern Nacht muss eine Axt in meinem Kopf gelandet sein. Oder eine Atombombe. Ich schleiche an der Wand entlang in die Küche und taste meinen Schrank nach Kopfschmerztabletten ab. Finde zwei Ibuprofen und dem Himmel sei Dank auch den Wasserhahn. Dann lege ich mich noch mal hin. Erst mal warten, bis das Gewummer in meinem Gehirn aufhört.
Zwei Minuten später klingelt es.
Noch eine Minute später wünschte ich, ein Flugzeug würde vom Himmel stürzen und mich mitsamt der Türschwelle unter meinen Füßen einfach wegrasieren.
Meine Mutter ist da.
Ich war zwei Jahre alt, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern, und trotzdem dauert es nur ein paar Sekunden, bis ich begreife, wer da mit Rollköfferchen im Türrahmen steht. Sie ist zwei Köpfe kleiner als ich, aber sie hat meine Haare, sie hat es sogar geschafft, exakt unseren Farbton zu halten beziehungsweise ihn beim Färben zu treffen. Ein kastaniges Brünett. Und sie hat meinen Mund mit den großen Lippen, nur mit Lippenstift drauf. Mehr Gemeinsamkeiten haben wir auf den ersten Blick nicht, das erleichtert mich. Ich bin froh, in Statur und Blick mein Vater zu sein.
»Freust du dich?«, fragt sie und lächelt ein Lächeln, mit dem sie eine Konservendose öffnen könnte.
Ich weiß nicht, ob ich mich freue. Ich glaube nicht.
»Äh«, sage ich.
Sie hat nicht mal Blumen dabei. Nicht, dass ich der Typ wäre, der Blumen braucht. Aber das kann sie ja nicht wissen. Und man bringt doch Blumen mit, wenn man unangemeldet jemanden besucht, oder nicht? Das weiß ja sogar ich.
Mein Kopf wird von einer Welle aus Schmerz gewaschen, ich muss mich für einen Moment an der Wand festhalten. Dummerweise weiche ich dabei zur Seite und räume meinen Platz im Türrahmen. Sie interpretiert das als Aufforderung hereinzukommen. Ich kann nichts dagegen tun. Ein Problem daran, dass einem die Mutter vor Jahrzehnten davongelaufen ist: Man hat keine Ahnung, wie man eigentlich mit einer Mutter umgeht.
»Schön«, sagt sie, als sie ihr Köfferchen durch meine Wohnung rollert. »Ja, wirklich, beautiful. Ich hab mich immer gefragt, wie du wohl so wohnst.«
»Du hättest mich fragen können«, sage ich.
Sie lächelt wieder ihr Büchsenöffnerlächeln und sagt: »Oh, come on. Ich war in Wisconsin!«
Sie spricht mit zwei Akzenten. Ein bisschen hessisch, ein bisschen mehr amerikanisch. Und es ist offensichtlich, dass sie entsetzt ist darüber, wie ich wohne. Sie steht am Wohnzimmerfenster und schaut auf die Straße runter. Sie gibt sich wirklich Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen, aber es gelingt ihr nicht.
»Warum bist du hier?«, fragt sie und meint damit: Warum wohnst du hier?
»Warum bist du hier?«, frage ich, und ich meine es so, wie ich es sage.
Sie setzt ein dramatisches Gesicht auf, und ihre Haut legt sich in exakt drei Falten. Eine zieht sich von der Nase zum linken Ohr, eine zieht sich von der Nase zum rechten Ohr, und eine liegt genau zwischen den Augen. Da ist aber jede Menge gemacht worden. Früher war sie mal Ruth Hinzmann, eine hübsche, etwas gewöhnliche Sekretärin aus Hanau. Jetzt ist sie eine wächserne Amerikanerin geworden.
»You know, Dexter ist tot«, sagt sie.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
»Mein Mann«, sagt sie, in einem Ton, als müsste jeder wissen, wer Dexter ist.
Meine Mutter war nach der Ehe mit meinem Vater noch zweimal verheiratet. Das letzte Mal mit einem Zahnarzt. Ich weiß das, weil sie mir in den letzten zehn Jahren ab und zu Karten geschickt hat. Auf denen sie exzessiv ihren jeweiligen Familienstand erläuterte. Aber den Namen Dexter hatte ich jetzt nicht parat. Sie lässt ihren Koffer los, geht zu meiner Couch und setzt sich. Genau in die Mitte.
»Ich wollte an Weihnachten nicht alleine sein«, sagt sie. »Und da dachte ich: Wozu hab ich eine Tochter?«
»Du wolltest an Weihnachten nicht alleine sein?«
Mein Kopf ist schlagartig von großer Klarheit erfüllt. Mir tut nichts mehr weh, und ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Adrenalin war schon immer mein Freund.
Sie nickt, und ich glaube, in ihren Augen schwimmen ein paar selbstmitleidige Tränen. Ich gehe zum Fenster, schiebe ihren Koffer beiseite und lehne mich an die Fensterbank. Sankt Pauli im Rücken. Meine Straße, mein Dorf, mein Zuhause. Gutes Gefühl.
»Ich bin seit zwanzig Jahren alleine«, sage ich, »und ich meine damit nicht nur diese verdammten und furchtbaren Weihnachtstage. Ich bin allein, seit Dad sich an seinem Schreibtisch erschossen hat.«
»Dein Vater war nie besonders stark gewesen«, sagt sie.
In mir fängt die Wut an, sich zu entzünden. Ein paar Funken sind schon da. Sie knallen wie kleine Spitzen von innen an meinen Brustkorb.
Ich würde diese Frau wirklich gerne aus meiner Wohnung schmeißen. Ich weiß nur nicht, wie.
»Er war stark wie ein Löwe«, sage ich. »Er hat mich groß gekriegt, in einem für ihn fremden Land.«
»Sorry«, sagt sie, »aber starke Männer stehlen sich nicht aus dem Leben davon. Selbstmord ist eine Versündigung an unserem Lord.«
Herrje. Religiös ist sie auch noch.
»Das war kein Selbstmord«, sage ich. »Das war sein Herz. Es war zerbrochen und hat irgendwann nicht mehr mitgemacht. So war das.«
Meine Wut fährt runter. Hat wahrscheinlich selbst gemerkt, dass sie sinnlos ist. Diese Frau hat keine Ahnung, was sie uns angetan hat, als sie damals gegangen ist.
Sie sagt »mh«, ganz kurz und sehr zickig.
»As you like. Kann ich einen Coffee haben? Der Flug war so furchtbar lang.«
Büchsenöffnerlächeln.
»Wegen mir hättest du nicht fliegen müssen«, sage ich.
Sie kuckt mich beleidigt an.
Dann gehe ich tatsächlich in die Küche und mache Kaffee. Keine Ahnung, warum ich das tue.
Sie ruft mir hinterher, dass wir noch einen Weihnachtsbaum brauchen.
*
Sie liegt in meinem Bett und schläft. In meinem Bett. Hat sich da einfach reingelegt. Ich soll sie in zwei Stunden wecken. Ich soll sie Mum nennen. Ich will nicht mit ihr reden. Sie hat das Gemüt einer rostigen Dampfwalze. Kommt hier rein und fährt mir einfach über die Existenz. Ich fühle mich geplättet. Und die ganzen alten Risse sind auch wieder aufgegangen.
Ich sitze am Fenster und rauche und versuche, irgendwie hier rauszukommen. Ich weiß, ich müsste nur aufstehen, meine Stiefel anziehen, meinen Mantel nehmen und gehen. Aber ich klebe an der Fensterbank fest, an der sie vorhin gestanden hat.
Ich wollte ja eigentlich das Fenster im Haus gegenüber zumachen. Hab ich vergessen. Jetzt schwingt es im Wind auf und zu. Sieht aus, als würde da drüben ein Gespenst wohnen.
*
Ich habe sie nicht geweckt. Ich habe meinen persönlichen Alptraum schlafen lassen. Und tatsächlich ist mir die Flucht aus meiner Wohnung doch noch gelungen. Ich laufe die Hein-Hoyer-Straße entlang. Ich bin wie in Watte gepackt und nehme kaum etwas wahr. Gibt aber auch nicht viel zu sehen. Heiligabend auf Sankt Pauli, das ist wie Hannover: absolut uninteressant. Nichts los. Sankt Pauli lebt davon, dass Menschen auf den Straßen sind. Jetzt sind alle zu Hause. Wer eine Familie hat, hockt unterm Baum. Wer keine Familie hat, versteckt sich traurig vorm Fernseher. Und geht auf keinen Fall raus. Das würde nämlich nur noch trauriger machen, weil ja draußen auch keiner ist.
Ich habe auf meinem Weg bisher keinen einzigen Menschen getroffen. Aber jetzt sehe ich einen. Trägt unterm weißen Kittel einen dicken Anorak und unterm weißen Käppi eine Wollmütze. Steht da vorne am Wurstgrill und brät Würstchen. Keine Ahnung, für wen er die brät, ist ja niemand da, der ihm was abkaufen könnte. Zumindest bewegt er sich und holt mich aus meinem Wattepaket. Er winkt mir zu, als ich an der Ampel stehe. Ich winke zurück, wir lächeln uns an, und dann sehe ich, wie schön diese Kreuzung gerade ist. Wie gut der Reeperbahn die Stille tut. Und der Schnee. Es hat in den letzten zwei Tagen ja immer mal wieder gut geschneit, und es ist kalt genug geworden, damit die Flocken liegen bleiben können. Die weißen Dächer, die dicken Hauben auf den Laternen und die zuckergussigen Ränder auf den Gehsteigen lassen die Leuchtreklamen der Kiezläden weicher erscheinen. Verwischter. Verhuschter. Und gleichzeitig bunter. Wie ein Lebkuchenhaus, das ein bisschen den Verstand verloren hat.
Ich überquere die Reeperbahn, winke dem Würstchenmann noch mal zu, an der Davidwache löst sich eine kleine Lawine von der blauen Leuchtschrift und fällt mir direkt vor die Füße. Die wabernde Stille trägt das Nebelhorn eines großen Schiffes vom Hafen herüber. Ich atme tief ein und wieder aus, ich halte den ozeanischen Anteil der Luft in meinen Lungen fest, ich gehe die Davidstraße hoch, und als ich in die Friedrichstraße einbiege, habe ich meine Mutter vergessen.
Klatsche hat uns alle in die Blaue Nacht bestellt. »Weihnachten wegdrücken«, hat er gesagt. »Wozu haben wir denn eine eigene Kneipe?«
Ich mache die Tür zu Klatsches Bar auf, und da empfängt mich all das, was ich an dem Jungen so mag: Wärme, heitere Unvollkommenheit und ein Leuchten. Er hat heute Abend alle elektrischen Lichter ausgelassen, nur die rote »Blaue Nacht«-Neonschrift über der Theke ist an. Aus der Jukebox plätschern Melodien von Ennio Morricone. Auf den Tischen und in den Fenstern stehen weiße Kerzen, dünne, dicke, kleine, große. Es gibt kein Weihnachtsdings, keine Dekoration, nur dieses spezielle dunkle Licht und Klatsches Gesicht. Seine Augen, die einen liebevollen, immer gnädigen Blick auf die Welt werfen. Seine Wangen, die lebendig glänzen. Sein ganzes Wesen, das so verflixt viel Zuversicht ausstrahlt. Und er hat die alten Heizkörper bis zum Anschlag aufgedreht. Er weiß, dass ich schnell friere.
»Hey«, sagt er und lächelt mich an, als wäre ich das Christkind. »Wie schön, dass du da bist, Baby.«
»Wie schön, dass du da bist«, sage ich. »Und du darfst mich heute ausnahmsweise Baby nennen.«
»Yes!« Er macht die Beckerfaust.
Ich ziehe meinen Mantel aus und schlüpfe zu ihm hinter die Theke. Er legt seinen linken Arm um meine Taille, zieht mich an sich und gibt mir einen langen Kuss, den ich ziemlich gut gebrauchen kann. In der rechten Hand hält er die Zigarette, die er sich gerade angezündet hatte. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und lasse ihn da auch erstmal eine Weile liegen. So was mache ich normalerweise nicht, das ist eigentlich überhaupt nicht mein Stil. Aber ich bin in wehmütiger Stimmung. Als ich die Titelmelodie von »Der Profi« höre, kriecht mir eine winzige Träne ins Auge, die erste Weihnachtsträne der Saison, alle Jahre wieder, und dann geht die Tür auf, und Carla und Rocco sind da. Ich wische mir schnell übers Auge und nehme meinen Kopf von Klatsches Schulter, aber Carla hat es gesehen.
»Hier ist das aber kuschelig«, sagt sie und grinst mich an. Ich tue so, als würde ich ihren Blick nicht bemerken.
»Hab ich extra gemacht«, sagt Klatsche, »nur für euch.«
»Is’ klar«, sagt Carla.
»Mach mal Bier auf«, sagt Rocco.
»Heute gibt’s kein Bier«, sagt Klatsche, »heute gibt’s was Besseres. Setzt euch an den Tisch dahinten und haltet schon mal die Luft an.«
Wir setzen uns an einen Ecktisch mit drei besonders herzhaft runtergebrannten Kerzen. Klatsche holt eine goldene Flasche schottischen Single Malt und vier Gläser aus dem Regal und stellt alles mitten auf den Tisch.
»Schöne Weihnachten, liebe Freunde«, sagt er.
»Ich dachte, wir schenken uns nichts!« Carla kuckt ihn vorwurfsvoll an. »Ich hab jetzt gar nichts dabei, ich …«
»Ihr seid mein Geschenk«, sagt Klatsche, setzt sich hin und schenkt allen ein. »Den Whisky hab ich schon ewig im Schrank, musste nur mal ein Anlass her. Und jetzt bitte ganz in Ruhe genießen, ihr Punks. Das Zeug hier kippt man sich nicht einfach hinter die Binde, okay?«
Und so sitzen wir die nächsten Stunden um einen Tisch, lassen uns das warme, weiche Gold die Kehlen runterlaufen und reden.
Carla erzählt von den Weihnachtsabenden mit ihrer Großmutter in Portugal, in einer Souterrainwohnung in Lissabon. Die Großmutter tischte Stockfisch auf und zum Nachtisch süßen Reis, und wenn Carla und ihre Oma um Mitternacht ins Bett gingen, ließen sie alles auf dem Tisch stehen, damit die Engel was zu essen hatten, wenn sie nachts zu Besuch kamen.
Rocco sagt, Weihnachten hätte ihn nie interessiert, bis zu dem Tag, an dem er eingebuchtet wurde. Das war der erste Advent. Drei Wochen später, nach seinem Prozess, wurde er aus der Untersuchungshaft nach Santa Fu verlegt und teilte sich von da an eine Zelle mit Klatsche. An Heiligabend saßen die beiden im Gemeinschaftsraum zusammen unterm Baum, und weil Klatsche da war, kam das Rocco alles viel weniger trostlos vor.
Klatsche rückt ein Stück näher an seinen Kumpel ran und legt ihm den Arm um die Schultern.
»Jaja, Freunde«, sagt er, »ich bin nämlich gar nicht Klatsche. Ich bin der verrückte Weihnachtsmann.«
Und er holt ganz weit aus, fängt an bei einem Tag im November des Jahres 1998, als er noch ein Teenager war. Als er das Klauen lernte und das Türenknacken. Als er in ein völlig überteuertes Spielzeuggeschäft in Blankenese einbrach und seine gesamte Beute vorm Kinderheim ablegte. In Tüten verpackt, mit kleinen Zetteln dran: Vom Weihnachtsmann.
Er ist so ein Halunke und gleichzeitig so ein guter Junge. Er ist so viel von dem, was Menschen sein können. Er ist ein Sonderfall, und er ist universell. Solange ich Klatsche an meiner Seite habe, kann mir nichts passieren. Obwohl er viel jünger ist als ich, ist er zu meinem Beschützer geworden. Zu meinem Totemtier. Er weiß immer, wie es um mich steht. Er weiß immer, was wichtig ist. Wäre er noch ein paar Jahre jünger, er könnte mein Sohn sein. Und doch brauche ich ihn, wie ich meinen Vater gebraucht habe: als verlässliche Größe in einem eher unzuverlässigen Leben.
Aber irgendwas hält mich immer zurück. Irgendwas hält die Handbremse gezogen. Das weiß er, und ich weiß, dass ihm das manchmal weh tut.
Er ist großzügig genug, mich nicht mit der Nase reinzustoßen.
Ich tu so, als würde ich nicht mitkriegen, dass ich jetzt eigentlich mit Erzählen dran bin. Mir ist nicht nach reden. Worüber sollte ich auch reden? Über die geprügelten Obdachlosen? Über den beknackten Besuch in meiner Wohnung? Ich könnte von den Weihnachtstagen erzählen, die ich mit meinem amerikanischen Vater in europäischen Hotellobbys verbracht habe. Ich kann mir vorstellen, dass die drei hier das gerne hören würden. Aber auch, wenn sie meine Freunde sind, habe ich keine große Lust, vor ihnen zu heulen. Also halte ich lieber die Schnauze und werfe ein bisschen Geld in die Jukebox, damit sie weiß, was sie spielen soll.
»Chris Isaak?«, fragt Carla, als sie meine Musikauswahl registriert, und zwischen ihren Augenbrauen bildet sich eine kleine, dreieckige Falte.
»Ja, klar«, sage ich, »das klingt so schön nach schwülen Sommernächten, oder?«
*
Wir stehen vor unserem Haus und schauen nach oben. In Klatsches Wohnung ist alles dunkel. In der Wohnung nebenan, meiner Wohnung, brennt Licht. Es ist zwei Uhr nachts. Klatsche kuckt mich an, dann kuckt er wieder zu meiner Wohnung hoch und kneift die Augen zusammen.
»Haste Licht angelassen? Oder räumt dir grade einer die Bude aus?«
»Nein«, sage ich. »Meine Mutter ist da.«
Und offensichtlich ist sie aufgewacht.
Er nimmt mich in den Arm.
»Um Himmels willen, wie konnte das denn passieren?«
»Ich hab keine Ahnung«, sage ich.
»Komm«, sagt er und nimmt mich an der Hand, »wir mauern deine Tür zu. Und du wohnst ab jetzt bei mir.«