FALLSCHIRMSPRINGER

LUZERN

Er hatte seinen Wagen im Schatten eines Baumes auf dem Parkplatz des Pflegeheimes abgestellt, doch in der Zwischenzeit war die Sonne weitergewandert, und er stand in der prallen Hitze. Das Autodach blendete ihn wie eine Glasscherbe, er öffnete die Fahrertür, ohne einzusteigen, weil er die gestaute Hitze entweichen lassen wollte. Der Asphalt fühlte sich weich und klebrig an, und er vermied es, die Karosserie zu berühren. Sein Vater hatte sich geweigert, ihm zum Abschied die Hand zu reichen, er hatte sich demonstrativ, und ohne ein Wort zu sagen, von ihm abgewendet. Im Lift war ein Paar etwa in seinem Alter mit ihm nach unten gefahren; der Mann hatte Tränen in den Augen gehabt, die Frau hatte die linke Hand zur Faust geballt, die sie schloss und öffnete, ohne ihren Mann zu beachten.

Gregor stand auf dem Parkplatz, schwitzte und hatte keine Ahnung, wie er den Rest des Tages hinter sich bringen sollte. Genau darum war er zum Trinker geworden. Schon die gewöhnlichen Tage waren zu lang für ihn, sie boten viel zu viele Möglichkeiten, das Falsche zu denken und sich in düsteren Grübeleien zu verstricken, zu verlieren. An den Jahrestagen des Verschwindens seiner Schwester war es für ihn natürlich noch schwieriger, heil durch die Stunden zu kommen. Im Erdgeschoss des Pflegeheimes wurde ein Fenster aufgestoßen, und er hörte Stimmen alter Menschen. Sie sangen im Chor ein Lied, das er als Kind in der Schule gelernt und an das er all die Jahre nie mehr gedacht hatte. Trotzdem erinnerte er sich an die Verse, die sie damals gesungen hatten. Es Burebüebli mahn-i nid, das gseht mer mir doch a, Juhe. Es muess eine si gar hübsch und fin, darf keini Fehler ha, Juhe! Die Stimme einer Frau stach aus dem Chor, sie klang, als sei sie von sich selbst begeistert. Er dachte an Charlotte, erst an ihre Arschbacken, die er so gern geknetet hatte, dann an den hasserfüllten Blick, den sie ihm auf der Uferstraße zugeworfen hatte. Er war im Begriff, in den Wagen einzusteigen, als sein Handy klingelte. Er ging mit schnellen Schritten an den Rand des Parkplatzes hinüber, um im Schatten abzuheben, den die Hecke warf. Wie jedes Mal war er erstaunt, wie erwachsen und reif die Stimme seiner Tochter am Telefon klang. Sie mochte es nicht, wenn er sich zu sehr um sie sorgte, das wusste er, trotzdem bat er sie gleich nach der Begrüßung, sie solle unbedingt auf sich aufpassen.

»Ich bin kein Kind mehr, Greggi!«

Hatte seine Tochter dem neuen Freund seiner Exfrau ebenfalls einen Kosenamen gegeben? Im Hintergrund lachte jemand, er hörte das Rauschen des Meeres. Ronja ließ ihn gar nicht zu Wort kommen und erzählte von einer Bar direkt am Strand, in der sie letzten Abend die allerbeste Pizza Margherita gegessen und den ersten Schluck Prosecco ihres Lebens getrunken hatte. Würde er Ronja je erzählen, was seiner Schwester zugestoßen war? Während er zuhörte, ohne sie zu unterbrechen, fiel ihm auf, dass die Luft über dem Parkplatz flirrte. Plötzlich sah er sich bäuchlings im Wald liegen, zitternd vor Angst, vor zweiundzwanzig Jahren, in dem Augenblick, in dem er zum Feigling geworden war, zum Verräter.

»Hab dich lieb, Greggi, ciao, bis in drei Tagen.«

Sie unterbrach die Verbindung, bevor er sich verabschieden konnte. Er stopfte das warme Handy in die Tasche seiner Jeans. Die Hand, mit der er es gehalten hatte, war feucht vor Schweiß und kribbelte. Er ging zu seinem Auto hinüber, er fühlte sich unwohl und leicht, als falle er durch seinen eigenen Körper hindurch, von oben nach unten, wie ein Fallschirmspringer, der nicht durch den Raum fiel, sondern durch die Zeit. Ohne nachzudenken, legte er die rechte Hand aufs Dach des Autos und zog sie sofort zurück, so heiß war das Blech. Ich muss unbedingt in Bewegung bleiben, gerade heute, an diesem schlimmsten Tag des Jahres! Der Aschegeschmack, den er im Mund spürte, erstaunte ihn nicht wirklich. Er beugte sich in sein Auto, sah den weißen Briefumschlag auf dem Beifahrersitz lehnen und verlor den Boden unter den Füßen.

Als er wieder bei Sinnen war, kauerte er vor dem linken Vorderreifen. Ihm war übel. In der Hitze war der Gummigeruch betörend stark; der Raddeckel war voller Kratzer und Schrammen, was ihm bisher entgangen war. Er versuchte tief und ruhig zu atmen. Wie oft hatte ihm seine Schwester vorgeworfen, er atme falsch, viel zu schnell und viel zu oberflächlich. »Statt zu atmen wie ein Mensch, hechelst du wie ein Hund!«, hatte sie behauptet. Silvio, ein Leiter der Treffen der Anonymen Alkoholiker, der Leiter mit Brille, schmierigem Blick und schlaffem Händedruck, der ihm zutiefst unsympathisch war, hatte auch immer wieder vom Atmen geredet. »Ihr müsst die eigene Mitte finden! Die Stille, die zu euch gehört.«

Esoterisches Gewäsch! Genau darum hab ich aufgehört, an den Treffen teilzunehmen. Die Stille, die zu euch gehört! Die eigene Mitte! Silvio schien dauernd am Rand eines Weinkrampfes zu stehen, es war einfach, ihn zu rühren und zu manipulieren, er war taub für die Wahrheit, offen für Lügen und jede noch so durchsichtige Schmeichelei.

Das Gefühl des Verlustes war stärker als alles andere, Gregor konnte unmöglich tief und ruhig atmen, sosehr er es wollte, nicht heute, nicht an einem 17. Juli! Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist! Er stand auf, beugte sich ins Auto, nahm den Umschlag in die Hand und riss ihn sofort auf.

22 Jahre ist es nun schon her,

und noch immer spielt sie mit uns, Deine Schwester.

Reif ist sie geworden und erfahren.

Sie wartet dort auf Dich, wo Du sie verraten hast.

Holst Du sie um 18 Uhr ab?

Das Papier war wie beim letzten Brief vor achtzehn Jahren hauchzart, weiß und unliniert. Die Schrift war natürlich die gleiche. Der Biber hatte mit schwarzer Tinte geschrieben. Gregörchen! Wieviel Eleganz und Schwung die Buchstaben des alten Mannes noch immer hatten! Das Papier roch ganz leicht nach Veilchen, Gregor musste den Atem anhalten, um sich nicht zu übergeben. Der Umschlag hatte einen Knick am Rand, als sei er in eine zu kleine Tasche gezwängt worden. Gregor spürte Hass in sich aufsteigen. Er schleuderte Brief und Umschlag in den Wagen und hämmerte mit der rechten Faust auf das Blechdach ein, bis er vor Schmerz aufjaulte. Als er aufblickte, stand ein Mann vor der Hecke. Hatte er ihm zugesehen? Gregor winkte dem Mann zu, um ihn zu beruhigen, der trotz der Hitze Gummistiefel und Gartenhandschuhe trug. Als der Mann die Gartenschere hob und ihm ebenfalls zuwinkte, stieg er ein und fuhr los.

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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