Schongau, 17. Juli 1993

Der Junge hat gelernt, den Mädchen an der Schule aus dem Weg zu gehen. Er fürchtet sich vor ihnen, ohne sagen zu können, wovor. Er vermutet, dass die Angst mit seiner Schwester zu tun hat, aber er verdrängt die Vermutung, weil er Kathrin nicht beschuldigen will. Wenn einer Schuld trägt, dann er. Er hat sie verraten, er hat sie im Wald zurückgelassen. Wie er mit dieser Schuld zurechtkommen soll, kann ihm keiner erklären, darum hat er aufgehört, auf Ratschläge zu hören. Er genießt die besorgten, ratlosen Blicke der Lehrer, er freut sich, dass es ihm gelingt, den Schulpsychologen, den er eine Weile lang aufsuchen muss, zu täuschen. Er erzählt dem älteren Mann mit sanfter Stimme und Seehundblick nur, was zum Bild passt, das der Mann von ihm hat. Wieso soll er sich einem Fremden offenbaren? Er spielt die Rolle des traumatisierten Jungen an der Schwelle zur Pubertät so perfekt, dass es peinlich ist. Ist der Mann blind und blöd? Nach einer Weile legt sich der Junge sogar einen Tick zu, wenn er mit dem Psychologen redet; er zuckt mit dem linken Auge und wirft dabei leicht den Kopf zurück. Wie soll er jemanden achten, der sein Schmierentheater nicht durchschaut? Reicht es nicht sowieso, wenn er selbst weiß, wer er wirklich ist? Er lügt. Er flucht. Er stiehlt. Die Kaugummis und Schokoriegel, die er in einem Kiosk auf dem Weg zur Schule mitgehen lässt, hortet er im Geheimfach, das er sich in einem ausrangierten Schrank in ihrem Kellerabteil eingerichtet hat. Die Lebensmittel, die er im Laden des Italieners Ecke Libellen- und Maihofstrasse klaut, stopft er in Abfallcontainer, wirft sie in Gärten und Dohlenschächte oder stellt sie in ihrer Küche zu den Vorräten. Wieso fällt den Eltern nicht auf, dass die Schränke voller und voller werden, obwohl die Mutter aufgehört hat, einzukaufen und der Vater nur das Nötigste nach Hause bringt? Es erstaunt ihn, wie leicht es ist, in anderen Schuldgefühle zu wecken. Er schlägt den Blick nieder, fängt an zu stottern, schluckt leer, kämpft mit Tränen, schon hat der andere Schuldgefühle und schämt sich, das Opfer, den Bruder des verschwundenen Mädchens, in Bedrängnis oder Verlegenheit gebracht zu haben. Die Entschuldigungen und Ausflüchte, die er zu hören bekommt, belustigen ihn, er nimmt sie mit verschlossener Miene entgegen wie der König die Gaben seiner Untertanen. Wie soll er die Menschen nicht verachten?

Es ist leicht, dem eigenen Spiegelbild zu entgehen. Den Blicken der anderen zu entkommen ist schwieriger, er will nicht als seltsam gelten, will nicht auffallen. Und trotzdem hat er nur einen Freund, Rico, alle anderen haben sich von ihm abgewendet. Sie reden zwar mit ihm, aber sie schrecken zurück vor dem, was er erlebt hat und was er durchmacht. Seine Trauer macht ihnen Angst. Rico ist anders. Er hält sein Schweigen aus, reagiert mit einem Schulterzucken darauf, dass er oft ins Leere starrt. Ein einziges Mal hat Rico ihn nach seiner Schwester gefragt: »Glaubst du, sie ist noch am Leben?« Der Blick, den er Rico zugeworfen hat, war Antwort genug. Seither ist seine Schwester kein Thema mehr zwischen ihnen. Sie reden ohnehin nicht viel. Das haben Freunde nicht nötig, sagt er sich. Ein Gedanke, der ihm Kraft gibt. Warum? Mit Kathrin hat er doch unablässig geredet, nachts, wenn sie in ihren Betten lagen und Mitschüler oder Lehrer durchhechelten, auf dem Schulweg, wenn sie über die Eltern lästerten, beim Frühstück, im Wald am Rotsee. Seit seine Schwester verschwunden ist, findet er viele Wörter seltsam. Sie passen nicht zu dem, was sie beschreiben sollen, sie klingen falsch und leer, bedeuten nichts und werden lächerlich, sobald man sie wiederholt.

Zu Beginn des Sommers hat er angefangen, nach Schulschluss den versumpften Morastgürtel im Wald am Seeufer zu durchstreifen; es ist einfacher, Schnecken, Frösche, Kröten, Libellen und Blindschleichen zu fangen, als er befürchtet hat; er sperrt die Tiere in Schuhkartons, in die er Luftlöcher gebohrt hat. Als ihm die Kartons ausgehen, will er den ersten Frosch, den er gefangen hat, töten, um Platz zu schaffen, aber er bringt es nicht übers Herz und lässt ihn frei. Was für ein Klischee, denkt er, während er dem freigelassenen Frosch nachsieht, der Junge, der nicht über die Entführung seiner Schwester wegkommt, quält Tiere zu Tode, kaltblütig, ohne Reue. Lächerlich! Darum lässt er ein Tier frei, wenn er eines fängt. Er mag Tiere lieber als Menschen. Soll er deswegen Menschen zu Tode quälen? Würde er den Biber und die Frau mit Feuer im Gesicht töten? Vor Ringelnattern schreckt er noch zurück; er gibt sich Zeit bis Ende Sommer, dann will er Angst und Ekel vor ihnen überwunden haben. Bald ist er sich nicht mehr sicher, ob er die Tiere lieber einfängt oder freilässt. Manchmal erlaubt er Rico, ihn zu begleiten, wenn er ein Tier freilässt. Er lässt Rico den Karton tragen, in diesen Momenten sind sie sich am nächsten. Sie gehen tief in den Wald hinein, niemand darf zusehen, wenn sie den Deckel abheben, sich hinknien und einen Frosch oder eine Libelle in die Freiheit entlassen. In die Nähe der Hütte wagt er sich nicht, auch nicht in Ricos Begleitung, er will die Hütte nie mehr sehen, es gibt sie gar nicht. Wer davonkommen will, muss gewisse Dinge verleugnen, um stark zu werden, das hat der Junge begriffen. Er arbeitet an seiner Stärke.

Natürlich wartet er auf den nächsten Brief.

Er wartet jeden Tag, jede Nacht. Erst ungeduldig, später geduldig, weil er weiß, es wird einen weiteren Brief geben! Von seiner Fahrt nach Willisau hat er keinem erzählt, nicht einmal Rico. Auch von den Briefen weiß niemand.

Nach 720 Tagen ist es so weit.

Der Umschlag liegt in der Sporttasche, die er ausschließlich für das Training und die Wettkämpfe im Schwimmclub braucht. Wie haben sie sich Zutritt in die Garderobe verschafft, die während der Trainings vom Coach abgeschlossen wird? Er findet den Umschlag nach dem Duschen in der Tasche, er ist blau und federleicht. Eigentlich mag der Junge blau. Diesmal ist die Tinte schwarz, die Schrift ist dieselbe. Gregörchen. Er nimmt den Umschlag nicht aus der Sporttasche, er berührt ihn noch nicht einmal. Es gibt nur einen Ort, an dem er ihn öffnen und lesen darf, in seinem Versteck zwischen den Holzschuppen an der Pelikanstrasse 11.

Er beeilt sich nicht, er hat Zeit. Woher weiß er das? Er spürt sein Herz schlagen. Vögel pfeifen, es ist heiß. Vor einer Garage poliert ein Mann sein glänzendes Auto mit einem braunen Wildledertuch. Der Junge kennt das Tuch, sein Vater besitzt auch eines, es ist ihm heilig, wie er gerne betont. Auf einem Balkon steht eine Frau und raucht. Die Frau ist dick. Auf dem Rücksitz eines VW Golf, an dem er vorbeigeht, sitzt ein Plüschbär, dem ein Ohr fehlt. Die Katze liegt zwischen den Schuppen und putzt sich, sie hat auf ihn gewartet. Er setzt sich neben sie, und sie schmiegt sich an ihn, obwohl er sie nicht streichelt. Als er den Umschlag aufreißt, schnurrt sie und wirft sich auf den Rücken. Jetzt findet er die Schrift affig, wie hat sie ihm je gefallen können, es ist die Schrift eines Angebers. Der Biber hat den Brief geschrieben, ganz bestimmt, der Biber ist, welch beruhigende Feststellung, ein Angeber, das wird ihm nicht helfen, es wird ihm schaden!

Zwei Jährchen erst ist es her,

schon macht sie uns wütend, Deine Schwester.

Wild ist sie geworden, frech.

Sie wartet am 17. Juli in der Wallfahrtskirche St. Maria und Ulrich

in Oberschongau.

Holst Du sie um 16 Uhr ab?

Er braucht lange, bis er Schongau auf der Schulkarte der Schweiz gefunden hat. Das Dorf liegt über dem Hallwilersee auf einer Geländeterrasse des Lindenberges. Die Anreise mit Zug und Postauto ist umständlich, und er beschließt, sich das Mofa seines Großvaters auszuleihen. Er weiß, dass der Schlüssel für das Lenkradschloss in der Werkstatt neben dem Haus der Großeltern an einem Balken hängt. Er ist schon mehrmals mit dem Mofa gefahren, ohne dass der Großvater davon weiß. Donnerstagnachmittag sitzt der Großvater im Sternen und spielt mit alten Freunden der Männerriege Karten. Der Junge steckt Geld ein, er muss den Tank auffüllen, bevor er das Mofa zurückstellt.

Die Fahrt dauert länger, als er berechnet hat. Einige der Lastwagen, die ihn auf den Landstraßen überholen, streifen ihn beinahe. Bald hat er Rückenschmerzen, der Sattel ist breit und weich, aber trotzdem unbequem. Er hat sich die Strecke eingeprägt und muss nur einmal anhalten, um auf der Karte nachzuschauen, ob es richtig ist, in Aesch auf die Straße abzubiegen, die sich den Lindenberg hinaufzieht. Es riecht nach Heu, das Mofa müht sich bergauf, die Sonne brennt in seinen Nacken. Ein Bauer, der ihn auf seinem Traktor überholt, trägt nichts als Gummistiefel und eine kurze Hose. Vor einem Hof verbellt ihn ein angeleinter Hund, eine alte Frau mit Strohhut sitzt im Schatten des tiefgezogenen Daches.

In der Gartenwirtschaft des Gasthauses St. Ulrich, das sich gegenüber der Kapelle befindet, sitzen Männer beim Bier, die ihn stumm und misstrauisch beäugen, als er das Mofa auf dem Parkplatz abstellt und die breite Treppe zur Wallfahrtskirche hinaufgeht. Er ist zu spät, aber er will sich nicht eingestehen, dass ihm das Sorgen bereitet. Die Zwiebelhaube des Kirchturmes ist rot gestrichen, der Vorbau ruht auf vier Säulen. Er zögert, weiß nicht, ob es richtig ist, die Tür zu öffnen. Tut er das Richtige? Sein Kopf ist leer, ihm ist schwindlig, das wird an der Hitze liegen. Seit seine Schwester verschwunden ist, hält er oft die Luft an, überzeugt davon, dass ihm das hilft, besser durch die Tage ohne sie zu kommen. Er betritt das rechteckige Schiff, zählt drei Stufen, die auf den Chor führen. Plötzlich ist er müde. Warum haben sie ihn hierher bestellt? Außer ihm ist kein Mensch in der Kapelle. Halten sie ihn schon wieder zum Narren? Er geht langsam durch den Mittelgang, vorsichtig vorbei an den zehn Bankreihen, auf denen hellblaue Gebetsbücher aufeinandergestapelt sind. Denkt seine Schwester so oft an ihn, wie er an sie denkt? Ist sie enttäuscht von ihm? Wird er jemals erfahren, was ihr widerfahren ist? Das Gemälde des linken Nebenaltares verlangt seine Aufmerksamkeit, er geht darauf zu, als sei er deswegen hier. Die Frau auf dem Bild, es muss Maria sein, sagt sich der Junge, trägt ein purpurrotes, bodenlanges Kleid, das ihre Füße verbirgt und ihn an einen Mantel aus Holz erinnert, so steif wirkt es. Aus einem Schlitz auf der Seite des Kleides wächst der nackte Oberkörper eines bärtigen Mannes mit Dornenkrone, Jesus. Die Frau hält ihn in den Armen, als habe er kein Gewicht, er schwebt und wirkt friedlich, trotz der tiefen, klaffenden Schnittwunde unter der Brust und den durchschlagenen Händen. Maria und ihr Sohn werden von Engeln umschwirrt.

Der Junge setzt sich schwer atmend in die erste Bank. Er will sich nicht wehren gegen die Tränen, die über seine Wangen rinnen, ihm ist kalt. Es ist, als habe er jedes Körpergewicht verloren, auch er schwebt, inmitten der Engel, unter die Decke der Kapelle. Will er weiterleben? Atmet er? Das Weinen erleichtert ihn. Warum hat er es nicht schon viel früher zugelassen? Bald fallen ihm die Augen zu, und er nickt ein. Wie kannst du jetzt schlafen, denkt er, schreckt hoch und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Drei der Engel halten gemeinsam ein Tuch, auf dem ein Männerkopf liegt, wie er erst jetzt bemerkt. Warum erschreckt ihn dieses Detail nicht, das er übersehen hat? Er dreht den Kopf, langsam wie Ricos Schildkröte, die sie oft aus ihrem Käfig nehmen und im Garten frei lassen.

Am äußersten Rand der Bank, auf der er sitzt, liegt ein hellblauer Umschlag. Wie hat er ihn bloß übersehen können? Wie heißt die Schildkröte? Sie ist alt, daran erinnert er sich, uralt. Aber wie alt genau? Er wird also schon wieder an der Nase herumgeführt. Gregörchen. Hellblau! Früher hat er sich auch eine Schildkröte gewünscht, obwohl sich seine Schwester darüber lustig machte. Er lässt den Umschlag lange liegen, ohne sich zu rühren. In einem Feld in der Nähe der Kapelle klappert ein Gestänge, wahrscheinlich wird das Gras gewendet. Sonst ist es so still, dass er seinen eigenen Atem hört. Napoleon! Ricos Schildkröte heißt Napoleon, nicht weil sie klein ist, sondern weil sie einen überheblich anstarrt. Schließlich greift er nach dem Umschlag. Angeberschrift! Gregörchen. Er reißt den Umschlag auf, zieht das einzelne Blatt, das in der Mitte gefaltet ist, heraus und streicht es auf der Kirchenbank glatt. Wie dünn das Papier ist. Er denkt an Insektenflügel, an das Haar, das durch die Heiligblut-Kapelle in Willisau schwebte, höher und höher, weg von ihm. Auf dem Blatt steht kein Wort, nichts, leer aber ist es nicht. Eine Fotografie ist schwarz-weiß auf die Seite kopiert worden. Er will seine Schwester nicht so sehen. Sie ist nackt. Sie hat geweint. Ihre Haare sind ganz kurz. Sie sieht älter aus. Er spürt einen Stich in der Brust. Ihre Hände liegen in ihrem Schoß, zusammengebunden mit einem Seil. Ihre Lippen sind geschminkt, ihre Fingernägel bemalt. Oder sagt man lackiert? Hat sie ein blaues Auge oder ist das ein Schatten? Ihre Oberschenkel sind mit Flecken übersät, ihre Arme mit Schnitten und Kratzern. Sie sieht nicht wirklich in die Kamera, aber sie erkennt ihn, das spürt er. Kathrin sieht ihn, ihren Bruder, der sie verraten hat. Er spürt den Geschmack nach Asche im Mund und steht auf, um aus der Kapelle zu gehen, das kopierte Foto in beiden Händen, und plötzlich fühlt es sich an, als falle etwas durch ihn hindurch, als riesle etwas in seinem Innern nach unten. Sand? Nein, Asche! Mein Herz ist verbrannt, denkt der Junge und spürt die Hitze, die sich in ihm ausbreitet, ihm wird flau im Magen, jetzt schwebt er tatsächlich, nicht?, er ist ein Federchen, das im Atemzug des Bibers emporsteigt bis unter die Decke. Seine Knie geben nach, die Beine tragen ihn nicht länger, er geht in die Hocke, langsam, als spiele er es nur, und schlägt endlich hin, ein Bäumchen, das mit einem Axthieb gefällt worden ist, ohne das Blatt Papier aus den Händen zu geben.

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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